Reise durch Bolivien

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Wir werden in den Bauch – oder in die Gebärmutter – Boliviens geführt. Wir erleben ein Höhlen-„Höpperli“ (Originalzitat Max, übersetzt: „Quickie“) seitens der uns begleitenden Köchin und des Fahrers (immerhin ein Ehepaar). Wir durchqueren Flussbetten und haben Angst, das Ufer nicht zu erreichen …

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Wir frieren. Keine Heizung nirgends. Wir begegnen Schmugglern, Brücken, die im Nichts enden. Wir schlafen bei Minus 16 Grad in einem Salzhotel unter allen nur verfügbaren Kleidungsstücken. Wir wünschen uns, nie mehr aufstehen zu müssen. Wir sind erschöpft und sooo müde …

Wir haben Magenverstimmung und die Höhenkrankheit … aber zum Glück am Düsseldorfer Flughafen eine riesige Flasche Wodka gekauft – sie wird zum „Überlebens-Elixir“. Wir entdecken, dass die Inkas ­bereits vor vielen Hunderten von Jahren für die Kinder der herrschenden Inkafürsten feinste Strümpfchen ­stricken konnten – zu sehen im Museum in Sucre.

Wir stehen tief berührt vor der Würde der Grab- und Kultstätten der frühen Inkakultur. Wir erleben hervorragende Restaurants, man serviert uns riesige Fleischberge, die wir an unsere BegleiterInnen verfüttern. Wir erleben mutige junge Leute aller Nationalitäten, die sich für den Fortschritt des Landes engagieren. Wir fotografieren den Stuhl, auf dem Evo (Morales) eben noch der Neujahrs-Zeremonie zur Wintersonnenwende beigewohnt hat. Wir bewundern beeindruckende Kultstätten, uralte astronomische bis auf die Schalttage genaue Berechnungen.

Wir erleben die Wahlen, oppositionelle Demonstrationen und Gegen-Kundgebungen, die Problematik der Ureinwohner, der Aymaras, die Ober-, Mittel- und Unterschicht. Wir werden mit Fakten und Zahlen, Mythen und Legenden gefüttert. Wir staunen, wir sind schockiert, wir begegnen dieser uns fremden Kultur und ihrer mühsamen politischen Erneuerung.

Wir haben noch das schallende Gelächter der beiden Indiofrauen im Motorboot auf dem Titicaca See im Ohr, als sich die Europäerin mit Verve auf ihre teure Designer-Sonnenbrille setzt. Wir freuen uns, dass Lachen so einfach für internationale Verständigung sorgt, wertvoller als unsere stammelnden Brocken Spanisch. Mit gelbem ­Klebeband geflickt tut die Brille noch tausende von Kilometern ihren Dienst in erbarmungsloser Höhensonne.

Wir lernen Martin kennen, die physiognomische Reinkarnation eines Inkafürsten, der uns um vier Uhr Morgens am mystischen Zauber des Sonnenrituals bei Ankunft des neuen Inka-Jahres teilhaben lässt. Wir hören von Ferne die murmelnden spirituellen Gesänge der Schamanen.

Wir lernen, dass die Allerfrühesten der Hochkultur ihre Toten in gehäkelten Bast-Beuteln mit sich trugen und machen ein heimliches Foto im gut bewachten Museum von Tiahuanacu. Uns entgeht nicht, dass die uralten Grabstätten und die Backen der Fernfahrer mit beeindruckenden Mengen frischer Cocablätter versorgt werden, doch eigene Versuche, uns damit ein bisschen zu stimulieren, scheitern kläglich.

Wir hatten uns vorgenommen, unendlich kreativ zu sein und täglich ein gemeinsames Kunstwerk zu schaffen. Stattdessen sind wir so geschafft, dass wir Abends gerade noch ins Bett fallen. Wir werden von Max gegen die Höhenkrankheit mit Sorotchi-Pillen versorgt, und haben trotzdem noch Atemnot und nächtliche Panikattacken.

Wir erleben indigene Jugendliche, die sich nächtens in der Tradition des unglaublich schönen „Schellentanzes“ üben, bei denen die Mädchen kokett ihre vielen Lagen von kurzen Röckchen um den Popo schwingen. Wir fahren über den größten Salzsee der Erde, der von Astronauten mit bloßem Auge aus der Raumkapsel gesehen werden kann und sind erschlagen von so viel gleißender Schönheit. Wir bestaunen den von der Natur erschaffenen Skulpturenpark gigantischer, tausendjähriger Kakteen und archäologische Stätten. Wir trocknen aus wie Dörrpflaumen durch die salzige Luft und altern um Jahre wie in einer Zeitmaschine. Wir freuen uns, zurück in Uyuni, an den an jeder Ecke geheimnisvoll flackernden Johannis-Feuern und wärmen im Restaurant unsere eiskalten Knochen am offenen Kamin und heißer Pizza.

Wir werden am letzten Tag in Santa Cruz von Max mit dem Komfort eines Luxus-Hotels überrascht, für das wir ihm bis heute die Füße küssen möchten. Der kalte Swimmingpool im Garten für unsere klammen Muskeln ist hochwillkommen, uns kann keine Kälte mehr schrecken.

Wir geben hier und da einen kleinen Obulus in die verwitterten Hände uralter, winziger Indiofrauen, die mit Würde um eine Gabe bitten, entgegen aller Verbote und Aussagen („Die werden bloß von ihren Familien geschickt, hier haben alle genug zu essen, hier braucht niemand zu betteln“).

Wir lassen uns die Schuhe putzen (selbst wenn sie nicht aus Leder sind) von der Gilde der vermummten Schuhputzer, die ihr Antlitz nicht zeigen, um an ihren Schulen und Universitäten ihr Gesicht nicht zu verlieren. Die Jüngsten, eine in Windeseile anschwellende Bande von Kindern, laden wir noch zu einer Eis-Orgie ein, und ein glücklicher Eisverkäufer schiebt fröhlich winkend sein ausverkauftes Wägelchen in den schnell-verdienten Feierabend.

Wir sitzen stundenlang in Sucre in der Balkon-Loge im 1. Stock unseres Lieblingsrestaurants an der Piazza und betrachten den sich überall auf der Welt gleichenden Flirt- und Annäherungs-Korso der Jugend. Wir machen die Bekanntschaft von Lamas und Vikunjas, und kaufen ihre Wolle, zu Decken, Jacken, Teppichen, Taschen, Mützen, Stulpen und Handschuhen verarbeitet, als kleinen Beitrag zur Wirtschaftsförderung.

Wir tauchen ein in die Geschichte der Conquistadores, den Fluch des Goldes – und des Silbers in Potosi, wo unter dem „Menschenfresserberg“ in der ehemals größten Mine der Welt Sklaven die monströsen Holzräder der Münzpressen antreiben mussten. Wir erfahren zu unserem maßlosen Erstaunen, dass in Potosi Dynamit neben Lollies am Kiosk verkauft wird, und bei rabiaten Demonstrationen auch gerne zum Einsatz kommt. Davon können unsere heimischen Gewerkschaften nur träumen.

Wir finden herzliche Aufnahme bei Künstlern und Kindern, in Schulen und Kaschemmen, Hotels und Hospitälern, Galerien, Museen, Kirchen und Kommunen, in der Familie von Max und Martha und deren Kindern und Verwandten.

Wir entdecken „unentdeckte“ Kunstschätze, wie den Eisenbahnfriedhof von Uyuni, dessen gigantische Installation im europäischen Kontext zum Gesamtkunstwerk deklariert werden könnte. Wir machen „Funde“. Wir verlieren uns im Hexenmarkt von La Paz und können uns kaum lösen von der Masse an Magieträgern in Form von Lama- und Condorföten, Vogelkrallen und getrockneten, mit Glasaugen verzierten Fröschen, Glücksbringer für die Opfergaben zur Wintersonnenwende.

Wir wünschen alle den begehrten Beifahrersitz neben Max, unserem schnittigen Rallye Fahrer, statt im Dreierpack auf dem schaukelnden Rücksitz bis zur Bewegungslosigkeit erstarrt unserem Ziel näher zu hoppeln. Und wir sind überglücklich, dass es Max immer wieder gelingt, nach stundenlanger Fahrt auch am entlegensten Winkel des Landes eine Flasche Wein zum „Abspann“ hervor zu zaubern.

Wir beobachten Flamingos, Kormorane, Tapire, Schlangen, Äffchen, Leoparden, Gürtel- und Faultiere, und das nicht nur im Zoo, sondern auch architektonisch zu einladenden Telefonhäuschen verarbeitet. Über so viel Kreativität können wir sachlichen Europäerinnen nur staunen. Trotz reichlicher Köstlichkeiten, die uns täglich serviert werden, versorgen wir uns ausgiebig an kleinen Straßenrand-Buden auf einsamen Routen mit klebrigen Lutschern gegen die Höhen-Übelkeit und sehen später, dass auch das Militär dieser Nascherei frönt.

Wir sehen die erste Straßenbauarbeiterin in ihrer ­futuristischen Kluft, ein begehrter Beruf für Frauen. So weit geht unsere westliche Emanzipation denn doch nicht. Wir schauen ergriffen auf den gigantischen ­„Pueblo“, das Häusermeer von Cochabamba, das sich an den Berg schmiegt, von einer riesigen Christus-­Statue gesegnet.

Wir wagen gelegentlich ein „Machtwort“, wenn unser rasanter, nimmermüder Führer und Fahrer Max nicht zu bremsen ist und, selbst durch einen Hundebiss nicht lahm gelegt, über Pisten und Furten fliegt. Wir besuchen den bunten Friedhof in Sucre, wo zahllose Leiterträger für frische Blumen der Hinterbliebenen die schwindelnde Höhe zu luftigen Gräbern überbrücken und die Verbindung der Irdischen zum Himmel herstellen. Gerührt betrachten wir die unzähligen ausgebleichten Kindergräber, liebevoll mit Plastikspielzeug, Nuckelflaschen und Küchlein dekoriert. Und denken an die riesige Kluft von Lebens­erwartung hier und bei uns in Europa.

Wir überqueren nach stundenlangen vergeblichen Anläufen auf der windumtosten Piste in Sucre in einer Militärmaschine die Anden. In unseren Mägen rumpeln die leckeren bolivianischen Schokotrüffel aus dem Dutyfree-Shop wie Wackersteine. Bei klarem Tageslicht erblicken wir die gigantischen Felsformationen, die unter uns liegen.

Die Erkenntnis, dass auf den allerhöchsten Bergen auch heute noch menschliche Zivilisation in Form geordneter Aufteilung in Felder und Flächen nach alter Inka-Kultivierung erkennbar ist, lässt uns erschauern und erahnen, was wir sind – Suchende im Spiegel einer großartigen Kultur!

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