Klitoris-Verstümmlung in Europa

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Mariatou wirkt schmal und zerbrechlich, wie sie da im Zeugenstand vor dem Pariser Schwurgericht steht. 23 ist sie, Tochter von Einwanderern aus Mali, sie studiert Jura und trägt einen schicken hellen Hosenanzug. Klar und gefasst erzählt sie, was ihr mitten in Paris passiert ist, als sie acht Jahre alt war.

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Eines Morgens nahm ihre Mutter sie und drei ihrer Schwestern zur Seite: "Sie sagte, wir würden zum Impfen gehen. Aber sie brachte uns zu einer Beschneiderin."

In deren Wohnung fand sich das Mädchen plötzlich auf dem Boden wieder, im Badezimmer auf einer Plastikplane, eine fremde Frau hielt ihr die Beine, während Hawa Gréou ihr mit einer Art Hühneraugenskalpell die Klitoris herausschnitt. "Nein!" und "Warum?" brüllte das Opfer - die Mutter senkte den Blick und weinte vor Scham über ihre rebellische Tochter.

Noch lange konnte Mariatou vor Schmerzen kaum laufen. Aber ab diesem Tag zählte sie heimlich die Jahre bis zu ihrer Volljährigkeit. Am Tag ihres 18. Geburtstags ging die Verstümmelte zur Polizei, um ihre Mutter und die Beschneiderin anzuzeigen. Das hatte vor ihr noch nie ein Opfer gewagt. Mariatou fand wohl den Mut dazu, weil sie bis zum achten Lebensjahr in einer weißen Familie, weit entfernt von den schwarzen Eltern und deren Kultur, aufwuchs.

Das Verfahren, das im Februar vor dem Pariser Schwurgericht eröffnet wurde, ist der 26. Prozess zu dem Problem in Frankreich innerhalb von 20 Jahren. Seit Mitte der 80er Jahre gilt Klitorisbeschneidung als Verbrechen, für das bis zu 15 Jahre Haft drohen.

Ein erstes Präzedenzurteil wurde gegen eine weiße Französin gefällt, die ihre Tochter beschnitten hatte. Seither brauchen sich die Richter nicht mehr vorwerfen zu lassen, sie würden bei Verfahren gegen schwarzafrikanische Einwanderer mit einer Art "weißen Kolonialherrendenkens gegen afrikanische Bräuche" vorgehen.

Dennoch ließen die Gerichte bisher bei solchen Prozessen eher Gnade vor Recht ergehen, wurden die Angeklagten - häufig die Eltern beschnittener Mädchen - meist zu Bewährungsstrafen verurteilt. Selbst der Vater der kleinen Bobo, die 1982 mit drei Monaten nach ihrer Beschneidung verblutet war, kam ohne Gefängnisstrafe davon.

Dennoch, "etwas war in Bewegung gekommen", sagt Anwältin Linda Weil-Curiel, Aktivistin der CAMS (Gruppe für die Abschaffung der sexuellen Verstümmelung). Sie vertritt seit langem die Nebenklägerinnen in solchen Prozessen. So auch beim Verfahren von Mariatou. Sie sitzt auf der Bank der Zivilkläger, und sie verlangt Gerechtigkeit für sich und ihre Leidensgenossinnen.

Ihr gegenüber, auf der Anklagebank, thronen Hawa Gréou, die Beschneiderin, Mariatous Mutter und weitere 22 Mütter plus drei Väter: Sie alle haben ihre Töchter beschneiden lassen. Zwei Welten prallen aufeinander: Mariatou, die Französin afrikanischer Abstammung, und ihre Leidensgenossinnen kleiden sich westlich, ihr Französisch ist akzentfrei. Die vor 20, 25 Jahren nach Frankreich eingewanderten An- geklagten hüllen sich in boubous, die traditionellen Gewänder, und verständigen sich nur im Stammesdialekt.

Scheinbar unberührt verfolgt die 52jährige Beschneiderin die Verhandlung. Hawa Gréou wird vorgeworfen, zwischen 1983 und 1994 im Großraum Paris 48 Mädchen beschnitten zu haben. Seit Frühjahr 1994 sitzt sie im Gefängnis: Vorbeugehaft für die als Wiederholungstäterin Verdächtige. Maître Jean Chevais verteidigt sie: "Meiner Meinung nach handelten alle Angeklagten aus demselben Motiv: Sie wollten die Traditionen, die Sitten bewahren."

Beim Kampf gegen Klitorisverstümmelung setzt Frankreich nicht allein auf Bestrafung, sondern vor allem auf Aufklärung, Vorbeugung. Für ein so verstümmeltes Mädchen ist es fast ausgeschlossen, eine befriedigende Sexualität zu haben, Geburten sind äußerst schmerzhaft, und die ewig blutenden und eiternden Wunden sind ein Einfallstor für Aids.

Ein Schicksal, das laut Schätzungen weltweit derzeit 130 Millionen Mädchen und Frauen teilen, jährlich kommen zwei Millionen neue Opfer hinzu. In Frankreich schätzen ExpertInnen, dass jährlich 10.000 Mädchen erneut Opfer der barbarischen sexuellen Verstümmelung werden. Die Gesamtzahl der beschnittenen Frauen liegt im Dunkeln.

Seit 15 Jahren leisten die Mitglieder des GAMS Pionierarbeit. Französische und afrikanische Frauen kämpfen Seite an Seite gegen diese "schädliche Tradition", organisieren Gesprächsgruppen mit afrikanischen Einwanderern, Fortbildungskurse für Sozialarbeiter, Ärzte, Polizeibeamte, Kinderrichter. GAMS ist die französische Sektion des "interafrikanischen Kes", das auf dem schwarzen Kontinent Aufklärungskampagnen macht.

Das Netzwerk funktioniert sogar, wenn Mädchen aus Europa zur Beschneidung in die Heimat der Eltern verschleppt werden. Da stehen dann die afrikanischen GAMS-Mitarbeiter am Flughafen und erwarten die Eltern, um sie umzustimmen. In dringenden Fällen kann ein Kinderrichter verfügen, dass das Mädchen das französische Territorium nicht verlassen darf.

Wo - wie beispielsweise seit 1981 in der kinderärztlichen Einrichtung von Meaux bei Paris - tagtäglich Aufklärungsarbeit geleistet wird, sind die Früchte schon sichtbar: seit Jahren wurde kein neuer Fall von Beschneidung bekannt. Dass das französische Engagement ankommt, zeigt sich auch an den Töchtern, die beim Prozess in den Zeugenstand gerufen werden.

Alle klagen an, dass ihre Eltern sie beschneiden ließen. Die meisten "verzeihen" Mutter oder Vater. Doch jede erklärt, ihrer Tochter dieses Schicksal ersparen zu wollen. Keine jedoch wagt es wie Mariatou, als Zivilklägerin aufzutreten. Auch nicht ihre Schwester Maimouna, deren Beschneidung "eine Vergewaltigung war, an der ich ein Leben lang zu tragen habe".

Als auf Antrag der Zivilkläger im Gerichtssaal ein Dokumentarfilm gezeigt wird, der reale Excisionsszenen zeigt, ist das Entsetzen im Saal groß, selbst auf der Anklagebank. Die Schreie der Opfer sind durchdringend. Eine Woche später gesteht ein angeklagter Vater: "Bislang glaubte ich, bei der Excision handele es sich um eine Kleinigkeit. Aber die Schreie - die werde ich mein Leben lang nicht vergessen." Dennoch: Bei ihren letzten Worten bitten die Angeklagten zwar das Gericht um Verzeihung - nicht aber ihre Töchter.

Ein "Prozess der Hoffnung" sei das gewesen, sagt der Staatsanwalt in seinem Plädoyer. Denn ein Facharzt berichtet davon, daß er in Zusammenarbeit mit den "Medecins du Monde" eine Methode entwickeln wolle, verstümmelte Frauen, die beschnitten oder zugenäht wurden, zu operieren, um ihr körperliches Leid und ihre sexuelle Verstümmelung zu mildern. Neu ist auch, dass die Opfer im Prozess Schmerzensgeld bekommen: umgerechnet 24.000 Mark pro Person, auch für Mariatou.

Zwei Urteile fallen härter als erwartet aus: Zwar bleibt es für die Mehrheit der angeklagten Eltern bei der vom Staatsanwalt verlangten Strafe von fünf Jahren Haft auf Bewährung. Für die Beschneiderin hatte er sieben Jahre verlangt - die Geschworenen machen daraus acht Jahre. Mariatous Mutter wird zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

Der Prozess machte auch in Mali, dem Herkunftsland der Beschneiderin und der Mehrheit der angeklagten  Eltern, Schlagzeilen. "Le Républicain" ereiferte sich nach dem Urteilsspruch: "Das intolerante und barbarische Frankreich wirft die malischen Eltern und die Beschneiderin ins Gefängnis." Einheimische Menschenrechtsgruppen jedoch registrierten, dass viele Eltern nun gut überlegen werden ...

Und in Deutschland lobte Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul das Pariser Urteil. Sie kündigte für Westafrika gemeinsam mit Nichtregierungs-Organisationen und der Unicef eine Kampagne gegen die Klitorisverstümmelung an. Das Urteil der Geschworenen in Paris hat seinen Teil dazu beigetragen.

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