... nicht unter Schmerzen geboren

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Die EMMA-Kolumnistin und FrauTV-Moderatorin hat gerade ihr zweites Kind bekommen (Espen) – und dabei so einiges erlebt.

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Angenommen, man hätte mich – versehen mit einer Augenbinde – entführt an einen fremden Ort, dann würde ich anhand dieser panisch gekreischten und animalisch gegurgelten Urlaute auf einen Folterkeller tippen. Oder auf ein Bombenattentat. Tatsächlich aber befinde ich mich auf der Entbindungsstation einer Großstadtklinik. Bis dato waren meine Erinnerungen ungetrübt von den lautmalerischen Möglichkeiten menschlicher Verzweiflung. Inzwischen weiß ich, warum der Einzug in den Kreißsaal so lange wie möglich hinausgezögert wird: Obwohl die Räume schall-isoliert sind, werden die Noch-nicht-Schreienden Ohrenzeuge, was sie noch erwartet. In meinem Fall konnte ich gleichzeitig zwei Nachbarinnen belauschen, die offensichtlich bei lebendigem Leibe gepfählt wurden.
Die Pausen zwischen den Eröffnungswehen habe ich damit verbracht, mir auszumalen, wie groß die Qualen sein müssen, die einen solchen Kontrollverlust provozieren. Vielleicht war das einer der vielen Gründe, warum meine Schmerzen zwar zunahmen, mein Körper sich aber nicht weiter öffnen wollte. An diesem Punkt reißt auch meine Wahrnehmung ab und erwacht Stunden später in glücksseliger Entspanntheit – nachdem meine weise Hebamme eine Periduralanästhesie, kurz PDA, verordnet hatte.
Das ist die segensreiche Erfindung, die es möglich macht, bei Bewusstsein, aber schmerzfrei zu gebären, die aber bei der Bewertung einer Geburt unter Müttern einen drastischen Punktabzug nach sich zieht. „Mit oder ohne PDA?“ ist stets und immer die erste Frage, wenn es um den genauen Geburtsverlauf geht. Egal welchen sozialen Status oder welche beruflichen Erfolge die PDA-Gebärende in ihrem sonstigen Leben vorweisen kann – in diesem Moment wird sie sich jeder anderen Mutter, die gemäß dem biblischen Fluch „unter Schmerzen“ geboren hat, unterlegen fühlen. Vielleicht sogar schämen, als wäre ihr die Medaille wegen Doping aberkannt worden.

Die Geburt ist wie "ein Naturerlebnis". – Wer möchte nicht bei der Geburt einer Vulkaninsel Zeuge sein? Aber doch nicht rittlings auf dem explodierenden Magmadeckel!

Auch ich vergesse nie, zu erwähnen, dass ich ja immerhin am Wehentropf lag (ja, auch nicht in dieser Kolumne); wie viel schmerzhafter die Wehen dann sind; und dass es ja meine Hebamme war, die eine PDA vorgeschlagen hat. Und warum es am Ende doch zum Kaiserschnitt kam … Alles billige Ausreden, lese ich im mitleidigen Lächeln meiner Zuhörerinnen. 

Von einer befreundeten Ärztin werde ich aufgeklärt, dass viele Kinder so wie meines mit einer mehrfach um den Hals gewickelten Nabelschnur „ganz normal“ zur Welt kommen, ohne Schnitt. Das Alibi ist also auch geplatzt. Jetzt bleibt mir nur noch zuzugeben: Okay, ich habe mich verpisst – und dann auch noch versagt. Und wahrscheinlich bin ich eh psychisch gestört, denn wie mir eine Klinikhebamme einmal verriet, haben emotional stabile Frauen auch leichte Geburten.
Andererseits lautet eine Hebammenweisheit: Je intellektueller die Frau, desto störanfälliger die Geburt. Na gut, den Vorwurf lasse ich mir noch gefallen. Trotzdem: In der Hackordnung frisch gebackener Mütter stehe ich mit PDA und Not-Kaiserschnitt fast ganz unten. Nach mir kommt nur noch der schon im Voraus geplante Kaiserschnitt.
Gebären heißt, auch im 21. Jahrhundert, Schmerzen ertragen. Barbarische Schmerzen. Wobei ich natürlich nicht mitreden kann, denn bis zu den Presswehen habe ich es nie geschafft. Ich zitiere nur andere Frauen, die nicht die Gnade einer Sofortamnesie nach der Geburt ereilt hat. Frauen, die sich noch genau daran erinnern, dass sie zwischen den Wehen bewusstlos zusammensackten – vor Schmerz. Frauen, die bei jeder einzelnen Wehe kotzen mussten, über Stunden – vor Schmerz.
Eine meiner Freundinnen begrüßte mich nach ihrer Niederkunft mit rot gepunkteten Augäpfeln unter rot gemaserten Augenlidern. Sie sah aus wie ein Vampir. Während der Geburt waren ihr sämtliche Blutkapillare in und rund um die Augen geplatzt – „beim Pressen“. Selbst schuld, wahrscheinlich war sie nicht in der Lage, „das Geschehen fließen zu lassen“. Schließlich ist das „Geburtserlebnis“ etwas „Elementares“; ein „Naturereignis“ wie „das Entstehen einer neuen Insel mitten im Meer“– so und ähnlich säuselt’s jedenfalls durch den Ratgeberblätterwald.
Schöner Vergleich. Wer möchte nicht gern mal bei der Geburt einer Vulkaninsel Zeuge sein? Aber doch wohl aus sicherer Entfernung und nicht rittlings auf dem explodierenden Magmadeckel, oder?
Die abstrakten Aquarellstriche auf den Buchdeckeln der zitierten Bücher lassen bereits auf einen blumigen Inhalt schließen. Aber Behauptungen wie: „Frauen sind in den Wehen schön, sie sind weich und angestrengt, aber nie verzerrt oder gepeinigt“, sind nicht nur eine Beleidigung des menschlichen Verstandes, selbst wenn der bei Schwangeren unter Hormoneinfluss steht, sie sind auch fahrlässig und zynisch. Versuchen Sie mal, gleichzeitig weich und angestrengt in den Spiegel zu schauen. Bei mir sah das Ergebnis aus, als hätte ich mir in die Hosen gemacht.
Was ist so unbeschreiblich am Geburtsschmerz, dass er selbst in den auflagenstärksten Hebammenratgebern nicht mal im Inhaltsverzeichnis auftaucht? Sollte nicht mindestens die Hälfte eines solchen Buches dem Umgang mit Schmerz gewidmet sein und der Todesangst, die er heraufbeschwören kann? Angesichts der Tatsache, dass der Geburtsschmerz zu den intensivsten Qualen gehört, die ein Mensch empfinden kann? Und wenn man weiß, dass die Gedanken einer Hochschwangeren vor allem um die Frage kreisen: Halte ich das aus? Stattdessen ist da von „produktiven“ und „positiven“ Schmerzen die Rede – als wäre das nicht ein Widerspruch in sich.
Frauen sollen diesen Schmerz gefälligst anders empfinden als ihr Körper es vorgibt, weil am Ende ja eine wundervolle Belohnung wartet. Nur: Kinder werden unter und trotz Schmerzen geboren, nicht durch Schmerzen. Sonst würde ja jede Geburt stoppen, sobald Schmerzmittel eingesetzt werden. Oft ist das Gegenteil der Fall. Wenn die Schmerzen Panik oder Verkrampfungen auslösen, bringt eine Betäubung oft die dringend nötige Entspannung. Trotzdem ist sogar die Weltgesundheitsorganisation der Meinung, dass schmerzstillende Mittel nicht routinemäßig eingesetzt werden sollten. Warum eigentlich nicht?

Die Gebärende soll ihre Schmerzen „verarbeiten“ oder „wegatmen“. Ein Yogi übt dazu mehrere Jahre. Eine Schwangere wuppt das im Vorbereitungskurs?

Aber das noch größere Rätsel für mich ist der Ehrgeiz der Frauen, die ansonsten eher schmerzfrei durchs Leben gehen, sich freiwillig dieser Tortur auszusetzen. Suchen Sie die Herausforderung, weil Job, Alltag oder Beziehung sie nicht genug beanspruchen? Glauben Sie, nur unter Schmerzen eine echte Frau zu sein? 

Oder gehört es zum Zeitgeist, der ihrem Körper ‚Size Zero‘ und ewige Jugend abfordert, dass der Masochismus auch vorm Kreißsaal nicht halt macht?
In Handbüchern wie der ‚Hebammensprechstunde‘ wird angeprangert, dass eine PDA nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt sei und viel zu oft angewendet würde. Starke Schmerzen allein sind nach Meinung der Autorinnen kein Grund, sich der PDA zu bedienen. Stattdessen werden die jungen Frauen von heute als verweichlicht kritisiert. Ihre unbeschwerte und verwöhnte Kindheit sei unter anderem Schuld, dass sie bei einer Geburt zum ersten Mal mit „körperlich anstrengender Arbeit“ konfrontiert werden und kaum noch bereit seien, „Schmerzen auszuhalten“.
Nun kann man ja eine fröhliche Kindheit nur schwer rückgängig machen. Deshalb appelliert die Verfasserin an die Ehemänner der Schwangeren, ihre Frauen nicht zu verhätscheln. Vermutlich handelt es sich bei der Verfasserin der ‚Hebammensprechstunde‘ um eine hochprofessionelle und sehr erfahrene Hebamme. Wenn man es über Jahrzehnte immer wieder mit schreienden, weinenden, kotzenden Frauen zu tun hat, ist es vielleicht normal, dass man im Laufe der Zeit den Respekt verliert.
In einer Zivilisation, in der sogar die Einstichstelle für eine Betäubungsspritze vereist wird, damit der Pieks nicht so weh tut, soll eine Gebärende ihre Schmerzen „verarbeiten“ oder „wegatmen“. Theoretisch mag das möglich sein. Praktisch muss sich auch ein Yogi, der den lieben Tag nichts anderes tut, mehrere Jahre in Atmung und Meditation üben, um seine Nervenbahnen derart zu kontrollieren.
Doch Schwangere sollen das in einem Vorbereitungskurs wuppen. Jemand, der angesichts einer Amputation nach einer „natürlichen“ Methode verlangen würde, die auf Schmerzmittel verzichtet, würde man zum Psychologen oder zur Domina schicken. Kann mir jemand erklären, warum ein Geburtsvorgang ohne Betäubung, der medizinhistorisch ins Mittelalter gehört, als „natürlich“ oder „normal“ bezeichnet wird? Normal wie Pest oder Cholera? Natürlich wie der Tod der Mutter im Wochenbett?
Für Normalsterbliche ist Schmerz – mal abgesehen von seiner Warnfunktion – vor allem erniedrigend und würdelos. Schon gar, wenn er sich – wie bei der Folter – über Stunden immer weiter steigert. Schmerz macht hilflos und unmündig. Menschen so weit wie möglich von dieser Geißel zu befreien, gehört zu den größten Errungenschaften der modernen Medizin.
Unsere Erziehung, Bildung und Kultur baut darauf auf, dass der Körper unter die Kontrolle des Verstandes gestellt wird. Man brüllt nicht vor Schmerzen, man winselt nicht um Erlösung. Enthemmte Gefühle werden allenfalls auf der Leinwand oder in der Psychiatrie toleriert. Urin, Kot, Blut, Erbrochenes fließen nur im eigenen Intimbereich und selten gleichzeitig. Aber eine Gebärende soll all diese kulturellen Schranken mit Betreten des Kreißsaals hinter sich lassen und das möglichst natürlich finden?
Ich wüsste zu gern, wie meine beiden Mitstreiterinnen aus den Nachbarbetten heute darüber denken – falls sie sich erinnern. Ich werde ihre Schreie – bei der einen gebrüllt, bei der anderen gejault – nie vergessen. Und ich erinnere mich dank PDA sehr gut an eine Situation, die ich durch die angelehnte Tür belauschen konnte: Bei der Rückkehr vom Pinkeln hat sich einer der Väter wohl im Saal geirrt und meinte kichernd: „Mensch, Tschuldigung, aber das klang ganz ähnlich.“ Der andere Vater kicherte zurück: „Kann passieren!“ Wollen wir hoffen, dass die Frauen auch dies vergessen haben, damit sie es nicht verzeihen müssen.
Lisa Ortgies, EMMA 2/2007

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