Nur das Leben ist wirklich

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1939, zu Beginn der „drôle de guerre“, des „komischen Krieges“, schickt Simone de Beauvoir dem damals eingezogenen Jacques-Laurent Bost ein kleines Foto von sich, auf dessen Rückseite sie geschrieben hatte: „Castor de guerre“ – Kriegs-Biber (Castor war der Spitzname von Beauvoir, nach der englischen Aussprache von Beauvoir: beaver, französisch castor, deutsch Biber, der zugleich ihren Fleiß und ihre Ausdauer zum Ausdruck brachte. Anm.d.Ü.). Das entspricht völlig ihrem schrecklich wilden Aussehen auf diesem Foto: nicht die Andeutung eines Lächelns, fest aufeinander gepresste Kiefer, hohe, unter einem engen Haarband hervortretende Stirn. Vor allem klingt es wie die Vorwegnahme des künftigen Castor, der damals kaum älter als dreißig ist. Wir können aus diesem Wort alle kommenden Kämpfe, in ihrem Werk ebenso wie in ihrem Leben, heraushören: „Das andere Geschlecht“ und die Kämpfe der Frauen, ihre Beteiligung an allen extremen Formen radikaler Emanzipation, von China bis Kuba, ihre kämpferische, entschlossene Opposition gegen den Algerienkrieg, den großartigen Essay „Das Alter“, den gewaltigen Berg ihrer „Memoiren“... Wir wissen aber auch, dass es um viel mehr geht: Es sind das Leben, die Liebe, das Glück, das Werk, an die Simone de Beauvoir als Kriegsbiber rangeht, dem sie sich stellt, wie in einer Arena.

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Alles, was sie tut, was sie lebt, ist ein ständiger Kampf. Ein Kampf gegen die Zeit, gegen die Kontingenz, gegen sich selbst. Damit nichts verloren geht von diesem einmaligen Leben, das sie dem Nichts entreißen muss, das es belauert und es abschließen wird, und das man mit Glut, mit Gier, mit Heißhunger leben muss. Eine Frau der Begierde, ja der Begierden im Plural, und eine Frau der Pflicht, so erscheint uns Simone de Beauvoir; doch ihr Verlangen ist ebenso gebieterisch wie ein Auftrag. Das Glück selbst, wie alles andere, ist nicht zu haben und nicht zu bewahren ohne Kampf; es ist zugleich eine Gnade, eine Überraschung und eine Pflicht: unglücklich sein heißt es wollen oder wenigstens sich damit abfinden. So „begabt“ man dafür auch sein mag, und sie war es, man bekommt das Glück nicht ohne Kampf – man muss es sich erschaffen.

Sie ist so früh davon überzeugt, dass sie sich heftig korrigiert, als sie 1929 ihre Tagebücher von 1927 liest: „Die Menschen sind gezwungen, dem Glück anzuhängen, das sie daran hindert, an den Tod zu denken; aber das Glück wird stets nur eine Ablenkung sein.“ Am Rand kann man lesen: „Mai 1929 – Nein, aus allen Kräften, nein. Nur das Leben ist wirklich, denn der Tod lässt sich nicht denken.“  Die höchste Aufgabe, der ich mich nicht entziehen kann, ist leben und ich selbst sein. Leben ist nicht eine einfache Leidenschaft, es ist eine Pflicht, eine Aufgabe, eine Arbeit, eine Bewährung, ein Werk. Leben heißt richtig und stark zuschlagen, Blöcke herauslösen, herausmeißeln. Sein Leben herausschlagen aus dem Felsen der Tage, der Lieben, der Bücher, der Wesen – der Wörter. Aus einem Stoff ohne Weichheit und ohne Sanftheit. Und das ist eine Arbeit – besser: ein Krieg. Krieg gegen Leerzeiten, Selbstbetrug, gegen Zudringlichkeiten, „Querbalken“, die das Gefühlsleben kennt, die Komplexität von Liebessituationen, die Gefahr laufen, wenn man sie nicht kontrolliert, ins „Leidenschaftliche“ zu stürzen, wo man für nichts mehr garantieren kann – und mitunter hineinfällt.

Das gesamte Werk von Simone de Beauvoir, einschließlich ihrer Romane, trägt dieses kriegerische Siegel, bis in den Stil hinein, den Zuschnitt ihrer Sätze, bis zu ihrem Rhythmus, zur Präsenz einer Stimme, die den Leser nie ruhen lässt. Ihr gesamtes Werk ist erfüllt von glühender Wachsamkeit, Sorge und Kampfgeist. Sicher liegt es auch an der Epoche - jene Zeit mächtiger Antagonismen, die man „kalter Krieg“ nennt - in der Sartre und sie, Bündnispartner aber Kritiker, Kritiker aber Bündnispartner, immer im „Lager“ des Kommunismus und der Revolution verblieben (auch wenn schließlich die Desillusionierung überwog). So tief und endgültig war ihre Ablehnung der „Bourgeoisie“, des Kolonialismus, der etablierten Ordnung, des amerikanischen „Imperialismus“, einer Welt, in der für sich sie alle Formen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung verbanden...

Deshalb hat man beim Lesen des Werkes von Simone de Beauvoir,  und nicht nur ihrer „Memoiren“, den Eindruck, auf allen Gebieten (intellektuell, politisch, literarisch, Freundschaft, Liebe) einer stark polarisierten Welt gegenüber zu stehen; einer Welt der Voltabatterien aus den Romanen von Jules Verne, die, wenn man ihre Pole einander annähert, heftige Blitze hervorsprühen lassen, die die Tiefen der Ozeane erleuchten, die verwunden und sogar töten können. Wir befinden uns in Kriegszeiten. Und in Kriegszeiten hat man notgedrungen keine Zeit für Nuancen, es wäre sehr gefährlich, sich bei ihnen aufzuhalten. Die Gegner werden schnell zu Feinden, und die Feinde sind schnell ausgelöscht. Und die Freunde, selbst wenn sie zur „Familie“ gehören, kommen nicht zur Ruhe. „Man muss wie Sie denken“, sagte Bost, „aber vor allem zur gleichen Zeit wie Sie.“

Ist der Frieden der heimliche Zweck des Krieges? Darüber kann man streiten. Auf jeden Fall gibt es keinen Frieden, solange die Aufgabe nicht erfüllt ist. Aber das wird sie nie sein: Der Tod setzt allen Aufgaben ein Ende, er bestätigt jedoch nicht ihre Erfüllung. Nie ist man mit irgend etwas fertig: weder mit den historischen Kämpfen, noch mit dem Kampf für die Emanzipation (der Frauen, der Völker), noch mit sich selbst; ich selbst sein ist schon für sich genommen eine Aufgabe, und gezwungener Maßen eine endlose.

Wenn die Dringlichkeit von ihr fordert, niemanden in Frieden zu lassen, so gibt es auch für sie keinen Frieden, nur Augenblicke der Ruhe; einige feuchtfröhliche „Fiestas“ im Paris der Nachkriegszeit oder diese Inseln der Rast, die Sartre ihre „Querencias“ nennt. Dabei sind „Querencias“ alles andere als eine Sommerfrische, im Wortschatz des Stierkampfes ist es der Ort, an dem sich der Stier am wohlsten fühlt. Bevor er den Kampf wieder aufnimmt – vor der Tötung... Die einzigen Momente der Gnade sind jene, in denen die Zeit in der Schwebe verharrt – in einer plötzlichen Epiphanie der sinnlichen Welt, oberhalb einer ruhigen Bucht, auf dem Gipfel eines Berges, in einem Augenblick reiner Freude nach körperlicher Anstrengung – oder auch in der Rückkehr zum Leben nach einer schweren Krankheit. Der Friede ist jedoch nie mehr als eine Pause – zwischen zwei Kämpfen kann man sie nicht besser nutzen als zur Vorbereitung des nächsten Kampfes, und um sich selbst vorzubereiten.

Ihr gesamtes Werk ist geprägt vom Siegel dieses großen Kampfes: der Kontingenz die Notwendigkeit abringen; und seine Existenz rechtfertigen, indem man sie ganz ins Werk wirft. Doch die „Memoiren“ nehmen in ihm notwendigerweise einen zugleich zentralen und verschobenen Platz ein: verschoben, weil sie von oben auf das gesamte Leben und Werk blicken, zentral, weil Simone de Beauvoir sich ganz der Bewegung hingeben kann, die ihr Leben seit ihren frühen Tagebüchern strukturiert: das erlebte Leben in ein reflektiertes Leben überführen.

Kurz vor ihrem fünfzigsten Jahr geht sie ihre Memoiren an (attaque ist das von ihr gewählte Wort), doch ist es ein sehr altes Projekt mit vielen und komplexen Motivationen. „Den Genuss“ der vergangenen Augenblicke „wiederholen“, wie Rousseau sagt, indem man sich ihrer erinnert, jene retten vor dem Vergessen, die sie gewesen ist, Lebensbilanzen ziehen, ständig überprüfen, ob sie die Versprechen eingehalten hat, die ihre Jugend auf ihre Reife projizierte. In ihren „Memoiren“ wie schon zuvor in ihren „Cahiers de jeunesse“ bestimmt der Castor seine Position, so wie es die Seeleute jeden Morgen tun, um sich zu vergewissern, dass sie nicht von ihrem Weg abgekommen sind. Sie schreibt über sich selbst, um sich zu verstehen und sich hervorzubringen, und beides bedingt sich wechselseitig: Man muss sich verstehen, um sich hervorzubringen, aber man muss sich auch hervorbringen, um sich zu verstehen. (Und das ist eine Arbeit – besser: ein Krieg. Krieg gegen Leerzeiten, Selbstbetrug, Zudringlichkeiten; „Querbalken“, die das Gefühlsleben kennt, die Komplexität von Liebessituationen, die Gefahr laufen, wenn man sie nicht kontrolliert, ins „Leidenschaftliche“ zu stürzen, wo man für nichts mehr garantieren kann – und mitunter hineinfällt.)

Das werden die „Memoiren“ sagen, weil nur Memoiren nicht nur das ganz sagen können, was man ist, sondern auch, was man sein wollte. Indem sie ihr eigenes Porträt und die Geschichte des langen Kampfes zeichnet, durch den sie sie selbst wurde, zeigt sie eindrucksvoll, wie sie aus dieser kontingenten Existenz, in die sie „geworfen“ worden war, ein Unternehmen und eine Notwendigkeit gemacht hat.

Mehr noch: Indem sie ihr Leben in seinen ersten Anfängen aufgreift, als sie in einem Zimmer mit „weißlackierten Wänden“ ihre Augen zur Welt hin öffnete, indem sie bis ins Einzelne die Geschichte ihrer Adoleszenz nachzeichnet sowie den Kampf, der es ihr ermöglichte, dem „schlammigen Schicksal“ zu entgehen, das sie bedrohte, indem sie schließlich ihre Erzählung über die Jahre ihrer Erfüllung fortführt, bannt Simone de Beauvoir die geheime Furcht, fremde Hände könnten in ihr Leben und ihr Werk eingreifen. Denn jeder Biograf ist ein Feind, ein Voyeur und ein Verräter. Jede Biografie ist eine Lüge und zugleich eine Fälschung. Was weiß er schon von diesem, von jener, derer er sich bemächtigt? Was weiß er von diesem „einmaligen Geschmack“,  den ihr Leben hatte? Wie kann er erreichen, dass man ein Leben versteht, dass es erklingt, geteilt wird?

„Lieber schnüffle ich in meinem Leben herum als das anderen zu überlassen“, schreibt sie. Um dem zu entsprechen, stürzt sie sich 1956 in dieses „unvorsichtige Unternehmen“, über sich selbst zu sprechen. Sie hat bereits ein beachtliches Werk hinter sich, Essays, darunter „Das andere Geschlecht“ (1949), Romane, darunter „Die Mandarins von Paris“ (1954), sie genießt eine unbestreitbare Bekanntheit, Sartre und sie sind Bezugspersonen, große „fortschrittliche“ Intellektuelle. Die „Memoiren“ werden in relativ kurzer Zeit geschrieben, alles ist 1972 abgeschlossen..

„Die Zeremonie des Abschieds“ von 1981 fällt aus der Reihe: Es ist ein „überzähliges“ Buch, das nie hätte entstehen sollen, denn es berichtet etwas, was sie lieber nicht erlebt hätte: den Tod Sartres. Daher dieser Eindruck außergewöhnlicher Konzentration und Einheit der „Memoiren“, dieser großen Erzählung, die ohne Zögern oder Streichungen vollbracht wurde.

In ihren Romanen und in ihrem philosophischen Werk, in Novellen oder Essays, ist das Bild, das sie von sich gibt, auch wenn sie sich bewusst und willentlich ganz und gar engagiert, letztlich immer der Macht des Lesers überlassen. Er bringt sie im Laufe seiner Lektüre hervor, nach seinem Willen, auf seine Art, nach seinem Rhythmus und entsprechend seinen Deutungsmustern. Kein Autor ist Herr der Wirkungen, die das Werk hervorbringt, so streng er in der angebotenen Konstruktion oder der vorgezeichneten Richtung auch sein mag. Der Castor ist sich dessen mehr als jeder andere bewusst. Sie braucht eine Rückeroberung. In ihrem Werk hat sie sich preisgegeben. In ihren „Memoiren“ holt sie sich zurück. Ein wenig in der Art von Strawinsky, der vor seinem Tod sein Gesamtwerk selbst dirigiert hat, um jeder Entstellung oder Fehlinterpretation zuvor zu kommen, sind die „Memoiren“ von Simone de Beauvoir das Ergebnis einer ohne Schwäche durchgeführten konzertierten Aktion.

In diesem geordneten, bestens strukturierten und konstruierten Ensemble wird sie in einem scheinbar rein chronologischen Ablauf eine klare, bestimmte, kontrollierte Version ihres Lebens, ihres Werkes, ihrer Begegnungen, ihrer Freundschafts- und Liebesbeziehungen, ihrer Engagements, ihres Einvernehmens mit Sartre darstellen. Die „Memoiren“ sind eine in sich abgestimmte, durchdachte, zielgerichtete Architektur, in der der Castor die Ausführung seines „Urentwurfs“ erzählt, „aus seinem Leben eine beispielhafte Erfahrung zu machen, in der sich die ganze Welt widerspiegelt“. Die „Memoiren“ sind auch ein Kampf, dem sich der Castor mit nicht ermüdender Energie widmet.

Ein allgegenwärtiges „Ich“ erzählt ein Leben im Jahrhundert, folgt der Chronologie der Ereignisse, die es vom Beginn der zwanziger Jahre bis zum Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts geprägt haben. Darin findet die Chronik der Begeisterung und der Enttäuschungen ihren Platz, die die fortschrittlichen Intellektuellen gelebt haben, eine Geschichte, mit der sie eng verbunden, deren Zeugen und Akteure sie waren. Und auch eine Chronik ihrer Lektüren, ihrer Reisen, ihrer Freundschaftsbeziehungen und Liebesverhältnisse, und der – ihrer Natur, ihrer Qualität, ihrem Sinn, ihrer Dauer nach – außergewöhnlichen Beziehung zwischen zwei großen Intellektuellen, zwei großen Schriftstellern dieser Zeit: sie und Jean-Paul Sartre. „Ich werde nicht alles sagen“, warnt sie. Ohne Zweifel. Doch Schweigen hört und sieht man nicht: das Bild, das der Kriegsbiber in seinen „Memoiren“ von seinem Leben, seinem Werk, seinen Engagements zeichnet - und zeichnen will – ist ein klares, lesbares Bild, ohne Umwege noch Schatten. Ohne Rätsel oder Geheimnisse.

Dennoch ist es eine besonders schwere Übung, die „Memoiren“ von Simone de Beauvoir zu lesen. Ihre Prosa ist gebieterisch, geradeaus, dicht, sie übt auf den Leser eine Art einschüchternder Autorität aus, gemischt mit einer Verführung, der man sich schwer entziehen kann. Der faszinierte Leser wird von ihrer Lebhaftigkeit, ihrem nie erlahmenden Tempo mitgerissen. Vom mitunter grausamen Humor der Porträts. Vom Wechsel poetischer und nachdenklicher Momente, wie der Beschwörung der blühenden Kastanienbäume oder der roten Buche von Meyrignac, und melancholischer Momente, bei denen die Rückbesinnung auf sich selbst von Tönen des „Nie wieder“ gefärbt wird. Verführt, gefangen, geführt, mit fester Hand gehalten und zurückgehalten, eingeladen, im gleichen Schritt mitzulaufen, fühlt sich der Leser herausgefordert. Und er kann nur durch eine vergleichbare Herausforderung antworten: auf einen Castor anderthalb Castor. Er muss um jeden Preis die gewollte Verzauberung durch diese Stimme brechen, die ihm nie Ruhe lässt, die erklärt und  beschreibt, wertet und regelt, kommentiert, interpretiert. Er muss sich diesem Zugriff entziehen und die Faszination zerstören, die sie auf ihn ausübt.

Der Leser muss lernen sich zu lösen, sich der Überzeugungsmacht, die die „Memoiren“ durchzieht, zu entreißen, um sie einer aufmerksamen, treuen, kompromisslosen Prüfung zu unterziehen, um den Text zu zwingen, sich zu entfalten, sich auszubreiten. Bei diesem seltsamen, schwierigen und gewagten Abenteuer muss sich der Leser also ebenso lebendig und entschlossen zeigen wie der Castor selbst. Ebenso kämpferisch. Und diese „Memoiren“ lesen, wie sie geschrieben wurden, im gleichen Rhythmus glühender Wachsamkeit, und sich nicht mit der frontalen Ansicht begnügen, die die „Memoiren“ ihm aufzwingen. Um den Preis einiger Wagnisse.

Und mit einem zwingenden Gewaltstreich: Um den Castor in den Windungen eines regen Denkens und seiner eindringlichen Prosa zu fassen, muss man die „Memoiren“ in die Gesamtheit der Werke einordnen, ihnen den privilegierten Platz rauben, den der Castor ihnen geben wollte. Indem man zunächst um diese solide Achse, wie Zweige an einem Stamm, die anderen autobiografischen Werke des Castors aufpfropft, ihre Briefe, Tagebücher, ihre „Cahiers de jeunesse“, die alle nach ihrem Tod veröffentlicht wurden. Aber auch, indem man ihre Essays und Romane am richtigen Platz und zum richtigen Zeitpunkt mit ihnen verknüpft, entsprechend ihrer eigenen Orientierung. Sie zeugen alle von ihrem Urentwurf, sie alle flechten und weben um ihr Leben geträumte, vorweggenommene, reflektierte, meditierte Formen der realen Ereignisse und der gelebten Gefühle. Und schließlich indem man das gesamte Werk, Romane, Essays, Memoiren, in die Epoche eintaucht, in der es entstanden ist, die es widerspiegelt und der es eine andere Richtung gibt.

Die Welt, in der sowohl Sartre als auch sie selbst ihre Bücher schreiben, Freundschaft und Liebe erfahren, ihre Aktionen entwerfen, Besuche machen, auf Reisen gehen, ist auch ihre Welt, eine mit ihren Augen betrachtete Welt, von der sie ein Bild schaffen oder neu erschaffen, das manchmal mehr ihren Wünschen als der Wirklichkeit der Dinge entspricht. Was ist das für ein China, in das sie 1955 „offiziell“ reisen, aus dem sie ihre Notizbücher mitbringen wird, „Der lange Marsch“? Was ist das eigentlich für eine Sowjetunion, wohin sie über viele Jahre Sartre begleiten wird? Ihre Art, die (großgeschriebene) Geschichte zu sehen, zu verstehen, zu analysieren, zeichnet auch ein Bild von ihnen beiden: gleichzeitig mit ihnen die Geschichte lesen, die sie erlebt haben, heißt nicht, immer genau die gleiche Geschichte zu lesen, noch die selben Ereignisse zu betonen.

Unter diesen Blickwinkeln betrachtet, verliert die Gestalt des Castors diese etwas künstliche, gewollte Einheit, die die „Memoiren“ ihr gegeben hatten. Sie gewinnt ein neues, unerwartetes Relief. Eine überraschende Gestalt des Castors taucht auf: Sie beugt und bricht sich, sie löst sich auf und fügt sich wieder zusammen je nach den Werken, den Gesichtspunkten, den Augenblicken: Augenblicke der Spannung und Augenblicke der Entspannung, Augenblicke erobernder Freude und eingestandener Verzweiflung. Momente des offenen Krieges (mit der Epoche, dem Irrtum, dem Selbstbetrug, der Zeit) und meditativer oder gar melancholischer Pausen.

Der Castor verliert dabei seine manchmal zu scharfen Umrisse, Schatten verschieben sich, eine Wolke schiebt sich darüber. Man denkt an jene „anamorphotischen“ Silhouetten, die man nur, wenn man das Bild in einem bestimmten Winkel hält, gut erkennen kann. Genau das macht die Lektüre: unendlich die Winkel variieren – wörtlich und in alle Richtungen. Alles ist im Werk: Es gibt nichts diesseits oder jenseits. Keine Hintergrundwelt: alles ist ausgestellt, jedoch verschlüsselt, in vollem Licht und mitunter unsichtbar, wie der „Gestohlene Brief“ von Edgar Poe.

Das Leben eines Schriftstellers ist ein Riesenroman, dessen Schlüssel allein im Werk zu finden sind; wenn er stirbt, zieht er sich ganz und gar in die Texte zurück, die er hinterlässt. Er lebt in jedem Wort, das er geschrieben hat, jedoch nie in unmittelbarer oder durchsichtiger Weise, und er ist immer „wahr“, sogar wenn er aufeinanderfolgende Wahrheiten ausspricht, und wenn er fiktive Gestalten schafft und sprechen lässt, ist er es nicht weniger, als wenn er „ich“ sagt. Wer ist „wahrer“ in der Prüfung seiner Gefühle gegenüber Olga? Simone de Beauvoir, die nach der langen Krise ihres Dreierverhältnisses der Jahre 1935 bis 1937 eine besänftigte Beziehung zu ihr knüpft?  Oder Françoise, ihr Doppel aus „Sie kam und blieb“, die 1943 Xavière, das Doppel von Olga, umbringt, denn: „Ebenso muss jedes Bewusstsein auf den Tod des Anderen gehen“ (Ein Zitat von Hegel, das Beauvoir dem Roman vorangestellt hat).

Hat sie sie schließlich errichtet, diese Festung, in der ihre Jugend für immer Zuflucht finden wollte? Oder begegnete sie nur „der Traurigkeit/ die selbst ohne Bedauern noch Verdruss/ das Pflücken eines Traumes zurücklässt/ im Herzen, das ihn pflückte“? So ist sie: gerade heraussteigend aus der Masse der hinterlassenen Seiten, in der wechselhaften, oft paradoxen Vielfalt ihrer Kämpfe, leidenschaftlich in ihrem Willen, die Welt zu verändern, auf die Zukunft gerichtet, sich ganz in jedes neue Buch werfend, geschüttelt vom Grauen vor dem Nichts und der Angst vor dem Tod, bis zur Extase empfänglich für die Pracht der Welt – ganz, ohne Nachsicht, großzügig und manchmal ungerecht, ausgefüllt von der Strenge der Wörter und der Aufrichtigkeit des Denkens.

Mutig, konzentriert, entschlossen, furchtlos: in ihrem Werk wie in ihrem Leben.

1. Kapitel. Ihr Porträt – das zeichnet Simone de Beauvoir selbst. Sie beschließt, es zu tun: über sich schreiben, über ihr Leben, ihren Weg, ihren Entwurf, ihren Kampf; es ist eine zu wichtige Aufgabe, der Einsatz ist zu ernst, als dass man es einem anderen überlassen könnte. Und wenn sie sich daran macht, wird es wie mit allem sein, das sie tut: ein klarer Entschluss, ein neues Engagement, eine neue Form des Kampfes. „Nachdem mein Essay über China abgeschlossen war, begann ich im Oktober 1956 den Bericht meiner Kindheit. Es war ein altes Projekt.“ Und wo fängt man an? Mit dem Anfang. Entscheidende, souveräne Worte: „Ich bin am 9. Januar 1908 um vier Uhr morgens geboren, in einem Zimmer mit weißlackierten Wänden ...“. Großartiger Einstieg! Ein „Ich“, dem nichts vorhergeht, zeichnet sein erstes Auftauchen zwischen den Wänden eines lackierten Zimmers – wie der Dichter auf diesem „unberührten Papier, das sein Weiß verteidigt“ (Mallarmé). Reinheit, Entschlossenheit, keine Schnörkel. Beginn des Tages, Beginn des Jahres, Beginn des Jahrhunderts: reiner Anfang.

1956, auf dem Gipfel ihres Alters, ihres Werkes, ihres öffentlichen Erfolgs, ihres Rufs, steht der Castor inmitten seines Lebens, seines Werkes. Und der Kontrast ist ergreifend zwischen der Intensität ihrer Engagements, ob privat oder öffentlich, und diesem plötzlichen Heraufbeschwören der Kindheit, das in der wunderbaren Zeit der Erinnerung seine Sätze abrollt, ohne Anfang noch Ende... Der Augenblick, da sie schreibt, verblasst, die Gegenstände, die Sorgen, die Menschen, die Probleme treten zurück in einen gnädigen Halbschatten. Und die Dinge von einst quellen hervor aus dem Abgrund der Zeit, vom Licht triefend, das sie schmückte: „An den Abenden, an denen meine Eltern Gäste hatten, vervielfältigten die Spiegel im Salon das Glitzern eines kristallenen Lüsters.“ Ihr Buch über China? Der Algerienkrieg? Vergessen. All das verschwindet für einen Moment. Es kehrt das kleine Mädchen zurück, das die Mutter zu „verliebten Gefühlen“ anregte, das sich in die Arme seiner Mutter schmiegte, um „ihre Haut einer jungen Frau“ mit Küssen zu bedecken.

Der Castor litt von seinen ersten öffentlichen Erfolgen an unter den sensationsheischenden oder verdrehten Bildern, die von ihm verbreitet wurden, vor allem unter seinem Ruf einer „kalten“ Intellektuellen. Auch deshalb lädt sie uns ein, eine verzauberte Welt mit ihr zu besichtigen, in der ihre Eltern, jung, glücklich und fröhlich, sich ständig umarmen und lachen; in der sie selbst sich auf die sinnliche Welt mit einer abstandshaltlosen Begehrlichkeit wirft.

Als sie sich 1956 „daran macht“, hat sie in Wirklichkeit schon viel über sich geschrieben, oder von sich ausgehend. Ihr Werk ist, im weiten Sinne, sehr autobiogafisch: bereits seit der Mitte der dreißiger Jahre mit unveröffentlichten Erzählungen, während des Krieges mit „Sie kam und blieb“, wo sie die komplizierten Beziehungen in Szene setzt, die Sartre und sie mit einem jungen Mädchen geknüpft hatten, das sie beide faszinierte; dann 1954 mit „Die Mandarins von Paris“, wo sie die Geschichte von Intellektuellen erzählt, die wie Sartre und sie vom Rausch der Befreiung erfasst werden.

Weiterlesen
Danièle Sallenave: Castor de guerre. Un portrait de Simone de Beauvoir (Gallimard). Übersetzung aus dem Französischen: Vincent von Wroblewsky

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