Matthias Matussek: Unter Wölfinnen

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Spiegel-Redakteur Matthias Matussek pflegt seine ganz persönlichen Erfahrungen gerne direkt zu Leitartikeln zu verarbeiten. Manchmal aber steht mehr zwischen den Zeilen als darin.

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In der Spiegel-Hausmitteilung vom 6. März posieren auf einem Familienfoto fünf eingeschüchtert in die Kamera schauende Kinder. Alle Jungs. Brüder. Uniform gekleidet, in kurzen Hosen, Kniestrümpfen, gestreiften Pullovern und Bubikragen, die Hände an der Hosennaht, stramm in Reih und Glied wie beim Militär. Neben ihnen dräut düster ein übermächtig wirkender Vater. Das zweite Kind von rechts ist heute Kulturchef beim Spiegel: Matthias Matussek, genannt „MM“, Jahrgang 1954, aufgewachsen im erzkatholischen Münster im schwarzen Westfalen.

Für die Ausgabe vom 6. März hat MM (assistiert von zwei Co-AutorInnen) die Spiegel-Titelgeschichte ‚Unter Wölfen‘ geschrieben. Thema: Familie. Und kaum zu glauben, aber wahr: Der zweite kleine Junge von rechts, der, der am eingeschüchtertsten aussieht, vermisst, was seine AltersgenossInnen beim Betrachten seines Familienfotos das Blut in den Adern gefrieren lässt.
Weil wir ihn kennen, diesen Fünfziger- Jahre-Mief, in dem wir zu ersticken drohten. Weil wir den Rohrstock noch körperlich spüren. Weil wir immer noch Muttis Stimme zu hören meinen: „Warte nur, bis der Alte nach Hause kommt, dann setzt es was!“ Oder Vatis Stimme: „Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst, hast du zu tun, was ich dir sage!“ Weil wir kurze Hosen mit Hosenträgern verabscheut haben, die wir von unseren älteren Brüdern auftragen mussten oder an Leibchen geklemmte kratzende Strümpfe, aus denen unsere älteren Schwestern herausgewachsen waren. Weil wir die Enge – im Spiegel als „Geborgenheit der Großfamilie“ gepriesen – als Freiheitsberaubung empfanden. Weil wir uns beim „im Rudel“ eingeübtem „Sozialverhalten“ stets den Stärkeren unterwerfen mussten. Weil wir nach wie vor leiden unter dieser beklemmenden Abwesenheit von Nähe auf Familienfotos, wie dem von Matthias Matussek, die auch wir zuhauf in Alben erbten.
MM sieht das anscheinend heute anders bzw. schreibt es anders, nämlich so: „Das Stammhirn sagt: Blut ist dicker als Wasser. Das Stammhirn sagt: Rette deine eigenen Leute. Das Stammhirn sagt: Die Familie ist die erfolgreichste Formation, gerade in Krisenzeiten.“ Biologie sei keine „romantische Illusion“, räsonniert MM in seiner Titelgeschichte, die auf Frank Schirrmachers Familiensaga ‚Minimum‘ aufsattelt, sondern „Selbsterhaltung“ und „Schöpfungsnotwendigkeit“.
Wow! Was ist denn da passiert? Solche Töne von einem, der laut taz in den 70ern links, gar Maoist gewesen sein soll? Und der seit den 90ern einer der Väter ist, die sich in Selbsthilfegruppen wie ‚paPPa. com‘, ‚Väteraufbruch für Kinder‘, ‚Dialog zum Wohle des Kindes‘ und ‚SKIVAS e.V.‘ zusammengeschlossen haben. Über larmoyante zwölf Spiegel-Seiten malte der just von Frau und Kind verlassene MM schon 1997 in seiner Polemik ‚Der entsorgte Vater‘ das selbstmitleidige Bild vom „Heer verzweifelter Väter“, die den „Kriegsgewinnlerinnen an der Scheidungsfront“ hilflos ausgeliefert wären. Für diese „Heulsusen der Spaßgeneration“ seien Kinder nichts anderes als „Spekulationsobjekte mit sicherer Rendite“.
Dafür lieben sie MM, die Vätervereine. ‚paPPa.com‘ zum Beispiel hatte 1998, nachdem das Matussek-Buch ‚Die vaterlose Gesellschaft‘ (Untertitel ‚Überfällige Anmerkungen zum Geschlechterkampf‘) erschienen war, eigens eine Homepage für MM eingerichtet, die über seine Rezensionen und Lesereisetermine informierte. Der Suchbegriff „Matussek“ führt zu 474 Einträgen im paPPa-Archiv. Und der ‚Väternotruf‘ schwärmt heute noch von den Jahren, in denen MM die „deutsche Muttilobby“ aufgemischt habe: „Bei Hitler, dem großen Mutterkultler, wäre Matussek folgerichtig gleich ins KZ abgegangen.“
Im September 2005 war MM wieder mal Referent bei einem Familienkongress, diesmal in Schleswig-Holstein, veranstaltet vom ‚Väteraufbruch‘. Vermutlich hat er bei der Gelegenheit wieder erzählt, was er auch zu schreiben pflegt. Zum Beispiel über Beziehungsmorde: „Rund die Hälfte wird von Frauen verübt.“ Oder über familiäre Gewalt: „1,8 Millionen amerikanische Frauen jährlich erleiden Tätlichkeiten von Freund oder Ehemann, gegenüber von zwei Millionen Männern, die dergleichen von Freundin oder Ehefrau erleiden.“ Über Jugendgewalt: „Hier sind die Mädchen öfter gewalttätig als Jungen.“ Und Vergewaltigung: „Für manche Frau ist sie schon erfüllt, wenn der Beischlaf für sie freudlos war.“ Und sexuellen Missbrauch: Mütter seien zweimal so häufig Täter wie Väter, weil „die Mauer, die der Kult um die Alleinerziehende errichtet, bisweilen ein wirksamer Schutz ist vor dem begründeten Verdacht weiblichen Missbrauchs“. Und so weiter.
Alle Zitate stammen aus Matusseks Buch ‚Die vaterlose Gesellschaft‘ – die Bibel der deutschen „Männerbewegung“, wie Matussek seine Gefolgschaft nennt.
Ulrike Matussek zog 1997 mit dem gemeinsamen Sohn, heute zwölf, von New York (wo MM damals Spiegel-Korrespondent war) nach Berlin. Woraufhin der Vater, so die taz, seine Anwältin zitierend, den Kleinen nach New York „in die eheliche Wohnung zurückführte“. Dieser transkontinentale Kinderklau wurde dann zum Anlass für die Spiegel-Polemik ‚Der entsorgte Vater‘. Doch als 1998 das Buch zur Affäre über die ‚Vaterlose Gesellschaft‘ erschien, war die Mutter anscheinend schon wieder zum Vater zurückgekehrt. In seinem Vorwort jedenfalls schrieb Matussek: „Ich liebe Frauen, besonders die emanzipierten – und ganz besonders meine.“
MM liebt Frauen vor allem à la Mutter Teresa. In seinem Spiegel-Artikel ‚Unter Wölfen‘ preist er das weibliche Geschlecht als „sozialen Kitt“ und „widerstandsfähiger“ als Männer, weil es die „Gabe der Selbstlosigkeit und Aufopferungsfähigkeit“ habe und sich damit dem Niedergang der Familie und dem Untergang des Abendlandes entgegen stemme.
Über acht Spiegel-Seiten schwärmt der Ressortleiter Kultur von Großfamilien, die es in Deutschland heutzutage fast nur noch bei Türkischstämmigen gebe, organisiert „um Patriarchen herum“: „Frauen sind meist verschleiert und bleiben zu Hause. Junge heiratsfähige Frauen lässt man über die großen Verwandtschafsnetzwerke aus der Heimat kommen. Sie werden nicht Deutsch sprechen und müssen es auch nicht. Es ist schließlich für alles gesorgt: für Geburten, Ehen, Nachkommenschaft, Erben. Es ist ein autarker alter Kosmos in der neuen Welt. Und er bindet.“ Tja, das ist der Stoff, aus dem die Träume dieses Spiegel-Schreibers sind.
Was ist nur geschehen mit dem zweiten Kind von rechts, das damals so unglücklich in die Kamera schaute? Was treibt den erwachsenen MM, der heute wieder Hosenträger trägt – extrabreite in Pink – und Papst Wojtila verehrt, weil dessen „Verdammung von Verhütungsmitteln“ vom heutigen „demographischen Elend“ aus betrachtet „geradezu prophetisch“ gewesen sei. Denn: „Dreißig Prozent aller Akademikerinnen entscheiden sich gegen das Abenteuer Kind. Kinder werden als Beeinträchtigung der individuellen Lebensplanung empfunden.“ Und wenn wir „Heulsusen der Spaßgeneration“ uns dann, spät aber doch, für ein Kind entscheiden, machen wir auch noch alles falsch, weil wir „ängstliche, überbesorgte Mütter“ sind, die „den Terminplan der Kleinen organisieren wie die Chefsekretärin den eines Firmenvorstands“.
Könnte es sein, dass dieser Mann uns emanzipierte, gebildete Frauen so hasst, weil auf dem Familienfoto in der Hausmitteilung die Mutter fehlt? Wo ist sie, wer ist sie? War sie eine Selbstlose und Aufopferungsfähige à la Mutter Teresa? War sie eine von den gewalttätigen Frauen, die angeblich alljährlich in Amerika zwei Millionen Männer schlagen? Hat sie den kleinen Matthias, dieses zweite und zarteste Kind in der so strammen Reihe, etwa nicht beschützt vor dem großen Patriarchen? Wir wissen es nicht. Und eigentlich geht es uns auch überhaupt nichts an. Nur weil die Artikel des Kollegen Matussek so subjektiv geprägt sind, fangen wir an, uns Fragen zu stellen.
„Ohne Familie verlernt die Gesellschaft schlichtweg die Liebe“, schreibt MM im Spiegel. Manchmal verlernt man gerade mit der Familie die Liebe – oder lernt sie in ihr gar nicht erst.
Bleibt nur noch zu fragen: Sollen wir uns ärgern, über das zweite Kind von rechts – oder sollen wir es bedauern?

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