Unethische Ethikkommissionen

Foto: Walter Schels
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Es ist Sommer 2014. Die Sonne scheint in mein Büro, als ich einen dicken, an den Knickstellen zerschlissenen DIN A4-Umschlag mit der oberbayerischen Landesregierung als Absenderin von meinem Schreibtisch nehme und in meinen Rucksack schiebe. Der Umschlag enthält die Unterlagen für meine erste Sitzung als Mitglied in den Kommissionen, welche die zuständigen Behörden bei der Beurteilung von Tierversuchsvorhaben nach § 15 des deutschen Tierschutzgesetzes (TierSchG) unterstützen.

In Deutschland müssen alle, die für Tierversuche töten müssen, folgende Kenntnisse vorweisen: „Ethik in Bezug auf die Beziehung zwischen Mensch und Tier, intrinsischer Wert des Lebens“. Alle, die Tierversuche planen und durchführen, müssen darüber hinaus „Argumente für und gegen die Verwendung von Tieren zu wissen schaftlichen Zwecken“ kennen. Ich bin gespannt auf die Gespräche mit diesen Menschen.

Vor ein paar Wochen bin ich vereidigt worden; mir wurde ein Verschwiegenheitsgelübde abgenommen und auch erklärt, dass diese Kommissionen keine „Tierethikkommissionen“ seien. In der Tierschutz Versuchstierverordnung (TierSchVersV § 42) werden sie tatsächlich nur „Tierversuchskommissionen“ genannt. Das mag erklären, warum ich in der Liste der Mitglieder aller Kommissionen nur einen einzigen Namen eines philosophischen Kollegen gefunden habe. Und das war die erste Erschütterung des Gefühls, dass ich in einem Kontext, in dem es für Tiere wirklich um etwas geht – nämlich mindestens um Schmerzen oder Ängste und ihr Leben –, aus tierethischer Perspektive etwas bewirken könnte.

Dieses Gefühl hatte ich aber, als ich von der Hochschulleitung der Landesregierung für diese Aufgabe vorgeschlagen worden bin. Immerhin arbeite ich in der Tradition des philosophischen Pragmatismus, die als wissenschaftsfreundlich und praxiszugewandt gelten kann. Also muss man sich auch in eine solche Praxis hineindenken und prüfen, ob die ethischen Argumente dort etwas bewirken können.

Was das Hineindenken betrifft, so habe ich zu Beginn eifrig bei der Behörde nachgefragt, was ich denn wissen oder lesen müsste, um gut vorbereitet zu sein. Die knappe Antwort hat mich überrascht: Ich „könne“ mir das TierSchG und die TierSch Vers V durchlesen. Bis zum heutigen Tag ist übrigens nicht verbindlich geklärt, welche Voraussetzungen genau man für die Kommissionsarbeit mitbringen muss. Das hatte mir die Behörde damals aber nicht so gesagt.

Der dicke Brief mit den naturwissenschaftlichen Anträgen passt nicht ganz in meinen Rucksack. Ich schnaufe und lasse die Arme fallen. Ich habe das Wochenende durchgearbeitet und unter anderem einiges über Lebertumore erfahren, über Vorstellungen dazu, wie man Angstlernen in Mäusen modellieren könnte, über bildgebende Verfahren und verschiedenste Tötungsmethoden.

Mir ist manchmal schwindelig, manchmal kalt und manchmal schlecht geworden, wenn ich versucht habe zu verstehen, warum man manche Tiere vergasen und anderen das Genick brechen muss; wenn ich versucht habe, mir die Abbruchkriterien richtig vorzustellen, das struppige Fell oder wie der Tumor andere Organe zu quetschen beginnt; wenn ich versucht habe, das Video zum erzwungenen Schwimmtest zu ertragen oder auch überhaupt nur die Tiere hinter ihren Modellnamen und ihr Leid hinter den klinischen Begriffen zu erkennen.

Viele Fragezeichen haben sich ergeben, aber in die Anträge etwas hineinzuschreiben habe ich mich nicht getraut. An ethischer Information oder an Informationen, die auch nur irgendwie in die Richtung ethischer Argumentation gingen, war gar nichts enthalten. Da stand immer nur sinngemäß: Weil das Versuchsziel wichtig ist und es keine Alternativen gibt, ist der Tierversuch ethisch gerechtfertigt.

Ich muss den dicken Brief biegen, um ihn in meinen Rucksack zu bekommen, habe aber darauf geachtet, dass alle Anträge wieder in ihren Plastikhüllen stecken und in der richtigen Reihenfolge sortiert sind. Passt – fast: Da war noch etwas. Wie verstehen die hier eigentlich „Ethik“? Ich beschließe, in der ersten Sitzung nur zu beobachten. Ich muss los.

Die Sitzung findet in den Regierungsräumen in der Maximilianstraße in München statt. Ich bin die Jüngste; man begrüßt sich per Handschlag. Es gibt Wasser, Saft und Kaffee, so viel man will, „ad libitum“ würde das in einem Antrag heißen, aber bei Menschen sagt man das natürlich nicht so. Man ist professionell. Man guckt mich interessiert an. Ich sage nicht viel.

Der Vorsitzende stellt den ersten Antrag vor. Das geht sehr schnell. Ich staune. Fragliche Punkte werden suggestiv in den Raum gesprochen, als seien sie schon geklärt. Ich höre kurz Zweifel. Lachen. Überhaupt wird doch viel gelacht. Ich staune weiter, versuche diesen Balanceakt des Gemüts: zwischen Anspannung im Angesicht des prospektiven Todes Tausender belasteter Tiere und gelöster Kollegialität. Schon sind wir bei der Abstimmung. Trotz einiger Diskussionen sind alle für den Antrag. Aus mir platzt Opposition heraus oder vielleicht einfach nur so etwas wie der Wunsch innezuhalten. Einen Moment. Dann sage ich etwas, das mich als eine Bewegte identifiziert. Man nickt verständnisvoll. Ich versuche etwas aus genuin ethischer Perspektive zu sagen. Jemand anderes wird seinerseits bewegt und verteidigt sich, dass er immerhin auch „eine Moral“ habe. Das war mir klar, sage ich, aber man könne das ja vielleicht etwas systematisieren. Ich habe den Eindruck, darüber haben wir hier noch gar nicht gesprochen.

Wir können aber auch gar nicht darüber sprechen, denn es fehlt das ethische Vokabular. Ich bezweifle daher einfach die Vorstellung, dass eine im Labor induzierte Angst einer Maus dabei helfen kann, die mannigfaltigen Ängste des Menschen zu verstehen und auch noch zu beheben. Das funktioniere schon, werde ich belehrt. Depression zum Beispiel sei so schon geheilt. Ach?

Offenbar gibt es auch eine mehr oder weniger klare Rollenverteilung. Ich bin hier wohl diejenige, die gegen Tierversuche ist, oder wie war das? Ich fühle mich in die Rolle derjenigen gedrängt, die nichts wirklich weiß, die von Moral quasselt, also von etwas, bei dem doch jedem das Bauchgefühl reicht, und die die Bedeutung von Forschung geringschätzt. Den Stolz auf die Wissenschaften im Vergleich zur Nutztierhaltung trägt man ostentativ vor sich her. Überlegen Sie mal, wie gut es so ein Versuchsschwein im Vergleich zu dem in der Mast hat.

Ist doch so: In einer Gesellschaft, in der 200mal so viele Tiere gegessen und unter qualvollen Bedingungen und mit weitgehender moralischer Skrupellosigkeit gehalten werden, kann man gegen Tierversuche, für die jedes einzelne Tier genehmigt werden muss, nichts sagen. Wieder Lachen. Ist doch so. Klar.

Apropos Schweine: Ein anderes Mal ist plötzlich der Statistiker gegen einen Versuch an Schweinen; er kann es nicht erklären, bei Schweinen sei das einfach was anderes. Er verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln. Nennen wir das Mitleid oder nicht weiter begründbare Zimperlichkeit? Wir beschließen, den Antragsteller für das nächste Mal persönlich in die Sitzung einzuladen. Ich will fragen, ob er unbedingt ein Dutzend Schweine zur Erforschung einer seltenen Schilddrüsenerkrankung sterben lassen muss oder ob er das, was er da vorhat, nicht mit menschlichen Probanden machen kann. (Nachtrag: Er kann. Könnte. Aber guckt sehr erstaunt. Und tut es nicht, denn der Antrag wird trotzdem bewilligt.)

Mein Staunen ist irgendwann in Zweifeln übergegangen. Was verbirgt sich eigentlich dahinter, wenn jemand ohne Scham aus dem Nähkästchen von Xenotransplantationen (also der Verpflanzungen von tierischen Geweben und Organen auf Primaten) und anderem plaudert und sich dabei seiner Sache verdächtig gewiss ist, ja, im Reden immer gewisser wird? So gewiss ist man in der Philosophie schon lange nicht mehr gewesen. Da wird, je länger man redet, desto mehr ungewiss. Hier nicht.

Wenn diese Kommission eben nicht dafür bekannt ist, alles durchzuwinken – wie muss man sich das dann andernorts vorstellen? Wo wird überhaupt wirklich ethisch ins Detail gegangen?

Was ist mit vermeidbaren Krankheiten und Missständen, bei Menschen (man denke an Burn out) und anderen Tieren (man denke an Nutztierhaltung) – wieso sollten dafür weitere Tiere leiden und sterben? Was ist mit First World Problemen (etwa Kinderwunschmedizin) – gibt es nicht Wichtigeres?

Wer soll das eigentlich alles wissenschaftlich prüfen können, mit welcher Expertise? Und wird hier nicht eher das, was die Wissenschaft selbst leisten soll („gute“ Anträge schreiben), durch die Verbesserungsvorschläge und Auflagen der Kommissionen erst vollendet? Hat eigentlich einmal jemand nachgeprüft, ob all das, was in den Tier versuchen erreicht werden sollte, wirklich eingetreten ist?

Mir erscheint die ethische Debatte über Tierversuche auf sonderbare Weise von der Praxis entkoppelt. Diese Debatte wurde von der modernen Tierethik mitgeprägt, und das Thema ist seit jeher stark emotional besetzt. Es gibt niemanden – keine Ethikerin, aber auch keine Wissenschaftlerin oder Fachgesellschaft –, der oder die eine prinzipielle moralische Sorglosigkeit im Umgang mit Tieren an den Tag legen würde.

Tatsächlich dominieren Diskussionen über Güterabwägungen und vorgebliche Dilemmata einerseits und Forderungen nach der kompletten Abschaffung von Tierversuchen andererseits. Die wissenschaftliche Praxis hingegen wird dominiert von dem Prinzip der 3R, bei dem es um den Ersatz von Tieren (replacement), die Reduktion von Tierzahlen (reduction) und die Verfeinerung von Versuchsmethoden (refinement) geht. Für die genuin ethischen Fragen hatten wir in der Kommissionsarbeit keine Zeit.

Vier Jahre später: Die Sonne scheint erneut in mein Münchner Büro und ich bereite zusammen mit zwei Kolleginnen aus Veterinärmedizin und Kognitionswissenschaft einen Workshop zum Thema Tierversuche vor. Es soll auch darum gehen, wie der (gesetzlich übrigens angestrebte) Paradigmenwechsel, völlig auf Tierversuche zu verzichten, umgesetzt werden kann.

Ich bin mittlerweile zu der Ansicht gekommen, dass man lange noch nicht über Ethik sprechen muss, um Tierversuche problematisch zu finden. Allein aus wissenschaftlicher Perspektive kommen da viele Zweifel auf. Ich habe die Hoffnung, dass der Workshop eine sehr gute Veranstaltung wird, weil wir kompetente Leute im Programm haben und sich überwiegend VeterinärmedizinerInnen, ForscherInnen usw. angemeldet haben.

Selbstverständlich sind „wir“ (vom Tierschutz? für die Tiere? Zweifelnden?) für gute Wissenschaft. Selbstverständlich sind „die“ (vom Tierverbrauch? gegen die Tiere? Überzeugten?) für Ethik. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Großbegriffen ist aber denkbar schlecht bestimmt und so muss man, so denke ich, lange und detailliert miteinander über spezifische Probleme reden und darf sich nicht in Gemeinplätzen und wohlfeilen Slogans verlieren.

Ein Grund, weshalb bei dem Workshop nicht alle Zweifel geklärt werden konnten, liegt darin, dass ich das Politische an der Debatte vergessen hatte, die Wissenschaftspolitik, um genauer zu sein.

Es gibt eine ganze Reihe von „Charmeoffensiven“ der Wissenschaft, welche die breitere Bevölkerung und dabei auch und besonders junge Leute früh „für das System“ gewinnen möchten. Dabei sind viele Menschen, die (noch) Tierversuche durchführen müssen, meinem Eindruck nach vielfach nicht so dogmatisch.

Und doch erfahren viele engagierte, selbstlose KollegInnen, die das mit den Tieren, mit der Wissenschaft und mit dem gesetzlichen Auftrag der Überwachung und ja, auch der Abschaffung von Tierversuchen ernst nehmen, vielfach Abwertung.

In einem derart politisierten System muss man sich, so denke ich, ethisch nicht viel vormachen. Es gehört kein Politikstudium dazu zu erkennen, dass es auch eine politische Frage ist, welche Veranstaltungen mit welchen Inhalten für wen zugänglich gemacht werden. Hier besteht grundsätzlich die Gefahr, dass nur gehört wird, was gehört werden soll.

Vor allem aber werden mit einer solchen Bequemlichkeit Probleme tangiert, die tiefer liegen als die einer irgendwie „angewandten“ Ethik. So zum Beispiel auch das Problem, was es heißt, im Umgang mit Tieren wirklich Mensch und menschlich zu sein – und was sich gemeinschaftlich dafür tun lässt.

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