Waris Dirie: Jetzt spreche ich

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Topmodel Waris Dirie will nicht länger schweigen. Erhobenen Hauptes spricht sie es aus: Meine Klitoris ist verstümmelt. Waris ist eine von 130 Millionen. Sie hat begonnen zu kämpfen.
Wenn es sein muß, erzähle ich mein innerstes Ge­heimnis. Ich lege damit meine Würde ab, als würde ich meine Kleider ablegen. Aber es muß sein.“ Das sagt sie stolz. So stolz wie sie in die Kamera blickt. Waris Dirie, New Yorker Topmodel aus Somalia, hat vor einem Jahr zum ersten Mal gesagt, daß sie eine von 130 Millionen Frauen ist, deren Genitalien verstümmelt wurden. Jetzt reist die Afri­ka­nerin als UN-Sonderbotschafterin durch ihre Heimat, um gegen die Klitorisbeschneidung zu kämpfen. „Als erwachsene Frau kann ich jetzt aktiv werden und für die Frauen sprechen, die nicht selbst für sich sprechen können“, sagt sie.
Waris Dirie war fünf, als ihr die Klitoris zusammen mit den Schamlippen weggeschnitten und die Vulva mit einer alten Rasierklinge ausgeschabt wurde, an der noch das Blut der Vorgängerin klebte – ohne Narkose, versteht sich. Anschließend wurde alles vernäht, so daß nur eine winzige Öffnung blieb. „Du bist unten schmutzig“, war ihr schon vorher eingeschärft worden. „Ohne Naht heiratet Dich keiner.“
Die Verstümmelung der Genitalien ist eine 4.000 Jahre alte Tradition der Frauenfolter: Zwei Millionen Mädchen werden jährlich immer noch vor allem in Afrika beschnitten. Und sie haben sexuell zur Verfügung zu stehen. Als Waris sechs ist, wird sie zum ersten Mal vergewaltigt.
Waris ist die jüngste Tochter der Familie und gilt als Rebellin. Sie weigert sich, ihrem Bruder von ihrem Essen abzugeben, nur weil es der Bruder ist. Sie wirft die gelben Plastiksandalen in die Ecke, weil sie Lederschuhe will. Sie fühlt sich stark, weil sie das Massaker überlebt hat, während eine Schwester und eine Cousine nach der Verstümmelung starben. Mit 13 reißt Waris aus, um der Zwangsehe mit einem 60-jährigen zu entgehen (fünf Kamele hatte er für sie geboten).
Das Mädchen schlägt sich nach Mogadischu durch und hilft dort einer Tante im Haushalt. Als ein Onkel als Botschafter nach London berufen wird und ein Hausmädchen sucht, ergreift sie die Chance. Vier Jahre lang schuftet sie in der Botschaftervilla und weiß, daß sie mehr will vom Leben.
Als die inzwischen 18jährige Waris mit der Familie zu­rück nach Somalia soll, vergräbt sie kurzerhand ihren Paß im Garten und bleibt in London. Sie jobbt bei McDonald’s, lernt Englisch, Lesen und Schreiben. Die schöne, stolze junge Frau wird als Model entdeckt und gehört schnell zu den ganz Großen – auch wenn sie es seltsam findet, allein für das Po­sieren mit ihrem Körper Geld zu bekommen. „Mama“ nennen ihre Kolleginnen Waris, weil die so gern alle bemuttert.
Sie selbst leidet unter ihrer Einsamkeit. „Ich wollte einen Mann, eine Familie. Aber es war, als würde die Naht verhindern, daß sich mir ein Mann nähert, körperlich und seelisch“, sagt sie im Rückblick. Bis das Model den Jazzmusiker Dana trifft. Lange sind die beiden ein Paar, ohne Sex miteinander zu haben: „Er hatte keine Ahnung, was mit mir los ist.“ Inzwischen haben die beiden einen gemeinsamen Sohn.
Nach außen eine makellose Erfolgsstory. Journalisten liebten Waris’ Geschichte vom Hirtenmädchen zum Topmodel. Fotografen schätzten ihre exotisch-erotische Ausstrahlung. Nie­mand kannte ihr Geheimnis. Bis Waris sich entschloß zu reden.
Daß eine wie sie das jetzt wagen kann, ist kein Zufall. Schon vor über 20 Jahren brachen Afrikanerinnen in Europa erstmals ihr Schweigen. Zuerst in Paris und London, wo Betroffene aus den Ex-Kolonien leben. Sie schlossen sich kurz mit europäischen Feministinnen und fingen an, über die sexuelle Verstümmelung ihrer Körper und Seelen zu reden.
In Emma erschien so ein erster Bericht über die „Klitoris­verstümmelung“ in der Ausgabe 3/77. Er löste damals eine Flut von Briefen, Protesten und Initiativen aus. Es dauerte dann aber noch 20 Jahre, bis der Skandal wirklich als Politikum verstanden wurde. Und nun auch eine Frau wie Waris Dirie öffentlich sagen konnte: Ich auch! Im Laufe dieser 20 Jahre begannen auch die Frauen in Afrika, sich offen zur Wehr zu setzen (siehe Emma 4/94). Inzwischen ist es so weit, daß eine drohende Beschneidung in Europa und den USA und Kanada als Asylgrund anerkannt wird.
Für Waris Dirie ist es zu spät. Aber sie teilt ihren Schmerz mit allen – und lernt so, den Kopf auch innerlich zu heben. Und sie wagt es, sogar über ihre (verstümmelte) Sexualität zu reden:  „Wenn ich mit Dana schlafe, genieße ich es, ihm körperlich nahe zu sein, weil ich ihn liebe. Die völlige Lust aber wurde mir vorenthalten. Ich fühle mich unvollständig. Und daß ich nichts tun kann, ist das hoffnungsloseste Gefühl.“
Es vergeht für die schöne, stolze Waris Dirie kein Tag, an dem ihre Schmerzen sie nicht an das Massaker erinnern. So geht es 130 Millionen beschnittener Frauen auf der ganzen Welt. Daß jetzt auch sie redet, wird allen helfen.

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Zum Weiterlesen:

  • Waris Dirie: Wüstenblume (Schneekluth, erscheint im Oktober);
  • Alice Walker: Narben (Rowohlt).

Initiative FORWARD gegen Genitalverstümmelung: Tobe Levin, Martin-Luther-Str. 35, 60389 Frankfurt, Fax 069/464069, E-Mail: levin@em.uni-frankfurt.de

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