„Dämonisierung ist keine Politik!“

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Wenn über die Ukraine gesprochen wird, dann geht es nur um Konfrontation. Aber wissen wir, wohin das alles führt? Im Laufe meines Lebens habe ich vier Kriege erlebt und alle begannen sie mit großer Begeisterung und öffentlicher Unterstützung. Bei allen wussten wir nicht, wie wir sie beenden sollten, und aus dreien haben wir uns einseitig zurückgezogen.

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Der Test für die Politik ist nicht, wie etwas beginnt, sondern wie es endet. Viel zu oft wird der Fall der Ukraine als Showdown dargestellt: ob die Ukraine dem Westen beitritt oder dem Osten. Wenn aber dieses Land überleben und aufblühen soll, dann kann es niemandes Vorposten sein. Nein, die Ukraine sollte Brücke sein.

Russland muss akzeptieren, dass sein Versuch, die Ukraine zu einem Satellitenstaat zu machen und dabei die Grenzen Russlands wieder zu verschieben, zu großen Friktionen mit Europa und den USA führen würde. Moskau wäre verdammt, seiner Geschichte der sich selbst erfüllenden gegenseitigen Spannungen mit Europa zu erliegen.

Aber der Westen muss begreifen, dass die Ukraine für Russland niemals nur ein beliebig anderes Land, also Ausland, sein kann. Die russische Geschichte begann mit der Kiewer Rus. Von hier aus verbreitete sich die russische Religion.

Die Krim, zu 60 Prozent von Russen bewohnt, wurde erst im Jahr 1954 Teil der Ukraine

Jahrhundertelang war die Ukraine Teil Russlands und ihre Geschichten waren verwoben. Einige der wichtigsten Schlachten um die Freiheit Russlands, angefangen mit der Schlacht von Poltawa im Jahre 1709, wurden auf ukrainischem Boden gefochten.

Die Schwarzmeerflotte, die dem Machterhalt im Mittelmeerraum dient, liegt in Sewastopol auf der Krim. Selbst berühmte Dissidenten wie Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky betonten immer, die Ukraine sei integraler Teil der russischen Geschichte und, ja, auch Russlands.

Für die Europäische Union ist es an der Zeit zu erkennen, dass ihr bürokratisches Zaudern und die Unterordnung aller strategischen Elemente unter innenpolitische Erwägungen dazu geführt hat, dass aus Verhandlungen über die Beziehungen der Ukraine gegenüber der EU eine kapitale Krise geworden ist. Außenpolitik ist nun einmal die Kunst, Prioritäten zu setzen.

Am wichtigsten sind die Ukrainer selbst. Leben sie doch in einem Land mit einer komplexen Geschichte und einer polyglotten Mischung. Der westliche Teil des Landes wurde 1939 der Sowjetunion einverleibt. Stalin und Hitler teilten sich die Beute.

Putin muss begreifen, dass die militärische Option einen neuen Kalten Krieg entfacht

Erst 1954 wurde die Krim, die zu 60 Prozent von Russen bewohnt wird, Teil der Ukraine. Damals schenkte Nikita Chruschtschow sie der Ukraine im Rahmen der 300-Jahr-Feier eines Abkommens zwischen Russen und den Kosaken. Der Westen ist weitgehend katholisch, der Osten russisch-orthodox. Der Westen spricht Ukrainisch, der Osten größtenteils Russisch. Jeder Versuch eines Flügels, den anderen zu dominieren, wie es bisher der Fall war, würde zu Bürgerkrieg und Spaltung führen. Missbraucht man die Ukraine für eine Ost-West-Konfrontation, dann wäre für Jahrzehnte jede Chance vertan, Russland und den Westen (und besonders Russland und Europa) in ein kooperatives internationales System zusammenzubringen.

Nur 23 Jahre ist die Ukraine unabhängig. Vorher war sie mehr oder weniger seit dem 14. Jahrhundert unter fremder Herrschaft. Da erstaunt es nicht, dass ihre Führung die Kunst des Kompromisses nicht beherrscht. Die Politik der unabhängigen Ukraine zeigt ganz deutlich, dass die Wurzel der Probleme darin liegt, dass ihre Politiker den widerspenstigen Teilen der Gesellschaft ihren Willen aufzwingen wollen.

Erst von der einen, dann von der anderen Seite. Das ist der Kern des Konfliktes zwischen Viktor Janukowitsch und seiner Hauptgegnerin, Julia Tymoschenko. Beide verkörpern die jeweiligen Flügel ihres Landes und sind nicht bereit, die Macht zu teilen. Eine kluge US-Politik gegenüber der Ukraine würde helfen wollen, dass beide Hälften miteinander kooperieren. Wir sollten Versöhnung wollen, nicht Dominanz.

Die Dämonisierung Putins ist keine Politik, sondern Alibi für das Fehlen einer solchen

Russland und der Westen haben nicht nach diesem Prinzip gehandelt. Jeder hat die Situation schlimmer gemacht. Eine militärische Lösung würde Russland zu einem Zeitpunkt in die Isolation stürzen, wo viele seiner Grenzen fragil sind. Und an den Westen gerichtet: Die Dämonisierung Putins ist keine Politik, sondern Alibi für das Fehlen einer solchen.

Putin muss endlich begreifen, dass jenseits all seiner Klagen und Beschwerden die militärische Option einen neuen Kalten Krieg entfachen wird. Und Amerika sollte sich hüten, ihn wie einen Irren zu behandeln, dem man geduldig die eigenen Regeln beibringen will.

Putin ist ein ernst zu nehmender Stratege – unter den Prämissen russischer Geschichte. Amerikanische Werte und Psychologie nachzuvollziehen ist nicht gerade seine Stärke.

Genauso wenig wie amerikanische Politiker je viel Verständnis für russische Geschichte und Psychologie hatten. Alle Beteiligten sollten sich auf Ergebnisse konzentrieren, statt einem Wettstreit der Haltungen zu erliegen. Hier meine Vorschläge:

Meine Vorschläge für eine Lösung

1. Die Ukraine sollte das Recht haben, frei ihre ökonomischen und politischen Bündnisse auszuwählen, Europa eingeschlossen.

2. Die Ukraine sollte kein Mitglied der Nato werden, das habe ich schon vor sieben Jahren gesagt, als zuletzt das Thema aufkam.

3. Die Ukraine sollte frei entscheiden können, welche Regierung dem Willen der Menschen entspricht. Weise Politiker würden einen Kurs der Versöhnung zwischen den vielen Teilen ihres Landes fahren. International würde dies einer Stellung ähnlich der Finnlands entsprechen. Das Land lässt keinen Zweifel an seinem Unabhängigkeitswillen und kooperiert mit dem Westen auf den meisten Gebieten, vermeidet aber sensibel jegliche institutionelle Feindseligkeit gegenüber Russland.

4. Es ist unvereinbar mit den Regeln der Weltordnung, dass Russland die Krim annektiert. Es sollte aber möglich sein, die Beziehung der Krim zur Ukraine auf eine weniger täuschende Basis zu stellen. Russland sollte die ukrainische Souveränität über die Krim anerkennen und die Ukraine sollte die Autonomie der Krim durch international bewachte Wahlen stärken. Alle Unklarheiten über den Status der Schwarzmeerflotte in Sewastopol wären so auch beseitigt.

Dies sind Prinzipien, keine Vorschriften. Mit der Region Vertraute werden wissen, dass nicht alles allen Parteien gefällt. Der Testfall ist daher nicht absolute Zufriedenheit, sondern ausbalancierte Unzufriedenheit.

Henry Kissinger, 2014

 

 

 

 

 

 

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