Mirjams Wille zum Glück

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Überlebt hat das kleine Mädchen die dunkle Zeit. Heute schreibt sie ermutigende Bücher für Kinder.

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Kennt ihr das Tagebuch von Anne Frank?, fragt Mirjam Pressler.  Betretenes Schweigen in dem dunklen Kinosaal, in dem nur die erste Reihe besetzt ist. Und auch die nicht mal ganz: eine Hauptschullehrerin, Mitte 30, und fünf pubertierende NeuntklässlerInnen, vier Mädchen und ein Junge aus einem „sozialen Brennpunkt“. Ihre Unsicherheit versuchen die Jugendlichen kaugummikauend mit Coolness zu überspielen. Am liebsten würden sie das Weite suchen, obwohl sie angeblich freiwillig hier sind. Nicht etwa wegen der vielfach preisgekrönten Kinder- und Jugendbuchautorin, die an diesem Nachmittag im Kölner Filmhaus aus ihrer Anne- Frank-Biografie vorlesen soll.

Die Lehrerin hat die SchülerInnen mit dem Hollywood-Film über das im KZ Bergen-Belsen ermor- dete jüdische Mädchen ins Filmhaus gelockt. „Wir sind erst bei der Weimarer Republik“, entschuldigt sie sich verschämt für die Sprachlosigkeit in der ersten Reihe. Da nimmt Mirjam Pressler auf der Bühne vor der weißen Kinoleinwand ihre Brille ab, klappt das Buch zu, beugt sich vor und beginnt zu erzählen. Gestenreich, mit blitzenden Augen – so lebendig und authentisch, wie sie schreibt. Von einem Augenblick auf den anderen herrscht eine andere Stille im Saal. Keine angespannte mehr, sondern eine gespannte. Wir alle sind sofort mittendrin in dem Amsterdamer Hinterhaus: ein fensterloses Verlies, in dem sich die aus Frankfurt stammende Familie der 13-jährigen Anne vor den Nazis versteckt.
In Mirjam Presslers Geschichten ist man immer mittendrin. Keine Chance zu entkommen. Nicht von außen betrachten wir die Welt, wenn wir ihre Bücher lesen, wir sehen sie immer durch die Augen der presslerschen Protagonistinnen. Zusammen mit der sie- benjährigen Malka – einem jüdischen Mädchen aus Polen, das auf der Flucht durch die Karpaten im September 1943 hohes Fieber bekommt – begreifen auch wir nicht, warum uns die Mutter bei Bergbauern zurücklässt. Wir leiden mit Isabel, der 17-Jährigen aus gutem Hause, deren Mutter an Krebs erkrankt. Und wir hören das Schimpfwort „Zigeunerin“ durch die Gänge des Kinderheims hallen, wo die zwölfjährige Halinka, eine Jüdin, eine von allen gehänselte Außenseiterin.
„Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen“ lautet der Titel des Halinka-Romans. „Mein Thema ist die beschä- digte Kindheit“, sagt die 62-jährige Schrifstellerin, die erst mit 40 zu schreiben begann und seither 30 Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht hat. Darin geht es vor allem um „kindliche Überlebens- strategien“. Der Roman über Halinkas Kindheit ist der wohl autobiografischste aus Presslers Feder. Aber über die eigene Kindheit schweigt sie sich aus: „Erwarten Sie nicht, dass ich Ihnen Privates  erzähle!
Lesen Sie die Verlagsbiografie!“ Der ist zu entnehmen, dass die 1940 unehelich in Darmstadt geborene jüdische Mirjam bei Pflegeeltern und in einem katholischen Klosterinternat aufwuchs, wo eine alte Lateinlehrerin ihre Ersatzmutter wurde. Dieser Nonne, „eine Kunstbegeisterte“, zuliebe begann das Mädchen zu malen und zu zeichnen („Obwohl meine große Leidenschaft schon immer Bücher waren“). Nach dem Abitur studiert die viel- seitig Begabte bildende Kunst in Frankfurt und Sprachen in München. Es folgt ein Jahr Kibbuz in Israel und die Rückkehr nach Deutschland. Heirat mit einem Israeli. Geburt von drei Töchtern: Ronit (1966), Gila (1967) und Tall (1969).
Scheidung. Alleinerziehende Mutter in München mit diversen Jobs. Ein Jeansladen, der nicht läuft. Danach tagsüber Taxifahreren und nachts Schriftstellern. Der erste Roman entsteht: „Bitterschokolade“.
Im Januar 1980 schickt Mirjam Pressler das Manuskript an den Verlag Beltz & Gelberg. Lektorin Cornelia Krutz-Arnold erkennt sofort, dass da etwas ganz Besonderes auf ihrem Schreibtisch liegt. Noch vor Veröffentlichung wird „Bitterschokolade“, die Geschichte eines dicken Mädchens, mit dem Oldenburger Jugendliteratur-Preis ausgezeichnet. Ein Preis von vielen, die folgen. Die offizielle Bio- grafie schließt mit den Worten: „Heute ist Mirjam Pressler ihre Identität als Jüdin ebenso wichtig wie die als Frau.“
Die Schriftstellerin, die mit ihrem Lebensgefährten in einem Dorf bei Landshut wohnt, hat im Kölner Filmhaus die Geschichte von Anne Frank zu Ende erzählt. Zum Schluss sagt Mirjam Pres- sler: „Ich glaube nicht, dass es überhaupt eine glückliche Kindheit gibt.“ Doch wie sie auch sei: Nimm sie und lauf, eine andere kriegst du nicht!“ Da hebt ein stark geschminktes Mädchen aus der ersten Reihe zaghaft die Hand.
Wie 18 sieht sie aus, aber sie ist erst 14, Helena heißt sie, eine Russlanddeutsche. Dass sie noch nie ein gedrucktes Buch gelesen habe, gesteht Helena mit leiser Stimme. Aber ein handschriftliches: das Tagebuch ihrer besten Freundin. Sie gab es Helena, weil die kein eigenes schreiben darf. „Wieso denn nicht?“, fragt Mirjam Pressler. „Mein Vater erlaubt es nicht“, antwortet Helena: „Und wenn ich es heimlich täte, hätte ich kein Versteck dafür.“ Als Helena an diesem Nachmittag nach Hause in den „sozialen Brennpunkt“ geht, hat sie ihr erstes gedrucktes Buch in der Tasche: „Ich sehne mich so. Die Lebens- geschichte der Anne Frank.“ Und Mirjam Pressler ist sich sicher: „Das wird nicht Helenas letztes Buch bleiben.“ Wieder eine mit einem Stuhl für das Glück. Alle Bücher von Mirjam Pressler sind bei Beltz & Gelberg erschienen. Zuletzt „Malka Mai“ und „Für Isabel war es Liebe“.

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