Meine Tochter muss immer wachsam sein

Liedermacher Reinhard Mey mit seiner Tochter Victoria-Luise.
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Ich bin der Vater von drei Kindern, zwei Söhnen und einer Tochter. Niemals würde ich auf den Gedanken kommen, für die Jungen etwas anderes zu wünschen als für das Mädchen. Was muss passieren, dass man einem weiblichen Kind nicht dasselbe wünscht wie dem männlichen?

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Ich bin glücklich, dass ich eine Tochter habe! Mein Leben wäre so unglaublich ärmer ohne sie. Sie kann alles. Sie ist mutig und unerschrocken, und es gibt nichts, was ich ihr nicht ebenso zutrauen würde wie meinen Söhnen. Alle drei Kinder haben die gleichen Spielsachen geliebt, alle hatten ihre Autos und Puppen und Flugzeuge und Kuscheltiere. Alle drei Kinder fühlten sich frei und waren von klein auf selbstbewusst und selbstständig. Alle drei sind sehr früh auf Reisen gegangen, allein, überall hin, gern nach Asien, nur mit einem Rucksack.

Nun sorgt man sich ja immer um seine Kinder, auch wenn sie erwachsen sind. Aber wenn meine Tochter aufbricht, dann sorge ich mich auf eine eigene Weise natürlich viel mehr um ihr Wohlergehen: Wenn sie sich beherzt andern Backpackern anschließt, sich mit jungen Weggefährten befreundet und sich entschließt, ganze Wegstrecken allein mit ihnen zurückzulegen, in leeren Wartesälen, in Bahnhöfen, auf Fähren zu übernachten.

Meine Tochter ist mit allen Wassern gewaschen, aber wir mussten sie lehren, immer wachsam zu sein, immer ihre Antennen auszufahren, ihr Zimmer immer gut abzuschließen. Sie muss ja ganz anders auf ihre Umgebung achten, immer und überall auf der Hut sein. Weil sie eine Frau ist und nur darum ganz anderen Gefahren ausgesetzt ist. Junge Frauen, die allein unterwegs sind, oder auch zu Hause, in ihrer Straße, ihrem Kiez, ja in ihrer häuslichen Umgebung, müssen immer damit rechnen, sich wehren zu müssen. Es gibt Männer, die eine ablehnende Haltung nicht akzeptieren, die sexistische Bemerkungen machen und auch unaufgefordert zufassen. Frauen müssen sehr mutig, tapfer und dabei so unnachgiebig wie diplomatisch sein.

Sie ist einfach immer da, diese Missachtung eines „Nein“, diese schreiende Ungerechtigkeit der freien Entfaltung, diese Benachteiligung in Schule und Beruf.

Da ist diese sträfliche Torheit, mit der wir ein riesiges Potential zukünftiger Nobelpreisträgerinnen, Dichterinnen, Erfinderinnen oder Pilotinnen von der Bildung ausschließen. All die Marie Curies, Katherine G. Johnsons, die Ayaan Hirsi Alis, deren wunderbare Talente wir ungenutzt verkümmern lassen. Ich sehe mit Kummer, wie Mädchen in der Dritten Welt der Zugang zu Lernen und Wissen verwehrt wird. Stattdessen werden sie als gehorsame Dienstmägde und stumme Bräute wie Haustiere gehalten. Mit Entsetzen lese ich, dass neun von zehn Menschen weltweit Vorbehalte gegen Frauen haben, und mit Wut, dass ein Viertel aller Männer UND Frauen denken, es sei gerechtfertigt, wenn Männer ihre Ehefrauen schlagen.

Mit Bewunderung sehe ich den mühseligen und so oft entmutigenden, aber unermüdlich immer wieder aufgenommenen Kampf gegen Vorurteile, Dummheit und Gleichgültigkeit, den meine Frau, meine Tochter und unsere Freundinnen tagein tagaus führen. Ich habe erlebt, welchen Ungerechtigkeiten sie ausgesetzt sind und welcher Übergriffe sie sich erwehren müssen. Als Sohn einer Mutter, Mann einer Frau und Vater einer Tochter ist ihr Kampf auch der meine.

Ich will für alle Mädchen und Frauen Zugang zu Bildung, Musik und Sport! Ich will, dass alle Mädchen mit offenen Augen und wehenden Haaren ihr Leben frei und vor allem gewaltfrei genießen können! Ich will, dass sie keine Bevormundung, keinen Zwang erleben müssen und bei jeder sie betreffenden Entscheidung im Leben um ihr Einverständnis gefragt werden! Dass sie gleichberechtigt sind, dass sie Titel und Vermögen erben können! Dass sie all das tun können, was Jungen auch tun! Ich wünsche mir, dass sich alle Eltern auf der Welt über die Geburt eines Kindes freuen – ganz gleich, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist.

Reinhard Mey

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