Jeanne Mammen

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20 Jahre hat es gedauert, bis Berlin einer der aufregendsten Chronistinnen dieser Stadt eine Hommage ausrichtet. In der Berlinischen Galerie im  Martin-Gropius-Bau wird vom 31. Oktober bis zum 4. Januar die Retrospektive der Malerin Jeanne Mammen zu sehen sein: Beobachterin nicht nur der sogenannten wilden Zwanziger, Zurückgezogene in den braunen Dreißigern und fast Vergessene in der Nachkriegszeit. Eine Wiederauferstehung.

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Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin... Mit pointiertem, flottem Strich hat sie die "Freundinnen" der 20er Jahre auf Papier gebracht. Junge, selbstbewußte Frauen mit Bubikopf und modisch-saloppem Charlestonkleid, elegant herausgeputzt und den Topfhut tief in die Stirn geschoben, oder keck auftrumpfend im Herren-Outfit, den schwarzen Zylinder oder die Ballonmütze verwegen auf den Kopf gesetzt. Sie treffen zusammen zum lockeren Stelldichein im Café Möhring, geben sich mondän bis frivol, die Zigarettenspitze zwischen den gespreizten Fingern, und amüsieren sich ausgelassen auf dem Tanzparkett.
Eine neue Generation von Frauen, die nach dem Höhepunkt der Ersten Frauenbewegung, dem Desaster des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der alten Ordnung die Fesseln der Traditionen und Moralvorstellungen über Bord wirft und ihren Platz im öffentlichen Leben und Treiben einnimmt. Nichts wollen sie mehr verpassen, diese jungen Frauen, nichts sich entgehen lassen! Sie kennen sich aus im Dschungel der Großstadtvergnügungen, sind überall dabei und wissen sich je nach Gusto effektvoll in Szene zu setzen. Das Geld ist zwar knapp, aber für einige Stunden große Dame spielen, nach hartem Arbeitsalltag im Warenhaus oder Büro den Duft von Luxus und Glamour verspüren, "ein Glanz" zu sein, davon träumen sie alle, ganz wie "das kunstseidene Mädchen" in Irmgard Keuns gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1932.
Nicht ohne Ironie fixieren Jeanne Mammens Aquarelle und Zeichnungen diese Selbstinszenierungen. Auch die eigenen. Leichtigkeit und Treffsicherheit haben die Künstlerin berühmt gemacht als Chronistin eines weiblichen Kosmos im Berlin der legendären 20er Jahre. Um so erstaunlicher, daß die in Paris Aufgewachsene die deutsche Hauptstadt in Wahrheit nie gemocht hat. Unwirsch mauert sie noch im Alter: "Mit Berlin habe ich mich niemals versöhnt: Ich finde es heute noch scheußlich. Wenn ich auf den Kudamm gehe, muß ich kotzen. Die ganze Art der Leute ist mir fremd."
Geboren wird Gertrud Johanna Louise Mammen am 21. November 1890 in Berlin als jüngstes von vier Kindern einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie. Als Jeanne, wie sie genannt wird, fünf Jahre alt ist, verkauft ihr Vater seine Berliner Schriftsetzerei, um in Paris eine Glasbläserei zu erwerben. Die Familie übersiedelt nach Paris und zieht in eine komfortable Villa mit idyllisch verwunschenem Garten im Vorort Passy. In großbürgerlichem Ambiente verbringt Jeanne unbeschwerte und wohlbehütete frühe Jahre.
Das liberal gesinnte Elternhaus ermöglicht nicht nur den Söhnen, sondern auch den Töchtern Jeanne und Marie Louise, genannt Mimi, eine Ausbildung entsprechend ihren Neigungen. Jeanne, die schon als Kind alles "beschmiert", was ihr in die Hände kommt und "nie etwas anderes gewollt, gewünscht, gemacht" hat als Malen und Zeichnen. Ihre zwei Jahre ältere Schwester Mimi will das auch. Kunst studieren. Jeanne ist noch keine 16, als die Schwestern ihr Studium gemeinsam an der privaten Pariser Académie Julian beginnen.
Von 1908 bis 1909 gehen sie nach Brüssel an die staatliche Académie Royale des Beaux-Arts, die im Gegensatz zur Kunstakademie in Paris auch Frauen aufnimmt. Über ihr Studium in Brüssel berichtet Mammen später: "Als 18-jähriger Popanz erhielt ich die Medaille für Komposition. Ich habe einen Kuß und außerdem 150 Francs bekommen – zum größten Bedauern meiner Kollegen, da es damals nicht üblich war, daß eine kleine Demoiselle von 18 Jahren eine Lage schmiß." Ein Jahr später gehen die Mammen-Schwestern nach Rom, an die Scuola Libera der Villa Medici.
1911 nach ihrer Rückkehr in Paris organisieren die Schwestern ihre erste eigene Ausstellung im gemeinsamen Atelier. Jeanne beteiligt sich 1912 und 1913 an den berühmten Gruppenausstellungen der 'Indépendants' in Paris und Brüssel. Stilistisch knüpfen ihre frühe Arbeiten in der Zeit an die Einflüsse des franco-belgischen Symbolismus an. Daneben aber entstehen bereits Skizzen mit Großstadtimpressionen, die sich von den Formeln des Akademismus lösen und in ihrer Typisierung und Charakterisierung der dargestellten Personen den Grundstein legen für ihre scharfen Beobachtungen der 20er und 30er Jahre.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendet schlagartig die Pariser Bohème. Die Berliner Familie wird zu "feindlichen Ausländern" erklärt und muß, um der drohenden Internierung zu entgehen, aus Frankreich fliehen. Das gesamte Vermögen Gustav Mammens wird beschlagnahmt.
Es ist ein Schock für die 25-jährige, plötzlich mittellose Jeanne Mammen, als sie 1916 in ihre Geburtsstadt Berlin zurückkehrt. Der knarrende Kommandoton, der wilhelminische Größenwahn und Untertanengeist sind ihr fremd. Doch preußische Disziplin, Hackenschlagen und Strammstehen beherrschen auch das zivile Leben. Jeanne ist schockiert über das Spießertum, die muffige Provinzialität der preußischen Gesellschaft, an die sie sich nie gewöhnen wird.
Ein rauher Wind bläst den jungen Künstlerinnen nun ins Gesicht. Hinzu kommt, daß sie völlig mittellos dastehen. Jeanne versucht, sich mit frisch erworbenen Stenografie- und Schreibmaschinenkenntnissen durchzuschlagen. Sie nimmt alle Arbeiten an, die sie nur irgendwie bekommen kann. Die Zeichnungen, die sie Zeitschriften immer wieder anbietet, werden bis auf wenige Ausnahmen von den Redaktionen abgelehnt. Immerhin gelingt es ihr, 1917 erstmals Illustrationen in einem Novellenband unterzubringen.
Im September 1919 ziehen Jeanne und Mimi in den 4. Stock des Hinterhauses Kurfürstendamm 29 in eine Atelierwohnung, in der Jeanne bis zu ihrem Tode 1975 wohnen bleiben wird. Sie ist heute in fast unverändertem Zustand Museum und Sitz der Jeanne-Mammen-Gesellschaft.
Die 20er Jahre sind ein Jahrzehnt voller Extreme und Umbrüche, im Widerstreit zwischen demokratischem Aufbruch, Moderne und Reaktion. Die Frauen haben – fast 50 Jahre, nachdem die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm es erstmals gefordert hatte – endlich das Wahlrecht errungen. Durch den Einsatz der neuen Büromaschinen entstehen die Großraumbüros mit ihrer monotonen, schlecht bezahlten Frauenarbeit. Die Stenotypistin, das Fräulein vom Amt, die Verkäuferin werden typische Frauenberufe. Es sind vor allem die unverheirateten 18- bis 25-jährigen, die in Scharen in die neu geschaffenen Jobs strömen. Trotz schmaler Geldbörse wollen sie konsumieren, sich amüsieren, den Kopf voller Illusionen und Flausen.
"Auch Greta Garbo ist einmal Verkäuferin gewesen." Unterhaltungs- und Filmindustrie kreieren die Idole und nähren den Traum vom Aufstieg in ein glamouröses Leben. Neben den Girls sind die 'Garconnes' und 'Flapper' 'in', diese knabenhaften Frauen mit Bubikopf. Mit den amerikanischen Krediten kommt der "American way of life" bis zu ihnen. Foxtrott, Shimmy und Charleston prägen den Rhythmus der Zeit und entfachen eine rasende Tanzwut.
Mit ihren furiosen Auftritten revolutioniert die Tänzerin und Kabarettistin Valeska Gert den Ausdruckstanz: Ihren visionären Tanz erfaßt Mammens Ölporträt. In 'Revuegirls', dem bekanntesten von Mammens wenigen Ölgemälden aus den 20er Jahren, porträtiert Mammen sich und ihre Schwester in persiflierender Anspielung auf die seriellen Tanzformationen der Girltruppen in Organzahut und rüschenbesetztem Trikot. Bis in ihre Dreißiger hinein teilt Jeanne Kunst und Leben mit ihrer Schwester. Mimi ist der am häufigsten porträtierte Mensch im Werk Jeanne Mammens.
Ob vor oder hinter den Kulissen, ihre Motive holt Mammen sich in den Glitzerzentren der Tanzpaläste und Faschingsfeste, den Transvestitenlokalen, Frauenbars und Künstlertreffs oder mitten aus dem Alltagsleben. Ihre Streifzüge führen sie vom proletarischen Norden über das dichte Gedränge rund um den Alexanderplatz bis hin zum noblen Westen.
Mitten im bunten, pulsierenden Treiben der Metropole schaut Mammen hin, skizziert und zeichnet, die "Bosheit tief im Paletot verborgen. Da sitzt sie still und warm, bis ich ihr pfeife". Mammens Milieuschilderungen kommen an und werden mit zunehmendem Erfolg in Unterhaltungsmagazinen, Zeitgeistblättern und satirischen Zeitschriften abgedruckt wie 'Die Dame', 'Der Junggeselle', 'Jugend', 'Ulk' oder 'Uhu'. 1927 wird sie Mitarbeiterin beim 'Simplizissimus'. Sie kann jetzt von ihren Illustrationen leben, schickt jede Woche ein Riesenpaket mit Arbeiten nach München. 300 Reichsmark bekommt die Malerin inzwischen für eine veröffentlichte Zeichnung, was in etwa dem Monatsgehalt eines Beamten entspricht.
Mammens Bilder erzählen Geschichten. Geschichten vom starren Blick aufs Geld, von aalglatten Börsianertypen, von Damen mit vor Dünkel und Langeweile stumpfen Gesichtern. Von der Kälte freudloser Beziehungen, in denen Eheleute sich nichts zu sagen haben.
Und vor allem von jungen Frauen, mit all ihren Sehnsüchten und Wünschen, kess, flapsig oder kapriziös, ganz waschechte Berliner Großstadtpflanzen, immer auf dem Quivive. Lässig fläzen sie sich im kniefreien Trägerkleidchen am Tresen einer Bar, bei der Maniküre wird genüßlich der letzte Klatsch und Tratsch ausgetauscht, die betont hochnäsige Miene bei der Anprobe im Hutsalon soll mächtig imponieren. Die Berliner Pflanze wirft sich in Schale, träumt an der Seite eines reichen Gönners vom gesellschaftlichen Aufstieg.
Jeanne Mammens Realismus wird mit der sozialkritischen Kunst eines George Grosz, Otto Dix, Karl Arnold und Rudolf Schlichter verglichen. Doch bei aller Schärfe: Sie verurteilt nicht. Ihre Anteilnahme ist spürbar, leise, melancholische Töne schwingen mit. Der Sinn fürs Atmosphärische, der Fluß der Linien, das alles verbindet sie stärker mit der Pariser Kunst eines Théophile Steinlen oder Henri de Toulouse-Lautrec. Es ist diese Mischung aus Pariser Esprit und Berliner Schnoddrigkeit, die für Mammens Stil typisch wird.
Mit großem Erfolg veranstaltet die Galerie Gurlitt in Berlin 1930 die erste bedeutende Einzelausstellung Jeanne Mammens. Illustrationen erscheinen in der 1931 von Magnus Hirschfeld herausgegebenen zweibändigen 'Sittengeschichte der Nachkriegszeit' und im 'Führer durch das lasterhafte Berlin' des Sozialwissenschaftlers Curt Moreck. Für Morecks Führer zeichnet sie die Szenen aus den Damenclubs. Nicht nur für die Bohème gilt es als schick, in einem der zahlreichen Homosexuellen- und Transvestitenlokalen aufzutauchen, auch viel Prominenz aus Theater, Film und Literatur verkehrt hier. Häufige Gäste im berühmten 'Eldorado' sind Margo Lion und Marlene Dietrich, die beiden Interpretinnen des frechen Revue-Couplets 'Meine beste Freundin', die Gassenhauer-Chansonnière Claire Waldoff oder die skandalumwitterte Nackttänzerin Anita Berber. Mehr als 30 Frauenbars und -Clubs soll es in Berlin geben. Rauschende Feste und gemeinsame Wochenendausflüge werden organisiert. Zeitschriften wie 'Die Freundin' und die 'Garconne' hängen sogar am Kiosk auf dem Ku'Damm.
Ein Höhepunkt von Mammens Arbeiten zum Thema Frauenliebe sind ihre Farblithografien zu Pierre Louys' 'Lieder der Bilitis', die sie im Auftrag ihres Galeristen Gurlitt für eine geplante bibliophile Luxusausgabe gestaltet. Dann kommen die Nazis... Heute existiert nur noch eine einzige Mappe mit sieben Probeabzügen von den 'Liedern der Bilitis', sie ist im Besitz der Jeanne-Mammen-Gesellschaft. In dem Gedichtzyklus des französischen Lyrikers wird die Lebensgeschichte der Kurtisane Bilitis besungen, die im Kreis der griechischen Lyrikerin Sappho zur lesbischen Liebe findet. Mammen transponiert die Geschichte von der Antike ins zeitgenössische Berlin und übersetzt die poetische Sprache in eine filigranhafte Strichführung, untermalt von zarten erdfarbenen Tönen.
Besorgt über die drohende faschistische Gefahr hatte die Künstlerin sich Anfang der 30er Jahre den Kommunisten angeschlossen. 1932 war sie zusammen mit dem Maler Hans Uhlmann nach Moskau gefahren. Dort zeichnet sie für die 'Deutsche Zentralzeitung Moskau' Szenen aus dem Leben hungernder und arbeitsloser Berliner Arbeiterfamilien.
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten werden die meisten Zeitschriften, für die Jeanne Mammen arbeitet, verboten. Denen, die sich gleichschalten lassen, kündigt Mammen ihre Mitarbeit auf. Dem 'Simplizissimus' teilt sie kurz und bündig mit, sie sei "jetzt anderweitig beschäftigt". Erneut hat sie ihre Existenzgrundlage verloren. Jetzt zieht sie mit einem Bücherkarren durch die Nebenstraßen des Ku'Damms und verkauft antiquarische Zeitschriften und Grafiken. Sie igelt sich ein in ein Eremitendasein in ihrer Malhöhle im Hinterhaus.
Bei einer gemeinsamen illegalen Flugblatt-Aktion im Oktober '33 wird Hans Uhlmann verhaftet. Und während die Gestapo noch die 'Hintermänner' der Aktion hetzt, besucht Jeanne ihren Freund im Tegeler Gefängnis, aus dem er erst zwei Jahre später rauskommt. Im Jahr darauf muß sie sich von ihrer Schwester verabschieden. Die hält es in Deutschland nicht mehr aus und nimmt einen Job als Sekretärin im Außenhandel in Teheran an. Jeanne bleibt ohne ihr altes ego zurück. Die Malerin schlägt sich weiter in Berlin durch: Sie dekoriert Schaufenster, bemalt Puppenköpfe für ein Marionettentheater und schnitzt orthopädische Holzschuhe.
Nur die täglichen Besuche eines Aktkurses in der nahegelegenen Hardenbergstraße, ihre "Fingerübungen", wie sie es nennt, durchbrechen die selbstgewählte Isolation. Auf billigem Pack- und Zuschneidepapier entstehen Frauenakte und Porträts von Kursteilnehmern oder Nachbarn, die ihren unversöhnlichen Haß auf das Nazisystem zum Ausdruck bringen. Mit knappem, hartem Strich, oft wie hingefetzt, skizziert sie die Mitläufer eines mörderischen Regimes: bitterböse, versteinerte, habgierige Gesichter.
Als Akt des ästhetischen Widerstands gegen die verordnete Kunstauffassung versteht Mammen ihren schroffen Stilwechsel in der Malerei Mitte der 30er Jahre. Abrupt gibt sie die realistische Sichtweise auf und wendet sich einem an Picasso orientierten Kubismus zu, den sie mit expressionistischen Elementen verbindet: Ausdruck ihrer Solidarisierung mit den als "entartet" Verfemten. 1947, als der Terror vorbei ist, werden diese im Verborgenen gemalten kubo-expressionistischen Werke erstmals von der avantgardistischen Galerie Rosen in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert.
"Meine Bildchen sind noch alle da und vermehren sich, ich war den ganzen Krieg über erstaunlich fleißig, trotzdem alles 'schwarz' geschah und ich lange Zeit nicht wagen durfte, irgendjemand auch nur einen Blick in mein Atelier werfen zu lassen", schreibt Jeanne Mammen an einen in die USA emigrierten Freund, den Biologen und späteren Nobelpreisträger Max Delbrück. Wie durch ein Wunder ist ihre Atelierwohnung vom Bombenhagel verschont geblieben: "Ich habe mich getarnt. Eine Frau als Gebrauchsgrafikerin: die malt Blümchen. Ich habe gepinselt und gepinselt. Ich hatte einen Schutzengel."
In den ersten Nachkriegsjahren experimentiert Mammen mit Abfallprodukten. Draht, die Schnüre der Care-Pakete, Papierfetzen werden in die Bilder mit einbezogen. Sie beginnt, plastisch zu arbeiten. Für die satirische Zeitschrift 'Uhlenspiegel' entwirft sie wieder Titelblätter. 1948 ist Mammen Mitbegründerin der Künstlergruppe 'Zone 5'. In Anspielung auf den Viermächtestatus und Opposition gegen die zunehmende Dogmatisierung des Ost-West-Konflikts erklärt die Gruppe die Kunst zur einzig freien, zur fünften Zone. Und als eine der glücklichsten Jahre bezeichnet Mammen ihre "Badewannenzeit", die Zusammenarbeit mit der literarisch und künstlerisch ambitionierten jungen Truppe des existentialistischen Cabarets 'Die Badewanne'. Sie gestaltet die Bühnenbilder und Kostüme, wirkt auch am Programm mit.
Zu Jeanne Mammens 70. Geburtstag veranstaltet die Akademie der Künste 1960 eine Retrospektive. 1967 wird ihre Übersetzung von Arthur Rimbauds 'Illuminationen' veröffentlicht. Mammens Spätwerk führt von den introvertierten, lyrischen Abstraktionen der 50er Jahre zu den Glanzpapier-Collagen. Auf impressionistisch schimmerndem Farbgrund montiert sie glitzernd bunte Stanniolpapiere und zaubert mit hintersinnigem Humor koboldhafte Wesen wie aus einer Geisterwelt auf die Leinwand. Die Bilder werden heller, Schicht auf Schicht wird aufgetragen und läßt die fantastischen Gestalten hinter pastoser, weißer Farbe ins Rätselhafte, Ungewisse verschwimmen, ihre letzte, die "numinose" Phase.
Ein Jahrzehnt lang wird Mammens Schaffen von der Kunstwelt kaum beachtet. Mit dem Wiedererwachen des Interesses an der Kunst der Weimarer Republik zu Beginn der 70er Jahre erlebt sie jedoch eine Renaissance. Sie wird wieder ausgestellt, insbesondere ihre Illustrationen der 20er Jahre. Jeanne Mammen stirbt am 22. April 1976 in Berlin.
Die ihr noch zu Lebzeiten angetragene Autobiographie lehnte sie ab: "Lieber male ich, solange der Vorrat reicht." Und "eigentlich", so bekannte sie einem Freund, "habe ich mir immer gewünscht: nur ein Paar Augen sein, ungesehen durch die Welt gehen, nur die anderen sehen. Leider wurde man gesehen..."
Nach ihrem Tode gründen langjährige engste Freundinnen und Freunde die Jeanne-Mammen-Gesellschaft mit dem Ziel, ihr Werk und ihr Atelier zu erhalten, Veröffentlichungen und Ausstellungen zu initiieren. In vollgestopften Tüten und Koffern finden sie Hunderte bisher unbekannter Zeichnungen, Bilder und Skizzen: Die Berlinische Galerie im Martin-Gropius-Bau zeigt nun in einer ersten umfassenden Retrospektive alle Aspekte des so breitgefächerten Werkes von 70 Jahren. Zur Ausstellung erscheint im Wienand Verlag ein Werkverzeichnis mit weit über 1.000 Abbildungen.
68 Jahre zuvor hatte Kurt Tucholsky in seiner "Antwort an Jeanne Mammen" in der 'Weltbühne' geschrieben: "Die zarten, durftigen Aquarelle, die Sie in Magazinen und Witzblättern veröffentlichen, überragen das undisziplinierte Geschmier der meisten Ihrer Zunftkollegen derart, daß man Ihnen eine kleine Liebeserklärung schuldig ist. Ihre Figuren fassen sich sauber an, sie sind anmutig und herb dabei, und sie springen mit Haut und Haaren aus dem Papier. In dem Delikatessenladen, den uns Ihre Brotherren wöchentlich oder monatlich aufsperren, sind Sie so ziemlich die einzige Delikatesse."
Christa Wachenfeld, EMMA 6/1997
Mehr Informationen:
Förderverein Jeanne-Mammen-Stiftung e. V.

www.jeanne-mammen.de

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