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Prima Facie - Die Opfer im Blick

Katharina Schüttler spielte das Eine-Frau-Stück "Prima Facie" in Hamburg. - Foto: Anatol Kotte
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Was für ein Durchmarsch. 2019 hatte am Griffin Theatre in Sydney ein Eine-Frau-Stück mit einem seltsamen Titel Premiere: „Prima facie“. Geschrieben hatte es Suzie Miller, eine ehemalige Strafverteidigerin. In einer zweiten Ausbildung hatte sie Dramaturgie studiert. Das Stück schlug ein wie eine Bombe.

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Von Sydney wanderte „Prima facie“ 2022 nach London, wo es die Schauspielerin Jodie Comer („Killing Eve“) so fulminant vortrug, dass sie einen Tony (den Theater-Oscar) dafür gewann. Eine Aufzeichnung aus London wurde weltweit in den Kinos gezeigt. Sodann kam das Stück an den Broadway, und nun wird es aktuell an 16 (!) deutschsprachigen Theatern aufgeführt, darunter in Hamburg und Düsseldorf, wo Katharina Schüttler und Lou Strenger den aufwühlenden Monolog vortragen. Gerade ist „Prima facie“ auch als Roman erschienen, eine Verfilmung ist geplant. 

Die Strafverteidigerin gerät in die Mühlen eines täterfreundlichen Justizsystems

Suzie Miller hat mit ihrem Stück also ins Schwarze getroffen. Denn sie beschreibt eine dunkle Erfahrung, die viele Frauen machen: Ihre Protagonistin wird Opfer einer Vergewaltigung – und gerät in die Mühlen eines täterfreundlichen Justizsystems. 

„Prima facie“, das ist Latein und heißt „Auf den ersten Blick“ oder „dem Anschein nach“. Im britischen Rechtssystem bedeutet das: Die Verteidigung muss die Zeugin schon im Vorfeld so unglaubwürdig machen, dass das Gericht die Anklage fallen lässt und es gar nicht erst zum Prozess kommt. Eine Frau namens Tessa Ensler ist im Stück Strafverteidigerin und Spezialistin darin, Zeuginnen so in die Mangel zu nehmen, dass die Anklage zusammenbricht. Nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil sie an das Gesetz glaubt: „Ein ordnungsgemäßes Verfahren ist alles.“ Die Frau kann den Tathergang nicht bis ins letzte Detail wiedergeben? Sie verwickelt sich in Widersprüche? Alles klar. Stück für Stück wird das Opfer von der Verteidigerin zerlegt – der Täter kommt frei. 

Lou Strenger am Schauspielhaus Düsseldorf als erschütterte Anwältin. - Foto: Sandra Then
Lou Strenger am Schauspielhaus Düsseldorf als erschütterte Anwältin. - Foto: Sandra Then

Strafverteidigerin Ensler ist bewusst, dass sie darin als Frau noch besser ist als ihre männlichen Kollegen – sie kommt harmloser daher. Und so behauptet sich Tessa Ensler nicht nur als Frau in einer Männerwelt, sondern auch als Working Class Girl aus Luton in der Upper Class Welt von London. 

Doch dann passiert es ihr selbst. Ein Kollege, mit dem sie eine Affäre beginnt, vergewaltigt sie, nachdem sie sich nach einem Rausch erbrochen hat. Was zuvor noch einvernehmlich war, wird jetzt zur Vergewaltigung. „Ich drücke ihn energisch weg, aber er legt mir die Hand aufs Gesicht, über den Mund. Über die Nase. Er ist irgendwo anders, ich bin gar nicht da. Ich befinde mich jenseits meines Körpers. Spüre meinen Körper in sich zusammensacken, sich fügen, erstarren.“ 

Tessa Ensler begreift: Sie hat keine Chance. Doch sie bäumt sich auf gegen das System.

Die Juristin, die eigentlich weiß, wie sie sich danach verhalten müsste, macht Fehler. Sie duscht, sie räumt auf, zerstört damit Beweise. Und vor Gericht passiert ihr genau das, was sie selbst als Verteidigerin vielfach durchexerziert hat: Wie kann es sein, dass er ihr die Arme festgehalten hat, wenn seine Hand doch gleichzeitig auf ihrem Gesicht war? Will sie ihm eine Vergewaltigung anhängen, weil sie einen unliebsamen Konkurrenten beseitigen wollte? 

Tessa Ensler begreift. Sie hat keine Chance. Doch sie bäumt sich auf zu einer Anklage gegen das System, dessen Teil sie selbst war – und dem sie von nun an den Kampf ansagt. Ganz wie ihre Schöpferin Suzie Miller, die schon während ihres Jurastudiums begriffen hatte, dass es „nahezu unmöglich ist, ein Verfahren wegen sexueller Nötigung zu führen und zu beginnen“. 

„Durch meine eigene Erfahrung sehe ich jetzt, dass wir im Umgang mit sexualisierter Gewalt auf dem falschen Weg sind“, lässt Miller ihre Protagonistin am Ende sagen. „Statt die Prämissen des Gesetzes zu hinterfragen, hinterfragen wir weiterhin die Opfer.“ Sie weiß jetzt: „Irgendwann. Irgendwie. Irgendwo. Irgendwas muss sich ändern.“ 

Suzie Miller: Prima facie, Ü: Katharina Martl (Kjona Verlag)
Prima Facie im Düsseldorfer Schauspielhaus (Termine 30.3./21.4./5.5.)

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