Ich, Mädchen aus der Unterschicht

Foto: Peter Rakoczy/KStA
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Wir Mädels hatten damals trotz alledem auch Ansprüche. Der erste war: Niemand darf unsere Armut bemerken. Wir hausten zwar in Löchern, aber immerhin nicht im Obdachlosenheim. Es ging noch eine Stufe tiefer. Wir gingen in Drogeriegeschäfte und malten uns mit dem Test-Kajal weiße Farbe unter die Fingernägel. Wir schminkten uns mit den Testern die Gesichter und sprühten uns mit dem teuersten Deo ein. So ging man dann auf die Piste – wenn man nicht vorher aus dem Laden geschmissen wurde.

Ich war der festen Überzeugung, dass mich ein Seitenscheitel zu einer umwerfend attraktiven, unwiderstehlichen Frau machen würde. Die Haare mussten dabei über mein Gesicht fallen, so dass man mir nicht in die Augen sehen konnte. Wie bekamen die Frauen nur so eine unfassbar sexy Frisur hin? Ich schmierte mir Seife ins Haar. Das hielt. Nur lief mir das Seifenwasser beim ersten Regen in die Augen. Ich investierte fünf Euro und ging in einen Afro-Shop und kaufte mir dort Pomade. Die zahlte sich aus. Die Pomade hielt zwei Haarwäschen durch. Ich kaufe sie bis heute.

Wobei das mit der Haarwäsche natürlich auch ein Riesenproblem war. Ich hatte ja keine Dusche. Ich überlegte jeden Tag neu, wo ich wohl duschen könnte. Für mich als fast noch Jugendliche war das der totale Horror. Wirklich, meine größte Angst war, jemand könnte meine Armut riechen. Und so kaufte ich Duschgel für fast zehn Euro.

Wenn ich niemanden fand, bei dem ich duschen konnte (das war als Frau auch nicht so ganz ungefährlich), nahm ich den Wasserkocher, wenn sie mir nicht gerade den Strom abgestellt hatten, und schüttete eine Ladung davon in das kleine Handwaschbecken, was sie gnädigerweise in der Wohnung eingebaut hatten. Manchmal war ich froh, dass ein Typ meinen Spiegel über dem Handwaschbecken zertrümmert hatte, dann musste ich nicht in mein trauriges Gesicht sehen.

Ich glaube, ich überlebte die Armut auch wegen meiner blühenden Fantasie. Ein Phänomen, das mir in meinen Literaturwerkstätten immer wieder begegnet. Die Kinder erzählen mir von ihren tausenden Euros, die sie auf dem Konto haben, von ihren Urlauben in den USA und Kanada. Sie erzählen von teuren Geschenken an Geburtstagen und von Onkeln und Tanten, die bald zu Besuch kommen und ihnen kaufen, was sie möchten.

Der Strom wurde uns meistens im Winter abgestellt. In der Zeit versuchten wir, die Wohnungen mit mobilen Stromheizungen warm zu bekommen, was natürlich nicht gelang. Und natürlich konnten wir die Horrorrechnungen dann nicht bezahlen. Wir konnten gar nichts bezahlen. Nicht die Rechnungen, nicht die Bußgelder wegen Schwarzfahren, nicht die Rechnungen von Krediten und Handyverträgen, die man uns andrehte. Nichts!

Das können die Teilnehmer meiner Literaturwerkstätten, die ich in meinen Anfangsjahren in Jugendgefängnissen veranstaltet habe, auch nicht. Irgendwann habe ich sie gefragt, warum eigentlich so wenig Akademikerkinder im Jugendgefängnis sitzen. Die Antwort bekam ich auf einem Zettel am nächsten Tag: „Wir sitzen im Knast, weil wir arm sind. Um die Kinder von Reichen wird sich gekümmert. Jemand sorgt dafür, dass sie genug zu essen haben und vernünftige Kleidung. Um uns kümmert man sich nur, wenn wir richtig Scheiße bauen. Wir sind der Welt egal.“

Sie haben recht. Wenn sich niemand um dich kümmert und du das Gefühl hast, der Welt egal zu sein, dann ist es doch eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis es knallt, oder?
Meine Freizeit verbrachte ich auf der Straße, bei jedem Wetter. Einen Streetworker habe ich nie gesehen. Hilfsangebote, um tatsächlich aus dem Elend herauszukommen, die habe ich nie erlebt. Staatliche Institutionen haben wir als Bedrohung wahrgenommen, die Polizei höchstens als Schikane. Wenn sie denn mal auftauchte, nahm sie uns nicht ernst. Für die Polizei waren wir Assis. Bei mir kam wegen meiner dunklen Hautfarbe noch Rassismus dazu.

Viele nahmen Drogen. Ich nicht. Ich fürchte mich vor Drogen. Nicht nur, weil ich Leute kannte, die daran gestorben waren, sondern auch, weil ich gesehen habe, was Drogen mit Menschen anrichten.

Wir wussten, dass wir für den Rest der Gesellschaft Assis waren, aber wir taten so, als wären wir stolz darauf. Auch etwas, was ich bis heute bei den Jugendlichen erlebe. Bei mir machen sie das allerdings nicht.

Es gab auch keine richtigen Freundschaften. Schon allein deshalb, weil immer mal wieder Leute verschwanden. Die einen in den Knast, die anderen in frühe Schwangerschaften.

Schwanger zu werden, das bedeutete für einige der jungen Frauen eine Erleichterung. Endlich war da mal jemand, der bei ihnen blieb. Ich kann das nachvollziehen und ertrage keine dummen Sprüche darüber. Die Liebe zum eigenen Kind ist oft die erste Liebe, die diese Mädels erfahren. Ohne Ausbildung hoffen sie darauf, dass mit ihrer eigenen kleinen Familie endlich das Glück in ihr Leben kommt. Die Väter waren aber meistens genauso perspektivlos wie die jungen Mütter und schnell wieder verschwunden. Fast alle kamen aus kaputten Familien und lebten das Leben weiter, was ihnen bis dato vorgelebt wurde.

Ich kann als Betroffene sagen, mit Romantik hat Armut nicht das Geringste zu tun. Wohl aber mit Gewalt, Hunger und anderen Entbehrungen. Auch von dem Zusammenhalt, der „da unten“ angeblich herrscht, kann ich nicht berichten. Gibt es den eigentlich „da oben“?

Es gab damals auch keinen Zusammenhalt unter uns Frauen. Wir waren als junge Frauen nicht nur der Armut ausgesetzt, sondern auch einer massiven Gewalt, die allgegenwärtig war. Und wir waren den brutalen Typen hilflos ausgeliefert, vor allem, wenn sie betrunken waren. Ich rede von Typen, die uns im Alkohol- oder Drogenrausch so zusammenschlugen, dass wir wie betäubt auf der Erde lagen. Und dann traten sie wie von Sinnen weiter zu. Niemand rief die Polizei.

Ich wuchs in Gegenden auf, wo es nicht besonders auffiel, wenn man blutend nach Hause kam. Solidarität gegen gewalttätige Männer unter den Frauen? Fehlanzeige. Man war froh, wenn man selbst kein Opfer war.

Ich lebte in Löchern, die sie mir, dem Mädchen aus der Unterschicht, als Wohnungen vermieteten. Unsere Wohnungen wurden vom Amt bezahlt. Sie hatten keine Heizungen, kein Warmwasser und kein Badezimmer. Dafür die Perspektive auf Knast, Drogentod oder Schwangerschaft. Die alten Frauen um mich herum hatten Angst, überhaupt nur rauszugehen, erst recht nicht im Dunkeln. Sie verbrachten ihr Leben in Einsamkeit und Kälte.

Wir ernährten uns furchtbar ungesund, eigentlich nur von billigem Fertigzeug. Wenn ich keinen Strom hatte, aß ich kalte Suppen aus der Dose, ich hatte keinen Kühlschrank und nur eine Herdplatte, die ich irgendwo ergattert hatte. Wir rauchten billige Zigaretten. Das Rauchen half gegen den Hunger. Ich schämte mich meiner Armut und ging deshalb nie zu einer Essensausgabe.

Auch heute berichten mir in meinen Literaturwerkstätten die jungen Mädchen, die ihre Mütter zur Lebensmittelausgabe der Tafel begleiten müssen. Sie sprechen über die Scham, da in dieser Schlange stehen zu müssen. Ganz oft kommen sie mittags zu mir und haben noch nichts gegessen. Deswegen stelle ich immer Möhren, Tomaten und eine arabische Nussmischung hin. Egal, was ich hinstelle, es wird alles gegessen.

Ich versuche auch immer, mit den Jugendlichen Brötchen zu essen und einen Kakao zu trinken, so richtig aus einer Porzellantasse. „Wir sind die Mettbrötchenbande!“, schrieb mir ein Junge zum Abschied. Oft sagen mir die Jugendlichen, dass sie nicht wollen, dass ich das alles bezahle. Dann sage ich, dass ich darauf bestehe, weil ich Engel in meinem Leben habe, die mich schützen. Sie verstehen das.

An Empathie mangelt es ihnen nicht, wenn es jemand ehrlich mit ihnen meint. Manchmal dauert es, bis sie merken, dass da wirklich jemand vor ihnen steht, der weiß, was es heißt,  arm zu sein. „Du bist ja eine von uns“, stellen sie oft erstaunt fest. Ich verspreche nichts, nur da zu sein. Zu oft haben ihnen Erwachsene etwas versprochen, was sie nicht eingehalten  haben. So wie mir damals auch. Ich schreibe dir, ich rufe dich an, ich komme dich besuchen. Ich helfe dir. Nichts davon ist passiert. Und zurück bleiben junge Menschen mit dem  Gefühl: Niemand interessiert sich für mich, niemand hat mich lieb.

Was mich gerettet hat? Vielleicht meine Fantasie. Vielleicht, dass ich in die katholische Kirche gegangen bin. Vielleicht auch, dass ich immer schon ein krasser Außenseiter war. Ich habe den Sprung geschafft. Ich bin nicht mehr arm. Der Lohn ist, dass ich in einer mir völlig fremden Welt gelandet bin, in der ich eins geblieben bin: ein Außenseiter.

Ein Professor gab mir in den Anfangsjahren Folgendes mit auf den Weg: „Sie werden ein absoluter Außenseiter bleiben. Machen Sie sich darauf gefasst. Was Ihren Kollegen zufliegt,  müssen Sie sich als dunkelhäutige Frau, die aus der Armut kommt, erkämpfen. Ihnen wird man keine Steine in den Weg legen, sondern Felsbrocken. Sie müssen um jeden Titel wie ein Boxer kämpfen. Es wird Sie immer verfolgen, dass sie aus einer anderen Schicht kommen.“

Und die, die noch in der Armut sind? Sie haben das Gefühl, keine Fürsprecher zu haben. Nirgendwo. Nicht in der Politik, nicht in den Gewerkschaften, nicht in den Medien. Sozialpolitik ist out.

Armut ist eingebrannt wie eine Tätowierung. Auch wenn man sich aus der Armut befreit hat, so wie ich.

MIRIJAM GÜNTER

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