New York: Die Sondereinheit

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Sie hätte schreien müssen, als er ihr die Pistole in den Rücken bohrte. Sich wehren, als er sie in den Aufzug stieß, hoch in die Dachetage, wo er sie in einem Abstellraum mehrfach vergewaltigte.

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14 lange Jahre, in denen der Täter unauffindbar blieb, hasste Natasha Alexenko das Mädchen aus dem Abstellraum. Sie gab ihr – sie gab sich selbst – die Schuld an dem, was in dieser Augustnacht im Obergeschoss ihres Wohnblocks in der West 95th Street, Upper West Side, Manhattan passiert war.

Der Hartnäckigkeit einer New Yorker Profi-Einheit verdankt es Natasha, dass sie heute nicht mehr aufwacht und fürchtet, ihr Peiniger dringe in ihr Schlafzimmer ein und bedrohe sie mit dem Tod. Die Sex Crimes Unit und ihre Chefin, Staatsanwältin Lisa Friel, brachten den Täter 2008 ins Gefängnis. Ein einzigartiges Expertenteam für Sexualdelikte, wie man es in Deutschland nicht kennt. Es wird eingeschaltet, sobald ein Opfer den Notruf wählt. Selbst um drei Uhr nachts.

Der New Yorker Staatsanwalt Cyrus Vance beauftragte die 54 Mitarbeiter starke Einheit am Montag mit einem heiklen Fall: den Ermittlungen gegen Dominique Strauss-Kahn, Chef des Internationalen Währungsfonds, der von einem Zimmermädchen angezeigt worden war.

Seitdem arbeitet die Truppe unter der Leitung Friels im Verborgenen, um Beweise gegen Strauss-Kahn zu sichern. Obwohl Reporter aus aller Welt versuchen, einen Blick auf die Ermittler und erst recht auf das Opfer zu erhaschen, hat es die Sex Crimes Unit bislang geschafft, das Opfer komplett abzuschotten.

Lisa F. Jackson, der mehrfach preisgekrönten Dokumentarfilmerin, gewährte die Unit vor Kurzem einen intimen Einblick in ihre Arbeitsmethoden. Zwei Jahre lang dokumentierte die 59-Jährige die Ermittlungen des außergewöhnlichen Teams. Die Regisseurin ist überzeugt: „Sie finden alle Indizien. Wenn Strauss-Kahn schuldig ist, hat er keine Chance.“ Jackson stellte Focus den Film vorab exklu­siv zur Verfügung. Premiere feiert die Doku erst am 20. Juni.

Jackson zeigt die Nahaufnahme eines Extremjobs. Die Ermittlerinnen zahlen einen hohen Preis. Für ein Privatleben bleibt ihnen kaum Zeit. Jeden Tag beschäftigt sich die Einheit mit 300 Fällen. Die ­Bürozeit beginnt um acht Uhr, Ende offen. „Für Geld allein würde ich diesen Job nicht machen“, bekräftigt Coleen Balbert, stellvertretende Leiterin der Einheit. Ihr wichtigster Antrieb ist der unbedingte Wunsch nach Gerechtigkeit.
Oft rücken die Ermittlerinnen mitten in der Nacht aus. Nach der Tat gilt es, die wichtigsten Beweise zu sichern: die Täterspuren am Körper des Opfers. Entscheidende Indizien, die am Ende für Verurteilung oder Freilassung ausschlaggebend sein können.

Natasha wollte eigentlich nichts mehr. Nur noch heiß duschen. „Doch mein Körper war ein Tatort.“ Noch im Krankenhaus sicherten die Experten für Sexualdelikte an ihr DNA-Proben des Täters. Erinnern konnte sich die 19-jährige Studentin an den Angreifer nicht. Die Todes­angst während der Tat war zu überwältigend. Auch Zeugen gab es keine.

Die Sex Crimes Unit gehört zur Special Victims Unit der Polizei, die durch die Krimiserie „Law & Order“ weltberühmt wurde. Die Staatsanwältinnen betreuen die Opfer von der Anzeige bei der Polizei bis zur Gerichtsverhandlung. Das erspart den traumatisierten Frauen, die intimen Details der Tat immer wieder einem ande­ren Ermittler erzählen zu müssen.

Die Agents der Sex Crimes Unit sind psychologisch geschult. Und sie suchen nur Beweise, die den Täter belasten. „Wir glauben der Frau“, schärft Friel ihren Mitarbeitern in Jacksons Film ein, „was sie erzählt, ist für uns Tatsache.“ Selbst ­relativierende Ausdrücke wie „angeblich“ oder „Sie behaupten“ sind während einer Opferbefragung verboten. Jede Verunsicherung des Opfers gilt als fallschädigend.

Coleen Balbert greift zum Hörer und wählt die Nummer einer Klientin. „Es ist super gelaufen, er ist schuldig, er kriegt zwölf Jahre.“ Die Frau am anderen Ende der ­Leitung schluchzt. „Du warst so stark, du hast ihn drangekriegt“, muntert die ­Staats­anwältin ihre Gesprächspartnerin auf.

Die Frau, eine Prostituierte, war 2006 von einem Kunden vergewaltigt worden. Niemand glaubte ihr. Der Täter bestritt einfach, dass der Sex nicht einvernehmlich gewesen sei. Balbert verwickelte den Täter so sehr in Widersprüche, dass ihm am Schluss nichts anderes mehr übrig blieb, als die Wahrheit zu sagen: dass er der Frau eine Waffe an den Kopf gehalten hat. Ein Täter in der Rhetorikfalle.

Als Linda Fairstein die Spezialgruppe 1976 übernahm, mussten sie und ihre Mitarbeiter ihre Arbeitsmethoden erst entwickeln. Die amerikanische Gesetz­gebung sei damals so „archaisch“ gewesen, berichtet die Pionierin, dass die Mehrzahl der Vergewaltigungsfälle nie vor Gericht gekommen seien. Um die 1000 Taten wurden angezeigt, aber nur 18 Täter verurteilt. Den Grund erläutert Fairstein vor Jacksons Kamera: „Die Zeugenaussage einer Frau allein reichte nicht aus.“

Fast 40 Jahre und viele Rechtsänderungen zu Gunsten der Opfer später wandern viel mehr Täter hinter Gitter. Als problematisch empfindet Fairsteins Nachfolgerin Friel, wie unsensibel manchmal noch immer mit missbrauchten Frauen verfahren wird, und erzählt ihr Lieblingsbeispiel: Ein Mädchen erklärt einem Polizisten, es sei vergewaltigt worden, könne sich aber an nichts mehr erinnern. Und der Polizist fragt: „Wenn du schon nicht mehr weißt, was passiert ist, wie soll ich es dann herausfinden?“ Ein solches Verhalten sei skandalös, ärgert sich Friel.

Manchmal haben die Ermittlerinnen einfach Glück. Ein Überwachungsvideo dokumentierte den Übergriff auf eine junge Frau in einem Manhattaner Club. Friel und ihre Kollegin, Staatsanwältin Martha Bashford, konnten genau verfolgen, wie ein 39-jähriger Arbeiter die völlig ­betrunkene 23-Jährige die Treppe hinunter aus dem Club schleppt. Die Staatsanwältinnen sehen fassungslos, dass niemand den Täter stoppt: weder die Partygäste noch die Sicherheitsleute. In seinem Apartment in Queens wird der Täter sein Opfer mehrfach vergewaltigen. Ohne das Video würde der jungen Frau niemand glauben, so Friel. Sie habe das schon so oft gehört: „Der Typ sieht gut aus, er hat eine Freundin, er kann Sex haben, wann er will. Der braucht niemanden zu vergewaltigen.“

„Guten Mädchen“ passiert das nicht, laute noch immer die Mehrheitsmeinung, kritisiert Friel. Die Frauen würden zu dem Gedanken getrieben, irgendwas sei an ihnen, dass sie zum Opfer macht.

„Oft wünschte ich mir, er hätte mich einfach erschossen.“ Auch Natasha gab sich die Schuld während all der Zeit, in der die Unit ihren Peiniger suchte.

Jahrelang gaben die Ermittlerinnen in dem Fall alles. Mehrfach durchforsteten Bashford und Mourges die DNA-Datenbanken. Nichts. 14 Jahre später, am 6. August 2007, ein Treffer in der DNA-Datenbank – und endlich ein Name: Victor Rondon. Der 41-Jährige hatte mehrere Jahre wegen illegalen Waffenbesitzes und Drogenhandels im Gefängnis gesessen und war deshalb nicht in der DNA-Datenbank aufgetaucht. Erst als er freikam und gegen seine Bewährungsauflage verstieß, nahm man seine DNA-Probe.

Nie werde sie den Moment vergessen, als sie ihrem Vergewaltiger das erste Mal ins Gesicht sehen konnte, erzählt Natasha. „Es traf mich wie ein Schlag, ich erkannte ihn sofort.“ Sie habe am ganzen Körper zu zittern begonnen und den Gerichtssaal verlassen müssen.

Am 15. März 2008 bringt die junge Frau den Täter mit ihrer Aussage endgültig hinter Gitter. Nach dem Urteil sei sie „so erleichtert und dankbar“ gewesen, berichtet Natasha heute. Ihre Stimme klingt belegt.
Nicht nur das Urteil, sondern auch das Gefühl, die Kriminalerinnen bei der Klärung des eigenen Falls begleitet zu haben, empfand sie als heilend, sagt Natasha. Staatsanwältin Melissa Mourges, die ihren Fall betreute, weiß: „Das gibt den Frauen das Gefühl, sich selbst die Kraft zurückzuholen, die ihnen ihr Peiniger genommen hat.“

Natasha hat sich versöhnt mit dem Mädchen aus dem Abstellraum. Sie macht ihm keine Vorwürfe mehr. Sie würde jetzt nur noch gern durch die Zeit reisen und ihr sagen: „Alles wird gut werden.“

©Focus Verlag und Redaktion

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