Reina Becker: Die Gerechte

Reina Becker mit ihren beiden Töchtern. - Foto: Thomas Grothmann
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Es war an einem Abend im Jahr 2009, als Reina Becker in ihrem Büro über ihrer Steuererklärung saß und dachte, sie hätte sich verrechnet. Der Betrag, den ihr Computerprogramm als zu zahlende Einkommensteuer ausspuckte, konnte einfach nicht stimmen. 22.300 Euro sollte sie zahlen – also 7.300 Euro mehr als bisher. Und das konnte doch einfach nicht sein, denn zwei Jahre zuvor war ihr 29 Jahre älterer Mann Carl nach zwei Schlaganfällen an einer Lungenentzündung gestorben. Seither versorgte Reina Becker die zwei gemeinsamen Töchter Lara und Helen (Foto), damals acht und 13 Jahre alt, allein. Und trotzdem sollte sie nun bei geringerem Gewinn mehr Steuern zahlen als vorher? Ja, sie sollte!

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Schuld daran ist das Ehegattensplitting. Denn das sieht vor, dass Eheleute ihre Einkommen gemeinsam versteuern können: Verdient also der eine Ehepartner (meist der Mann) zum Beispiel 6.000 Euro und der andere (meist die Frau) nichts, wird so besteuert, als würden beide 3.000 Euro verdienen. Im Falle der Familie Becker war es so, dass Reina Becker als Steuerberaterin gut verdiente und ihr Mann eine vergleichsweise kleine Pension bezog. Nach dem Tod des Mannes fiel nun der Splittingvorteil weg.

Natürlich wusste Steuerberaterin Becker, dass es so kommen würde. „Aber ich muss zugeben: Die Größenordnung war mir nicht bewusst.“ Sie beschließt zu klagen. Und ihr ist klar: Wenn sie diese Klage gewinnt, wäre nicht nur ihr Steuerbescheid 2008 Makulatur, sondern das gesamte Ehegattensplitting.

„Das Ehegattensplitting stammt aus dem Jahr 1958, also aus Zeiten, in denen Ehefrauen noch nicht mal ein eigenes Konto haben durften“, schimpft sie am runden EMMA-Konferenztisch und nimmt gern noch einen zweiten Kaffee. Es ist Montagmorgen und Becker ist am Abend zuvor aus dem niedersächsischen Westerstede nach Köln angereist, zum Finanzgerichtstag. Dort schlagen sie auf, die Richter, die in den nächsten Wochen beim Bundesfinanzhof über ihre Klage entscheiden werden. Mit einem von ihnen hat Reina Becker bis spät in den Abend diskutiert. Sehr optimistisch hat sie das nicht gestimmt. „Da entscheiden Männer aus einer Generation, die Splitting-Profiteure sind.“

Diese Erfahrung hat Klägerin Becker auch schon in der ersten Instanz vor dem niedersächsischen Finanzgericht in Hannover gemacht: Vier Richter und eine Richterin wiesen ihre Klage ab. In der Begründung finden sich Sätze, die man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Die Alleinerziehende hatte unter anderem argumentiert, dass sie im Vergleich zu einem Alleinverdiener, dem seine Hausfrau den Rücken freihält, durch die Doppelbelastung weniger Zeit zum Geldverdienen habe. Das Gericht entgegnete: Dieser Nachteil werde dadurch ausgeglichen, dass „das in der nicht zur Verfügung stehenden Zeit nicht erzielte Einkommen nicht besteuert wird.“

Reina Becker gerät darüber immer noch in Rage. „Die haben mir doch tatsächlich erklärt, dass es furchtbar nett vom Staat ist, dass er Geld, das ich nicht verdiene, nicht besteuert!“

Ums Geld geht es Reina Becker schon lange nicht mehr. Die 53-Jährige verdient inzwischen jährlich sechsstellige Summen. Und das ist ein Glück für diese Klage, die bahnbrechend für Millionen Frauen werden könnte. Denn dass Alleinerziehende im Steuersystem so gebeutelt sind, liegt auch daran, dass die meisten von ihnen weder das Geld noch die Kraft haben, neben ihrem Alltagskampf noch weitere Kämpfe zu führen. Reina Becker hat 30 000 Euro in Anwaltskosten und Gutachten investiert. Es geht ihr um Gerechtigkeit. 33 Milliarden steckt Vater Staat pro Jahr in die Subventionierung der Hausfrauenehe, 43 Prozent des Geldes landen bei kinderlosen Paaren.

Und, sagt Reina Becker, zu 93 Prozent in den alten Bundesländern mit ihrer alten Rollenverteilung. Es geht ihr darum, dass das antiquierte Steuerrecht Frauen nicht länger in Abhängigkeit hält. Was diese Abhängigkeit bedeutet, hat sie bei ihrer Großmutter erlebt. „Wenn die ein neues Paar Schuhe brauchte, musste sie sich das Geld für den ersten Schuh vom Haushaltsgeld absparen, bevor sie von ihrem Mann das Geld für den zweiten Schuh bekam“, erzählt die Enkelin. Dabei war ausreichend Geld vorhanden, der Großvater war Oberkreisdirektor. Nach dem Tod ihres Mannes blühte die Witwe auf und übernahm die Buchführung bei einem Steuerberater, bis sie 75 war.

Auch Reina Beckers Mutter, Bankdirektorsgattin, emanzipierte sich spät: Sie nahm mit 50 das BWL-Studium wieder auf, das sie mit 20 wg. Schwangerschaft geschmissen hatte. Drei Kinder kamen in drei Jahren, das jüngste war Reina. „Ein ostfriesischer Name, der eigentlich Königin bedeutet.“ Die Jungen allerdings verstanden „Reiner“, und das war praktisch, denn das kernige Mädchen mit den kurzen Haaren fuhr gern Trecker und ging gut als Junge durch. Später wurde Reina/Reiner Schülersprecherin und spielte Basketball in der Zweiten Bundesliga.

Das alles klingt nach einer Frau mit genau der robusten Konstitution, die es braucht, um diesen Kampf gegen das Ehegattensplitting durchzustehen, gegen das Feministinnen seit Jahrzehnten protestieren, das aber keine deutsche Regierung jemals angetastet hat. „Manchmal halte ich mich selbst für bekloppt“, sagt Reina Becker und lacht. Bisweilen stellt sie sich vor, „wie wir verlieren und ich aus dem Gerichtssaal gehe, um mir die Urteilsbegründung gar nicht erst anhören zu müssen“. Dann will sie bis vor das Bundesverfassungsgericht und zur Not auch noch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. In guten Momenten stellt sich die Königin vor, sie würde gewinnen. „Dann schreiben wir Steuergeschichte!“ Sie überlegt einen Moment und fügt hinzu: „Und Frauengeschichte!“

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