Neurologie: Pornographie macht süchtig

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Auf den ersten Blick scheint Pornografie reine Instinktsache: Sexuell eindeutige Bilder lösen Instinkt­reaktionen aus, die in einer jahrmillionenlangen Evolution entstanden sind. Wenn dies stimmen würde, dann müssten die pornografischen Bilder jedoch immer dieselben bleiben. Dieselben Auslöser, dieselben Körperteile und Proportionen, die schon unsere Urahnen anmachten, würden auch uns erregen. Das wollen uns zumindest die Hersteller der Pornografie glauben machen, wenn sie behaupten, sie kämpften gegen sexuelle Unterdrückung, Tabus und Ängste und für die Befreiung der natür­lichen, verdrängten Sexualinstinkte.

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Der Inhalt der Pornografie ist jedoch veränderlich und demonstriert die Entwicklung von erlernten Vorlieben. Vor dreißig Jahren verstand man unter „Hardcore-Pornografie“ üblicherweise explizite Darstellungen von Geschlechtsverkehr zwischen zwei erregten Partnern mit Bildern von Genitalien. Als „Softcore-Pornografie“ galten seinerzeit Darstellungen von Frauen auf einem Bett, am Schminktisch oder in semiromantischer Umgebung, deren mehr oder minder dünne Bekleidung den Blick auf die Brüste freigab.

either hat sich das Hardcore-Genre ­weiterentwickelt: Heute wird es weitgehend von sadomasochistischen Themen beherrscht und zeigt Vergewaltigungen, Ejakulationen ins Gesicht der Frauen und aggressiven Analverkehr. Hardcore-Pornografie folgt Drehbüchern, die Sexualität mit Hass und ­Ernie­drigung vermischen und die Welt der ­Perversionen ausleuchten. Die Softcore-Pornografie von heute entspricht dagegen etwa der Hardcore-Pornografie von vor dreißig Jahren, Darstellungen von Geschlechtsverkehr zwischen Erwachsenen werden heute im Kabelfernsehen ausgestrahlt. Die verhältnismäßig milden Softcore-Darstellungen von einst – Bilder von teilweise entblößten ­Frauen – werden heute zu allen Tageszeiten in den Massenmedien gezeigt, etwa in ­Musikvideos, Soaps und in der Werbung, die alles pornifizieren.

Die Wirkung der allgegenwärtigen Softcore-Pornografie ist besonders gravierend, da sie junge Menschen mit geringer sexueller Erfahrung und besonders formbaren Gehirnen beeinflusst, während diese ihre sexuellen Vorlieben und Bedürfnisse herausbilden. Doch auch im Fall von Erwachsenen kann die Porno­grafie tiefgreifende neuroplastische Auswirkungen haben, auch wenn den Konsumenten gar nicht klar ist, inwieweit sie auf ihre Gehirne einwirkt.

Gegen Ende der neunziger Jahre, als das Internet rasch wuchs und die Internet­pornografie explodierte, kamen mehrere Männer in meine Praxis, die alle mehr oder minder dieselbe Geschichte erzählten. Jeder von ihnen hatte eine Vorliebe für eine bestimmte Art der Pornografie entwickelt, die ihm mehr oder minder Sorgen machte oder ihn gar anekelte, die sich in beunruhigender Weise auf ihr ­sexuelles Erregungsmuster auswirkte und schließlich sogar ihre Beziehung und ihre Erektionsfähigkeit beeinträchtigte.

Keiner dieser Männer war besonders ­unreif, sozial auffällig oder hatte sich in eine Pornowelt zurückgezogen, die einen Ersatz für die Beziehung zu wirklichen Frauen darstellte. Es handelte sich durchweg um angenehme und aufmerksame Männer in mehr oder weniger funktionierenden Beziehungen.

Meist waren diese Männer wegen eines anderen Problems in Behandlung und ­erzählten fast beiläufig und mit offensicht­lichem Unbehagen, dass sie mehr und mehr Zeit im Internet verbrachten, sich pornografische Darstellungen ansahen und dabei masturbierten. Sie versuchten ihr ­Unbehagen damit zu beschwichtigen, dass das ja jeder tue. Oft begannen die Männer mit einem Besuch auf bekannten ­Soft­pornoseiten oder weil ihnen ein Bekannter aus Spaß ein Nacktfoto oder ein Video ­geschickt hatte. Andere besuchten eine harmlose Seite mit einem zweideutigen Link, der sie auf pikantere Seiten weiter­leitete, und schon bald waren sie gefangen.

Oftmals ganz beiläufig berichteten einige der Männer noch etwas anderes, das mich aufhorchen ließ. Sie erwähnten, es falle ihnen zunehmend schwer, sich von ihren Sexualpartnerinnen, sei es Frau oder Freundin, erregen zu lassen, auch wenn sie diese nach wie vor attraktiv fänden. Wenn ich nachhakte, ob dieses Phänomen etwas mit ihrem Pornokonsum zu tun habe, dann erklärten sie, dieser habe ihnen ­anfangs geholfen, sich beim Geschlechtsverkehr stärker zu erregen, es habe aber im Lauf der Zeit ein gegenteiliger Effekt eingesetzt. Statt ihre Sinne zu benutzen, um im Bett die Zärtlichkeit mit der Partnerin zu genießen, mussten sie sich immer öfter vorstellen, sie seien Darsteller in einem Pornodrehbuch, um sich zu erregen.

Einige versuchten, ihre Partnerinnen auf sanfte Weise dazu zu bringen, sich wie Pornostars zu verhalten und wollten nicht mehr „Liebe machen“ sondern „ficken“. Ihre Fantasien wurden immer stärker von Szenarien beherrscht, die sie sich buchstäblich ins Gehirn heruntergeladen hatten, und diese neuen Drehbücher waren primitiver und aggressiver als ihre früheren Fantasien. Ich hatte den Eindruck, dass die sexuelle Kreativität dieser Männer abstarb und sie zunehmend süchtig nach Internetpornografie wurden.

Die Veränderungen, die ich beobachtete, beschränken sich nicht auf einige wenige Männer, die sich in Therapie befinden. Es handelt sich um ein gesellschaftliches Phänomen. Es ist zwar im Allgemeinen sehr schwer, Auskunft über das persönliche ­Sexualverhalten zu bekommen, doch mit der heutigen Pornografie ist dies anders, da diese in zunehmendem Maße öffentlich ist. Das zeigt sich schon darin, dass das Wort „Porno“ (statt „Pornografie“) in zunehmendem Maße Eingang in unseren täglichen Sprachgebrauch findet.

Wenn Pornografiehersteller damit prah­len, mit immer neuen, härteren Darstellungen gesellschaftliche Tabus zu brechen, dann verschweigen sie, dass sie dies tun müssen, weil ihre Kunden sich an die alten Bilder gewöhnt haben. Die Pornomagazine und Internetpornoseiten sind voll mit Anzeigen für Medikamente wie Viagra, die für ältere Männer mit altersbedingten Erektionsproblemen und Durchblutungsstörungen im Penis entwickelt wurden. Die jungen Männer, die heute durch die Internetpornografie surfen, haben große Angst vor Impotenz oder „erektiler Dysfunktion“, wie es beschönigend genannt wird. Dieser Begriff impliziert Penisprobleme bei diesen Männern, aber in Wirklichkeit ist das Problem im Kopf, genauer gesagt in ihrer sexuellen Gehirnkarte. Beim Konsum von Pornografie funktioniert der Penis nämlich hervorragend. Nur selten fällt ihnen auf, dass eine Beziehung zwischen ihrem Pornokonsum und ihrer Impotenz bestehen könnte. Bezeichnenderweise sagten einige der Männer über die Stunden, die sie mit Internetpornografie verbrachten, sie hätten „sich um den Verstand masturbiert“.

Dass Pornografie süchtig macht, ist keine bloße Redewendung. Sucht wird nicht nur durch Alkohol und Drogen ausgelöst. Menschen können ernsthaft spiel- oder sogar sportsüchtig sein. Suchtkranke verlieren die Kontrolle über eine bestimmte Aktivität, verfolgen sie trotz negativer Folgen zwanghaft, entwickeln eine Gewöhnung und ­benötigen zur Befriedigung immer höhere Dosierungen, und sie leiden unter Entzugserscheinungen, wenn sie der süchtigmachenden Tätigkeit nicht nachgehen können.

Jede Sucht hängt mit langfristigen, zum Teil lebenslangen plastischen Veränderungen im Gehirn zusammen. Für Suchtkranke ist Mäßigung unmöglich, sie müssen die Substanz oder Tätigkeit vollständig meiden, um ihr Suchtverhalten ablegen zu können. Die Vereinigung der Anonymen Alkoholiker betont immer wieder, dass es keine „ehemaligen Alkoholiker“ gibt – Menschen, die jahrzehntelang keinen Tropfen Alkohol angerührt haben, stellen sich in ihren Versammlungen so vor: „Ich heiße John, und ich bin Alkoholiker.“ Aus der Sicht der Neuroplastizität haben sie meist Recht.

Um festzustellen, wie groß der Suchtfaktor einer bestimmten Droge ist, lassen Wissenschaftler des National Institute of ­Health im US-Bundesstaat Maryland Ratten so lange auf eine Taste drücken, bis sie eine Dosis der Droge erhalten. Je hartnäckiger das Tier die Taste drückt, umso größer der Suchtfaktor. Kokain, ­andere illegale Drogen, aber auch Sport bewirken die Freisetzung größerer Mengen des Neurotransmitters Dopamin im Gehirn. Süchtigmachende Substanzen ­kapern unser Dopaminsystem und verschaffen uns Befriedigung, ohne dass wir etwas dafür tun müssten. Dopamin wird auch als „Belohnungstransmitter“ bezeich­net, denn immer wenn wir etwas ­errei­chen – wenn wir beispielsweise ein Rennen laufen und gewinnen –, setzt das Gehirn diesen Stoff frei. So erschöpft wir sein mögen, in diesem Moment fühlen wir einen Schub an Energie, freudiger ­Erregung und Zuversicht und laufen sogar noch eine Ehrenrunde. Die Verlierer ­dagegen, die keinen Dopaminstoß erhalten, brechen kraftlos hinter der Ziellinie zusammen und fühlen sich hundeelend.

Dopamin ist auch an der plastischen Veränderung des Gehirns beteiligt. Derselbe Dopaminstoß, der uns in freudige Erregung versetzt, sorgt auch für eine Verstärkung der neuronalen Verbindungen, mit deren Hilfe wir unser Ziel erreicht haben. Auch sexuelle Erregung setzt ­Dopamin frei und steigert damit bei Männern wie Frauen den Sexualtrieb, ­erleichtert den Orgasmus und aktiviert die Lustzentren des Gehirns. Daher rührt auch das Suchtpotenzial der Pornografie.

Eric Nestler von der University of Texas konnte nachweisen, dass Sucht in den ­Gehirnen von Tieren dauerhafte Veränderungen bewirkt. Bei vielen süchtigmachenden Drogen reicht schon eine einzige Dosis aus, um ein Protein namens ΔFosB freizusetzen, das sich in den Gehirnzellen anreichert. Mit jeder neuen Dosis nimmt die Menge an ΔFosB in den Nervenzellen zu, bis ein genetischer Schalter betätigt wird, der bestimmt, welche Gene ein- und ausgeschaltet werden. Die Aktivierung dieses Schalters führt zu Veränderungen, die noch nachwirken, wenn die Droge schon längst abgesetzt wurde, sie führt zu irreversiblen Schäden im Dopaminsystem des Gehirns und macht das Tier suchtanfälliger. Auch die Sucht nach Sport oder Zucker führt zu einer Anreicherung von ΔFosB und denselben dauerhaften Veränderungen des Dopaminsystems.

Pornoproduzenten versprechen gesunde Lust und die Erleichterung sexueller ­Anspan­nung, doch in Wirklichkeit erzeugt Pornografie oft Sucht, Gewöhnung und einen Verlust an Lust. Paradoxerweise empfanden meine männlichen Patienten ein Verlangen nach Pornografie, obwohl sie gar keinen Gefallen daran hatten.

Nach einer verbreiteten Auffassung nehmen suchtkranke Menschen ihre Droge, weil diese ihnen einen Lustgewinn verschafft und sie die schmerzhaften ­Entzugserscheinungen vermeiden wollen. Doch suchtkranke Menschen nehmen ihre Drogen auch dann, wenn keinerlei Aussicht auf Lustgewinn besteht, wenn die Dosis nicht für ein High ausreicht und wenn sie noch keine Entzugserscheinungen verspüren. Nach etwas zu verlangen und es zu mögen sind zweierlei Dinge.

Ein Suchtkranker verspürt ein Verlangen, weil sein plastisches Gehirn für eine Droge oder Erfahrung sensibilisiert wurde. Mit zunehmender Gewöhnung benötigt er immer größere Mengen an Drogen oder Pornografie, um Befriedigung zu verspüren, und mit zunehmender Sensibilisierung ­benötigt er immer weniger der Substanz, um ein intensives Verlangen nach ihr zu verspüren. So bewirkt Sensibilisierung ein zunehmendes Verlangen, aber nicht unbedingt größere Befriedigung. Und diese Sensibilisierung wird bewirkt durch die süchtigmachende Substanz oder Tätigkeit und die Anreicherung von ΔFosB.

Pornografie erregt mehr als sie befriedigt, da Erregung und Befriedigung von zwei unabhängigen Lustsystemen im Gehirn gesteuert werden. Das Erregungssystem hat mit der Vorfreude zu tun, die wir empfinden, wenn wir uns etwas vorstellen, das wir uns wünschen, wie etwa Sex oder ein leckeres Essen. Neurochemisch steht es vor allem mit Dopamin in Zusammenhang, das ­unsere innere Spannung steigert.

Das Befriedigungssystem wird aktiv, wenn wir tatsächlich Geschlechtsverkehr haben oder ein leckeres Essen zu uns nehmen. Neurochemisch steht es vor allem mit Endorphinen in Zusammenhang, die ein Gefühl der friedlichen, euphorischen Freude vermitteln.

Mit ihrem endlosen Harem an Sexualobjekten bewirkt die Pornografie eine Überregung des Erregungssystems. Pornografiekonsumenten entwickeln neue Gehirnkarten, die auf den Bildern und Videos basieren. Da unser Gehirn jeden Platz, der nicht verwendet wird, anderweitig vergibt, wollen wir ein neues Areal auf der Karte natürlich benutzen. So wie unsere Muskeln nach Bewegung verlangen, wenn wir den ganzen Tag gesessen haben, so wollen auch unsere Sinne ­stimuliert werden.

Die Männer, die zu mir in Behandlung kamen, hatten beunruhigende Ähnlichkeit mit den Ratten im National Institute of ­Health, die so lange auf eine Taste drücken, bis sie ihre Droge bekommen. Ohne ihr Wissen waren sie zu pornografischen Trainingssitzungen verführt worden, die alle ­Bedingungen für die plastische Veränderung von Gehirnkarten erfüllten. Diese Männer hatten in massiven Übungseinheiten die neuen Bilder in den Lustzentren ihres Gehirns verschaltet und dazu die begeisterte Aufmerksamkeit mitgebracht, die zu einer neuroplastischen Veränderung erforderlich ist. Sie stellten sich diese Bilder vor, wenn sie nicht mehr am Computer saßen und sogar wenn sie mit ihren Partnerinnen schliefen, und verstärkten die Veränderungen so noch. Jedesmal, wenn sie sich sexuell erregt fühlten oder zum Orgasmus masturbierten, verstärkte ein Spritzer des Belohnungstransmitters Dopamin die Verbindungen, die ihr Gehirn in den Trainingseinheiten hergestellt hatte. Die Belohnung verstärkte das Verhalten, und gleichzeitig mussten sie beim Besuch der Internetseiten nicht die Peinlichkeit befürchten, die sie empfunden hätten, wenn sie ein Pornoheft im Laden gekauft hätten. Dieses Verhalten brachte keinerlei Strafen, nur Belohnungen mit sich.

Was sie als erregend empfanden, änderte sich mit den neuen Themen und ­Dreh­büchern, die ihnen das Internet präsentierte, ohne dass sie sich dessen bewusst wurden. Da Plastizität konkurrenzorientiert ist, vergrößerten sich die Gehirnkarten für die neuen Bilder auf Kosten dessen, was sie früher erregt hatte. Das war vermutlich auch der Grund, warum sie ihre Partnerinnen weniger anziehend fanden.

Norman Doidge forscht als Psychiater und Psychoanalytiker an der Columbia University in New York. Der Text ist ein Auszug aus „Neustart im Kopf“ [Campus-Verlag, 22 €].
Übersetzung Jürgen Neubauer.

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