Alice Schwarzer schreibt

Die entfesselte Sexualität

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Als Der Spiegel im Jahr 1998 über die handfeste Bestätigung der weiten ­Verzweigung des klitoralen Systems im Körper der Frauen durch die ­australische Urologin Helen O’Connell schrieb, da begann er den Text mit dem Satz: „Alice Schwarzer hat es schon immer gewusst.“ Als Die Zeit 2013 über einen divers-geschlechtlichen Sex-Kongress in England berichtete, da schrieb Susanne Mayer: „Wer über die Vagina redet, landet in einem orgastischen Diskurs. Jahre ist es her, dass Alice Schwarzer die Welt schockte mit der These, man brauche sie eigentlich nicht, jedenfalls nicht für Spaß beim Sex.“ Und just gestern landeten auf meinem Tisch zwei Belegexemplare des Verlages von der ichweißnichtwievielten Auflage vom „Kleinen ­Unterschied“. Dieser 1975 erschienene Longseller hat die Sexordnung erschüttert, und Millionen von Frauen, von Flensburg bis Passau, von Rio bis Tokio, erkannten sich darin wieder. Um den „Kleinen Unterschied“ geht es auch bis heute, wenn selbsternannte „Männerrechtler“ und ihre Sympathisanten bzw. Freundinnen mich angreifen.

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Dann kritisieren sie nicht etwa einen der hunderte von Texten, die ich in den letzten 36 Jahren in EMMA geschrieben habe. Sie beziehen sich auch nicht auf eines der 46 Bücher, die ich seither als Autorin und ­Herausgeberin veröffentlicht habe. Nein. Es geht immer nur um dieses eine Buch.

Doch geht es dann nicht etwa, bzw. nicht offen, um den ungeheuren Tabubruch der 15 Frauen, die darin mit mir über ihre Wahrheit in der Sexualität und im Leben, über die Folgen der Liebe sprechen. Es geht auch nicht um den den Protokollen folgenden Essay, in dem ich „die Lüge von der sexuellen Befreiung“ und den „Drill zum Frausein“ analysiere. Und auch das, was man heute „die Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ nennt, also die Doppelbelastung und Unterbezahlung der Frauen.

Nein. Es geht immer nur um Sexualpraktiken bzw. Heterosexualität versus Homosexualität und das, was ich damals darüber geschrieben habe – genauer: angeblich geschrieben habe.

Nur angeblich nämlich verdamme ich im „Kleinen Unterschied“ die Heterosexualität und den Koitus bzw. die „Penetration“ (ein Begriff, den ich aus Frankreich importiert hatte). Dass in Wahrheit von einer Ablehnung der ­Hetero­sexualität oder neuen sexuellen Normen nicht die Rede sein kann, das kann bis heute jede und jeder nachlesen.

Doch es geht in der Tat um die Erschütterung des Monopols des Koitus und der ­Hetero­sexualität als allein selig machend – und die ­Akzeptanz gleichberechtigter, anderer Sexualpraktiken und Begehrensmuster. Und dabei spielt die Klitoris eine zentrale Rolle.

Die Klitoris ist das Sexualorgan der Frau, ­sozusagen parallel zum Penis des Mannes. In ihr spielt sich der physische Teil von Lust und ­Orgasmus ab; der psychische findet im Kopf statt, dem Zentrum des Begehrens.

Diese Klitoris ist über Jahrhunderte verleugnet worden. So wie man den Frauen ja Begehren und Sexualität überhaupt abgesprochen hatte. Stattdessen hatte die männerbeherrschte Gesellschaft den Mythos vom „vaginalen Orgasmus“ erfunden. Was bedeutete, dass – wenn überhaupt – eine Frau nur Lust empfinden sollte beim Penetrieren des Penis in die Vagina. Was bedeutete, dass Lust von Frauen ohne Männer nicht denkbar war. Was bedeutete, dass Heterosexualität die eigentliche Sexualität war, und alles andere pubertär bzw. pervers. Auf dem Mythos des vaginalen Orgasmus ­beruht die ­moderne Macht des Phallus.

Ursprünglich hatte ich für den „Kleinen ­Unterschied“ den Arbeitstitel „Sexmonopol“ ­gewählt. Und das benennt das Problem auch genau: Das Monopol von Männern über Frauen in Sachen Lust und Liebe – und damit über ihr Leben. Denn die sich aus der vorherrschenden Liebesordnung ergebenden Folgen sind bekannt: Männer sind das eine Geschlecht, Frauen das „andere Geschlecht“ (Simone de Beauvoir). Wir sind relative Wesen und ein Nichts ohne Männer.

Zum Erzeugen von Lust ist die Klitoris unentbehrlich – für das Erzeugen von Kindern ist die Vagina zuständig, schrieb ich damals ­angriffslustig. Denn die Vagina hat so viele Nerven wie der Dickdarm, also fast keine. Was nicht zuletzt auch daran zu sehen ist, dass Frauen beim Tragen von Tampons keineswegs im ­Zustand permanenter Erregung sind.

Das heißt, ich attackierte nicht die Gesellschaft, nicht das System oder den Kapitalismus, sondern den einen Mann an der Seite der einen Frau. Was Folgen hatte. Von nun an lag ich in den Ehebetten auf der Ritze – und der Name Schwarzer wurde zum Synonym für das Pro oder Contra zwischen den Geschlechtern. Wobei sich vor allem, aber nicht nur, Frauen auf mich beriefen. Auch so mancher Mann war erleichtert, nicht mehr den allzeit bereiten Rammler geben zu müssen.

Mit dieser Erschütterung der Liebes- und Sexordnung stand ich damals keineswegs allein. Sie war das zentrale Thema der Neuen ­Frauenbewegung zumindest außerhalb von Deutschland, von Kate Millett („Sexus und Herrschaft“) bis Shulamith Firestone („Frauenbefreiung und sexuelle Revolution“). In diesen Jahren entdeckten wir Frauen unseren eigenen Körper und unser eigenes Begehren – und ­wagten es, unser Gegenüber damit zu konfrontieren. Wir erweiterten die Liebespraktiken und besannen uns auf das, was uns selber Spaß machte – manchmal auch der Koitus, aber eben nicht immer. Auch die Frage der ­Verhütung stellte sich nun häufig gar nicht mehr, denn auch Frauen und Männer können Lust ohne Koitus erzeugen.

Doch dann kam der Backlash in Gestalt der Pornografie. Von Linken und Liberalen Mitte der 1970er Jahre entkriminalisiert, begann die Pornografisierung der gesamten Kultur. Entscheidend für den Unterschied zwischen Erotik und Pornografie war und ist dabei die Verknüpfung der Pornografie von Lust am Sex mit Lust an Erniedrigung und Gewalt. Für Männer. Nun hieß es wieder: Rammeln, Rammeln, Rammeln.

Als ich 1975 den „Kleinen Unterschied“ schrieb, belegten Sexstudien, dass zwei von drei Frauen nie oder selten einen Orgasmus hatten. Und der US-Sexualforscher Prof. Bell hatte in einer Studie von 1974 herausgefunden, dass die Frauen in der Hochzeit der „sexuellen ­Revolu­tion“ so „frigide“ waren wie zu Zeiten des ­Kinsey-Reports (in den 1950er Jahren). Nur ­behaupteten sie nun im Unterschied zu damals, Sexualität „nicht mehr als Pflicht zu empfinden, sondern Spaß daran zu haben“. Ein Selbstbetrug, der den Frauen den Zugang zum eigenen Begehren natürlich noch stärker verstärkte als die vorherige Verweigerung.

Doch seither ist viel passiert. Auch zwischen Frauen und Männern nimmt der ­einvernehm­liche, kommunikative Sex zu, wie auch SexualforscherInnen seit Jahren konstatieren. Gleichzeitig aber propagiert die Pornografie genau das Gegenteil: nämlich eine koitusfixierte, hierarchisierte und gewaltgeladene Sexualität. Eine neue Verunsicherung ist ausgebrochen.

Erotisches Begehren und gelebte Sexualität gehören zu einem erfüllten Leben. Eine jede und ein jeder sollte die Chance dazu haben. Nachdem die Sexualität zwischen den Geschlechtern über Jahrtausende unlösbar mit ­Besitz (des Mannes) und Gewalt (gegen die ­Kinder und Frauen) verknüpft war, haben ­Feministinnen begonnen, die Sexualität von ihren Fesseln zu befreien. Es wäre schade, wenn ihr nun neue Fesseln ­angelegt würden.

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Dossier: Klitoris - die Königin der Lust (EMMA 4/2013)

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