Mehr als Repression und Stasi

Literaturprofessor Dirk Oschmann (Foto: Jakob Weber) und Historikerin Katja Hoyer.
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Eine Zeitlang herrschte zwischen Ost und West Apathie und Desinteresse, doch auf einmal hat die Debatte neuen Schwung bekommen. Das liegt auch an zwei neuen Büchern. Anfang Mai erschien „Diesseits der Mauer“ der in England lebenden (ost)deutschen Historikerin Katja Hoyer. Zuvor hatte bereits die Anklageschrift „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ des Leipziger Literaturprofessors Dirk Oschmann für Aufsehen gesorgt. Er kritisiert, dass Ostdeutsche in den vergangenen Jahrzehnten ausgegrenzt und diskriminiert wurden. Beide Bücher stürmten die Bestsellerlisten.

Katja Hoyer plädiert in ihrem Buch dafür, die DDR 33 Jahre nach ihrem Ende mit emotionaler und politischer Distanz als das zu betrachten, was es war: ein zutiefst widersprüchlicher Staat, ganz wie die Bundesrepublik entstanden nach dem Schrecken des Nationalsozialismus und des Völkermordes. Sie wehrt sich dagegen, dass die Geschichte der Bundesrepublik als Normalität betrachtet wird – und die ostdeutsche als Anomalie, die als „Ballast“ gilt. Mit diesem Begriff wurde in einer Publikation der Konrad-Adenauer-Stiftung das Leben der früheren Kanzlerin Angela Merkel in der DDR beschrieben (was diese wiederum so sehr ärgerte, dass sie es in ihrer Rede am 3. Oktober 2021 öffentlich ansprach).

Als die Mauer 1989 fiel, war Hoyer vier Jahre alt. Es ist das Land ihrer Eltern. Ihre Erzählweise ist angelsächsisch locker, sie stellt Menschen in den Mittelpunkt, die in der DDR geblieben sind, sich vom Staat abgewandt hatten, sich aber über berufliche und private Erfolge freuten. Statt Liedermacher Wolf Biermann, der 1976 die DDR verlassen musste und den die meisten Westdeutschen kennen, befragt sie den populären Schlagersänger Frank Schöbel.

Katja Hoyer schreibt auch nicht von der „zweiten deutschen Diktatur“. Sie finde die Gleichsetzung von DDR mit Hitler-Deutschland nicht hilfreich, erklärte sie der Berliner Zeitung. „Natürlich war die DDR eine Diktatur, das streite ich nicht ab. Aber sie war ihre eigene Diktatur, ihr eigenes System, was man eigenständig untersuchen muss, zumal sie sich gegen den Faschismus positioniert hat“, sagte sie.

Von professionellen DDR-Aufarbeitern wurde das Buch mit Ablehnung aufgenommen. Der Journalist Norbert F. Pötzl schrieb auf „Diesseits der Mauer“ sei ein Buch nach „SED-Lesart“. Ihm fehlen die Dissidenten, die zu Wort kommen. „Grotesk“, „einseitig“ lautete das Urteil der Historikerin Franziska Kuschel von der „Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur“. Kaum einer der Kritiker kommt ohne Seitenhiebe auf Hoyers Eltern aus. Ihr Vater war in der DDR NVA-Soldat, ihre Mutter Lehrerin. Darf sich so jemand über die DDR äußern? In der taz nennt Marko Martin die Autorin „Tochter eines Systemträger-Ehepaars“. „Mutti und Vati und deren Milieuprägungen werden nicht im Geringsten kritisch befragt“, schreibt er.

Falsch. Die Milieuprägungen werden erzählt, man kann nur selbst entscheiden, ob man sie ablehnt oder versteht. Hoyer bewertet wenig. Die zum Teil heftigen Reaktionen zeigen, dass die Autorin einen Nerv getroffen hat mit ihrem Buch. Sie belegen auch, wie schwer es einigen fällt, sich vom Feindbild DDR zu trennen.

Katja Hoyer (37) und Dirk Oschmann (55) stammen aus verschiedenen Generationen, sie haben unterschiedliche Motive und Fragestellungen, auch ihr Stil unterscheidet sich. Was sie eint: Sie nehmen sich beide die Freiheit heraus, mit einem neuen Ton und Selbstbewusstsein über die DDR und den Osten zu reden. Das liegt womöglich daran, dass beide Autoren sich bisher von Ost-Debatten ferngehalten haben.

Oschmann geht ganz offensiv damit um, dass er seine Herkunft jahrelang nicht zum Thema gemacht und sich auch medial nicht mit den Ost-Debatten beschäftigt hat.

Mit ihrer Herangehensweise versuchen sie, den Knoten in der gesellschaftlichen Debatte zu zerschlagen, der das Land seit Jahren lähmt. Denn im Kern läuft jede Ost-Debatte auf die Delegitimierung der DDR hinaus. Die dominante Sicht in geschichtspolitischen Auseinandersetzungen verstand 1990 als den Endpunkt der Geschichte, als Happy End. Der Fokus der DDR-Forschung lag auf Repression und Unterdrückung. Das war auch wichtig, aber es blendete eben viele andere Erfahrungen und auch erarbeitetes Wissen aus.

Aus dieser Herangehensweise entstand ein schier unauflösliches Dilemma: Die DDR wollte man nicht mehr, doch die Menschen, die in ihr aufgewachsen waren, existierten weiter. Sie waren da, als Wähler, als Konsumenten, als Arbeitskräfte. Wenn aber das Land so schlimm war, wie es beschrieben wurde, dann konnte diese DDR nur deformierte Mängelwesen hervorgebracht haben. Deshalb wurden und werden die Ostdeutschen immer wieder als demokratieunfähig und mental rückständig verunglimpft. Und wenn sie dann noch eine Partei wählten, die viele ablehnten, dann konnte das eigentlich nur mit der DDR zusammenhängen.

Der andauernde Kampf gegen den untergegangenen Staat verstellt den Blick auf die gegenwärtigen Probleme im Osten. Die Angst davor, sich zu positiv über die DDR zu äußern, weil man dann als SED-hörig gilt, erlaubte es den Rechten, den Begriff Ostdeutschland zu besetzen.

Katja Hoyer und Dirk Oschmann fordern nun dazu auf, noch mal neu nachzudenken. Die Wiedervereinigung sei nicht die Wiederherstellung des Status quo gewesen, als die sie oft beschrieben wird. „Viele gingen davon aus, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis die ehemaligen DDR-Bürger die ihnen durch ein fremdes sozialistisches System aufgezwungenen Gewohnheiten ablegen und wieder zu normalen Mitbürgern würden“, schreibt Hoyer. Aber diese Interpretation setze „westdeutsch“ mit „normal“ gleich. Die Ostdeutschen seien jedoch nicht aufgefordert gewesen, in etwas zurückzukehren, dem sie einst angehörten, sondern sich in einen westdeutschen Staat einzufügen, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg ohne sie entwickelt hatte.

Oschmann plädiert für eine ostdeutsche Selbstermächtigung. Er fordert unter anderem, nicht nur über den Gender Pay Gap, sondern auch über den Geographical Pay Gap zu reden: Im Osten erhalten Arbeiter zum Teil 800 Euro im Monat weniger als im Westen, für die gleichen Aufgaben.

Wer weiß das schon im Westen?

SABINE RENNEFANZ

 

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