Lauf. Lauf um dein Leben!

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Ihr letztes Stück Weg in der Außenwelt führt durch ein kleinbürgerliches Viertel am Beiruter Stadtrand. Desta, eine 21-jährige Frau aus Äthiopien, sitzt auf der Rückbank und schaut zu, wie am Fenster niedrige Wohnblocks mit lackierten Balkongittern vorbeiziehen. Als der Wagen hält, steigt sie aus und folgt ihrem neuen Arbeitgeber in eines der Häuser. Es geht hinauf, in die dritte Etage. Die Ehefrau wartet im Wohnzimmer. Sie schweigt, während sie das neue Dienstmädchen von oben bis unten mustert. Die Angereiste hört, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fällt.

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Dass sie 16 Monate lang nicht mehr aus dieser Wohnung herauskommen wird, weiß sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Jetzt liegt sie seit vier Wochen schwer verletzt in einem Beiruter Krankenhaus. Ihre Flucht hätte sie fast das Leben gekostet.

Die 21-Jährige drückt den Kopf etwas tiefer in das Kissen. Ihren echten Namen will sie nicht verraten, aus Angst. Sie hat eine schwere Gehirnerschütterung, ihre Schulter ist gebrochen, ihr Bein gleich mehrfach. "Madame hat mir verboten rauszugehen. Die Tür war immer abgeschlossen. Ich durfte nicht einmal telefonieren. Meine Familie in Äthiopien dachte, ich wäre tot", sagt sie. Sie bringt die Sätze nur mühsam hervor, braucht immer wieder Atempausen dazwischen. Es sind nicht nur die Knochenbrüche, die ihr zu schaffen machen, auch die Erinnerung ist schmerzhaft: Ihre Chefin zwang sie, täglich bis zu 20 Stunden schwere Hausarbeit zu verrichten. Wenn Desta um Freizeit bat, dann schlug sie mit Schuhen auf sie ein. Die dunklen Blutergüsse sind noch immer in ihrem Gesicht zu sehen.

"Das geht doch nicht, dass man einen Menschen einsperrt wie ein Tier", sagt Desta. Doch der einzige Fluchtweg führte aus dem Fenster. "Ich wollte zu dem Balkon der Wohnung unter uns klettern. Da bin ich abgerutscht". Die Entkommene will nun nichts anderes mehr, als so schnell wie möglich in ihre Heimat zurück. So endet die Geschichte einer 21-jährigen Äthiopierin, die in den Libanon kam, um Geld für die Ausbildung ihrer beiden Kinder zu verdienen.

Es ist eine Geschichte, die sich ständig wiederholt, in den Wohnungen der christlichen wie der muslimischen Viertel von Beirut. Die Zahl der Frauen aus den ärmsten Regionen Afrikas und Asiens, die im Libanon zurzeit als Hausangestellte arbeiten, wird auf 250.000 geschätzt. Das ist jeder 16. Einwohner, Babys und Alte mitgerechnet. Denn der Libanon hat nur rund vier Millionen EinwohnerInnen.

Mindestens 95 dieser Dienstmädchen sind allein zwischen Januar 2007 und August 2008 durch Selbstmord oder Unfälle bei Fluchtversuchen ums Leben gekommen. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie der Organisation Human Rights Watch (HRW). Nadim Houry, der Leiter des HRW-Büros in Beirut, hat die Studie vor sich auf dem Schreibtisch liegen und tippt mit dem Finger auf das Papier: 2. Dezember 2007: Die Äthiopierin Ferihiwot Gebre Hawayriya stürzt aus dem fünften Stock. 9. Dezember 2007: Die Madagassin Gorgina Ravow Rima Lala ertrinkt in einem Swimmingpool. 12. Dezember 2007: Die Äthiopierin Mulu Negusse Terunehe erhängt sich. So geht es immer weiter, über sieben Seiten hinweg. "Jede Woche stirbt eine ausländische Hausangestellte im Libanon", sagt Houry. Der junge Mann schüttelt den Kopf: "Die Art, wie viele Libanesen mit den Frauen umgehen, ist eine neue Form der Sklaverei. Manche werden im wahrsten Sinn des Wortes dazu getrieben, vom Balkon zu springen."

Die Flugzeuge mit Dutzenden von Philippininnen, Sri Lankerinnen, Togoerinnen, Nepalesinnen landen mehrmals am Tag auf dem Beiruter Flughafen. Sicherheitsbeamte weisen den Frauen einen Platz in der hinteren Ecke der Halle zu. Auf dem Schild, das dort an der gefliesten Wand hängt, steht: "Empfangszone für Dienstmädchen."

Die Maschine aus Addis Abeba hat bereits seit einigen Minuten Verspätung; rund 30 Frauen und Männer warten in einer Sitzecke nahe dem Zollschalter. Zeina Qudsi schiebt den Ärmel ihrer Bluse ein Stück hoch und schaut auf die Uhr. Es ist das dritte Mal, dass die Bankkauffrau eine ausländische Arbeitskraft in ihr Haus nehmen wird. "Die ersten Wochen sind anstrengend, weil man ihnen so viel beibringen muss", sagt sie. Die 45-jährige Libanesin streicht ihre aschblond gesträhnten Haare hinter die Ohren. Dann hebt sie den Zeigefinger und erklärt: "Es ist gerade am Anfang wichtig, dass man hart zu ihnen ist, sonst werden sie hinterher frech." Auch für sie kommt es auf keinen Fall in Frage, dass ihr Dienstmädchen das Haus alleine verlässt: "Ich will Schwierigkeiten vermeiden. Sonst hat sie vielleicht einen Unfall, oder sie kommt schwanger nach Hause."

Als die Frauen den Zollschalter passieren, nehmen die Beamten ihnen ihre Pässe ab und händigen sie Madame oder Monsieur aus. Fast alle von ihnen werden ihre Papiere erst an dem Tag zurückerhalten, an dem ihr in der Regel zweijähriger Vertrag endet.

"Die Frauen sind in einer sehr schwachen Position. Die Arbeitgeber haben alle Vorteile auf ihrer Seite: Das Geld, die Macht, die Kenntnis der Sprache, die Gesetze", sagt der Beiruter Anwalt Roland Tawk. Er hat sich auf Migrationsrecht spezialisiert und betreut ehrenamtlich Hausangestellte, die mit ihren Arbeitgebern in Konflikt geraten sind. Tawk, 39 Jahre alt, ist ein stämmiger Mann mit freundlichen, weichen Gesichtszügen. "Ich sehe es als meine Aufgabe an, vor Gericht Präzedenzfälle zu schaffen", erklärt er.

Doch die Migrantinnen bewegen sich quasi in einer rechtsfreien Zone. Die libanesischen Arbeitsgesetze gelten nicht für Hausangestellte. So hat der Anwalt es bedrückend häufig mit Frauen zu tun, die über Monate oder sogar Jahre für ihre Arbeit entweder weniger als vereinbart oder gleich gar keinen Lohn bekommen haben. Viele müssen rund um die Uhr zur Verfügung stehen und kriegen keinen einzigen freien Tag.

Auch zu Misshandlungen, Vergewaltigungen, ja sogar Morden kommt es hinter den verschlossenen Türen immer wieder. Meist ohne rechtliche Folgen. Hingegen droht einem Hausmädchen, dem die Flucht gelingt, Gefängnis: "Manche dieser Arbeitgeber behaupten, die Frauen hätten Schmuck oder Geld gestohlen." Um einer Verurteilung zu entgehen, müssen sie beweisen, dass die Anschuldigungen falsch sind. So verbüßen derzeit mehrere Hundert Migrantinnen im Libanon Haftstrafen für meist frei erfundene Diebstähle.

Die Frauen sind ein fester Bestandteil im Beiruter Straßenbild, junge Afrikanerinnen und Asiatinnen, die vorüberziehen wie Schatten, allgegenwärtig, aber von niemandem beachtet. Viele Stellen sind an ihrer Ausbeutung beteiligt, weil sie alle davon profitieren. Die libanesische Gesellschaft ist auf den Zustrom der billigen Arbeitskräfte angewiesen. In ihren Herkunftsländern stützt das Geld, das sie nach Hause senden, die Wirtschaft. Und für die Agenturen ist die Vermittlung der Frauen ein lukratives Geschäft. Die monatlichen Gehälter der Hausangestellten liegen je nach Nation zwischen 100 und 400 Dollar. Die Agenturen jedoch erhalten 2.000 Dollar für die Vermittlung von den Arbeitgebern.

Es gibt im Libanon rund 400 solcher Agenturen. An den Fassaden ihrer Büros hängen Plakate mit Bildern von dunkelhäutigen Frauen in Dienstmädchenuniformen, die lächelnd Tee auf einem Tablett anreichen. Eine der Firmen warb bis vor einigen Jahren tatsächlich mit dem Spruch: "Sri Lankerinnen zu verkaufen".

Die billigen Dienstmädchen werden nicht nur von Wohlhabenden, sondern auch von Ärmeren angestellt. Die Madagassin Razana Drava Omamana erzählt. "Als ich vor acht Jahren in den Libanon kam, wurde ich an eine Familie vermittelt, die selbst arm war", sagt die heute 40-Jährige. "Sie haben mir oft nichts zu essen gegeben, und wenn, dann gab es nur eine kleine Portion Reis oder etwas Brot." Zum Schlafen wurde ihr eine fensterlose Kammer zugewiesen – dort bewahrte der Hausherr außerdem seine Waffensammlung auf, aus Zeiten des libanesischen Bürgerkriegs (1975–1990). Razana Drava Omamana schüttelt sich noch heute. "Die Ehefrau hat mich angeschrien und als Schlampe beschimpft. Der Sohn schlug mich, wenn er mit meiner Arbeit nicht zufrieden war", sagt sie. "Ich habe mich an meine Botschaft gewandt, und an die Agentur, aber niemand wollte mir helfen. Sie sagten zu mir: Das ist eben so."

Razana Drava Omamana weigerte sich, die Bedingungen zu akzeptieren und lief davon. Doch ohne das Geld, das sie im Libanon verdient, kann die geschiedene Frau die Schulgebühren für ihre drei Kinder nicht bezahlen. Also suchte sie sich neue Arbeit, stieß jedoch auf ähnliche Probleme. "Aber ich kann für meine Kinder ein bisschen Geld verdienen, also ist es okay."

In Not geratene Hausangestellte finden meist auch in den Botschaften ihres Heimatlandes keine Unterstützung. Eine Ausnahme ist die Botschaft der Philippinen. Hier kümmert sich die Sozialarbeiterin Annie Israel um die Frauen. Voller Empörung wirft sie ihre Hände in die Luft: "Ich habe mich mehrfach an das libanesische Arbeitsministerium gewandt und angeregt, verbindliche Arbeitsbedingungen festzulegen", ruft sie aus, "aber die Herren antworten nicht einmal!"

Gleich hinter ihrem Büro tut sich ein weitläufiger, unmöblierter Saal auf. Rund 40 Frauen laufen aufgeregt hin und her, bei jedem ihrer Schritte klatschen ihre Plastikschlappen. Sie drängen sich um ein Körbchen voller Mobiltelefone. Sie alle leben im Keller der Botschaft, weil es keinen anderen Ort gibt, an dem sie Zuflucht finden. Und heute ist der einzige Tag in der Woche, an dem sie mit ihren Familien telefonieren dürfen.

Eine zierliche Philippinin mit glatten, langen Haaren steht etwas abseits. Tränen laufen ihr über die Wangen. Als das Gespräch endet, hält sie das Handy noch eine Weile an ihr Ohr gepresst. Sie erzählt: "Ich hatte keine ruhige Minute. Wenn ich mich mal kurz hingesetzt habe, schrie Madame mich an: Was, hast du deine Arbeit schon fertig?" Die 33-Jährige weint. "Wir hatten so viele Hoffnungen. Aber nichts davon hat sich erfüllt. Wir werden hier wie Sklaven gehalten. Selbst ihre Hunde behandeln die Leute besser."

Annie Israel sagt, die größte Schwierigkeit sei, die Frauen überhaupt zu erreichen. "Viele haben gar keine Möglichkeit, Hilfe zu rufen. Andere haben viel zu viel Angst, sich jemandem anzuvertrauen." Sobald die Sozialarbeiterin einen Hinweis erhält, macht sie sich auf den Weg. Sie kennt die Zahl der Todesopfer und weiß, dass es womöglich auf jede Minute ankommt. Die philippinische Botschaft hat eine 24-Stunden-Helpline eingerichtet. Und wenn Annie Israel eine Frau in der Leitung hat, die misshandelt wird, gibt sie immer den gleichen Rat. Sie sagt nur fünf Worte: "Lauf. Lauf um dein Leben."

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