Julia Franck und das Leben

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Auf der Buchmesse räumte sie den begehrten "Deutschen Buchpreis" (25.000 €) für ihre "Mittagsfrau" ab. Anke Dürr sprach mit der Schriftstellerin.

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Eine Mutter verlässt ihr Kind. Sie setzt den siebenjährigen Jungen auf eine Bank am Bahnhof und sagt ihm, er solle warten, sie gehe die Fahrkarten kaufen. Sie kehrt nie zurück. Wie kommt eine Frau zu so einer Entscheidung?
Das ist die Frage, die Julia Franck seit Jahren beschäftigt. Denn ihr eigener Vater hat genau das erlebt: Seine Mutter setzte ihn am Bahnhof eines kleinen Ortes bei Stettin aus, 1945, auf der Flucht vor den Russen. Eine Hilfsorganisation vermittelte ihn später an entfernte Verwandte, bei denen er aufwuchs. Über seine Mutter hat er bis zu seinem Tod im Jahr 1987 nie gesprochen. Also machte sich die Schriftstellerin selbst auf die Suche nach den Hintergründen. Erst suchte sie nach den biografischen Eckdaten, nach Dokumenten über das Leben ihrer unbekannten Großmutter. Viel gab es nicht. Dann begann sie, sich der Unbekannten literarisch anzunähern, die Leerstellen mit ihrer Phantasie zu füllen.
So ist "Die Mittagsfrau" entstanden, das fünfte Buch von Julia Franck, 37, die schon seit ihrem ersten, 1997 erschienenen Roman zu den wichtigsten deutschen Autorinnen ihrer Generation gehört. "Die Mittagsfrau" ist das Porträt einer eigenwilligen, spröden und klugen Frau namens Helene, geboren am Anfang des vergangenen Jahrhunderts in Bautzen. Helene erlebt dort eine äußerlich gutbürgerliche Kindheit. Mit einigen Besonderheiten: Ihre Mutter ist depressiv, von einer Messie-haften Sammelsucht besessen und – nach vielen vorangegangenen Fehlgeburten – unfähig, Helene zu lieben. Dass sie als Jüdin ohnehin eine Außenseiterin im Ort ist, macht die Sache nicht einfacher.
Als der Vater schwerverletzt aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrt und bald darauf stirbt, übernimmt Helene noch als Teenager die väterliche Druckerei. Das geht nicht lange gut; Helene und ihre neun Jahre ältere Schwester fliehen vor der bedrückenden Atmosphäre zu einer Tante nach Berlin. Dort erleben sie die Roaring Twenties mit allem Drum und Dran: rauschende Partys, Theater- und Nachtclubbesuche. Und Helenes Schwester kann endlich ihre lesbische Liebe leben.
Helene lässt sich zur Krankenschwester ausbilden. Und sie findet ihre große Liebe Carl. Sein Unfalltod ist für Helene ein Schock, der dauerhaft nachwirkt. Sie heiratet dann einen anderen, der sie hartnäckig Alice nennt und ihr auf diesen Namen ausgestellte Papiere besorgt, dank derer sie ihre jüdische Herkunft verheimlichen kann. Der Mann ist ein eifriger Nazi und auch sonst ein ziemlicher Widerling, der Helene ein Hausfrauendasein abseits von Berlin aufzwingt, sie dann aber mit dem gemeinsamen Kind im Stich lässt; es ist das Kind, das sie ein paar Jahre später am Bahnhof sitzen lassen wird.
Julia Francks Kunst ist: Dass sie das Leben und den Charakter ihrer Figur in all ihrer Widersprüchlichkeit schildert. Sie hat die Spur ihrer Großmutter erst gefunden, als diese schon tot war. Die Frau war tatsächlich Krankenschwester, in Bautzen geboren und lebte nach dem Krieg jahrzehntelang mit ihrer neun Jahre älteren Schwester in einer Einzimmerwohnung in der DDR. Die jüdische Herkunft Helenes dagegen hat Julia Franck stibitzt von ihrer anderen Großmutter, mütterlicherseits, die in der DDR eine bekannte Bildhauerin war und heute 92-jährig in Berlin lebt.
Die Szenen, in denen die Autorin Helenes Zustand nach Carls Tod schildert, als sie betäubt durch Berlin taumelt, gehören zu den eindringlichsten im Buch. Sie haben einen autobiografischen Hintergrund, der als Motiv schon in Julia Francks letztem Roman "Lagerfeuer" vorkam: Die Geschichte einer Frau, die – wie Julia Francks Mutter 1978 – mit ihren Kindern aus der DDR ausreist und zunächst in Berlin-Marienfelde landet. Die "Lagerfeuer"-Heldin begründet ihren Wechsel in den Westen damit, dass alles in der DDR sie an den verstorbenen Geliebten erinnere. So bleibt die Frau mit ihrer Trauer ähnlich allein wie Helene in der "Mittagsfrau" mit der ihren. Auch sonst ähneln die beiden Figuren einander: unnahbar, eigenwillig, notgedrungen unabhängig. Sie sind, jede in ihrer Zeit, sehr moderne Frauen.
Schwer zu sagen, wie sehr sie Julia Franck gleichen, der Tochter bzw. Enkelin. Unnahbar wirkt die Autorin jedenfalls nicht, wenn sie geduldig Auskunft gibt zu ihrem Roman. Aber auch Julia Franck ist es gewohnt, auf sich selbst gestellt zu sein. Bis sie 13 war, lebte sie mit ihrer Mutter und ihren vier Schwestern auf einem Bauernhof in Schleswig-Holstein, dann hielt sie das "Chaos", wie sie sagt, nicht mehr aus und zog zu Freunden der Mutter nach Berlin. Der Umzug bedeutete auch die Trennung von ihrer eineiigen Zwillingsschwester Cornelia. In Berlin lernte sie dafür ihren Vater kennen, der die Mutter schon bald nach der Geburt der Zwillinge verlassen hatte. Er starb drei Jahre später, da war Julia Franck 17. Heute lebt sie mit ihrem Sohn und ihrer Tochter im Südwesten der Stadt, alleinerziehend. 2005 nahm sie die beiden, damals vier und knapp zwei Jahre alt, mit nach Rom, wo sie ein Stipendium für die Villa Massimo erhalten hatte.
Versteht Julia Franck ihre Großmutter heute besser? "Nein", sagt die Autorin, "ich weiß ja noch immer nichts über sie. Sie kann ganz andere Motive gehabt haben. Aber die Beunruhigung, die mich immer verfolgt hat wegen dieser Geschichte, ist weniger geworden." Ihr sei nur wichtig, die Frau nicht zu verurteilen: Offenbar habe sie das Gefühl gehabt, das Kind werde es woanders besser haben als bei ihr. Und vielleicht hatte sie damit sogar recht, sagt Julia Franck: "Ich glaube nicht an die Unauflösbarkeit einer leiblichen Verbindung."
© Spiegel, EMMA 6/2007
Julia Franck: Die Mittagsfrau (S. Fischer, 19.90 €)

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