Sasha Waltz: Alles hat seine Form

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Die Tanztheatermacherin Sasha Waltz ist die spannendste in ihrer Branche aus der Post-Bausch-Generation. Ulla Hanselmann traf sie in der Kantine der Berliner Schaubühne.

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Sasha Waltz hat Hunger. An der Selbstbedienungstheke des Berliner Schaubühnen-Cafés legt sie sich ein Ciabattabrötchen und eine mit Schinken belegte Semmelhälfte aufs Tablett. Am Tisch nimmt sie den Schinken von der Semmel und legt ihn auf die Ciabatta. Die Kodirektorin des renommierten Theaterhauses hat eine sehr genaue Vorstellung davon, wie sie die Dinge haben will.
Fast immer, wenn ein Waltz-Stück aufgeführt wird, sitzt die – nach Klassikerin Pina Bausch – erfolgreichste deutsche Choreographin in der meist ausverkauften Vorstellung und notiert jede kleine Veränderung, um sie bei der nächsten Probe zu korrigieren. "Meistens geht es ums exakte Timing", erklärt sie und blickt auf ihre biegsamen Hände mit den kurzen Fingernägeln. "Ich habe das Stück von Anfang bis Ende im Kopf."
"noBody" zum Beispiel, ihr jüngster Erfolg und Teil ihres Zyklus über den Körper. Im ersten Stück der Trilogie, das einfach nur "Körper" hieß, sezierte Waltz das biologische Material des Menschen. In "S" untersuchte sie die Sexualität. In "noBody" geht es um die Frage: Was ist der Mensch jenseits seines Körpers? Die Botschaft des 90-minütigen Bilderschwalls: Das Leben triumphiert, wenn wir den Tod annehmen.
Das Waltzsche Tanztheater ist wohl kalkuliert und fegt doch wie ein Hurrikan durch das Gefühls- und Gedankenhaus der ZuschauerInnen. Es rührt, amüsiert, verstört. Dann, wenn sich der Geräuschwust, das Gewinde und Gezappel der drahtigen Tänzerkörper ins Unerträgliche steigern: "In ‚noBody‘ geht es um die Abwesenheit und den Verlust des Körpers, um den Tod, die Gefühle, die er in uns auslöst. Und es geht um das Metaphysische, die Frage, was wir über den eigenen Körper hinaus sind."
Wenn die heute 40-jährige Choreografin über ihre Arbeit spricht, nimmt sie oft mehrere Anläufe, präzisiert immer wieder. Im Übersetzen ihrer Gedanken und Gefühle in Bewegungen aber ist sie treffsicher. Wenn ein neues Stück entsteht, sucht sie zusammen mit ihren TänzerInnen nach dem richtigen körperlichen Ausdruck. Immer wieder ertanzt sie sich die gesuchte Figur selbst.
Ihre Leidenschaft für den Tanz entdeckte die gebürtige Karlsruherin früh. In ihrer Straße gab eine Schülerin der legendären Mary Wigman, der Mutter des Ausdruckstanzes, Unterricht. Also ging Sasha hin, mit fünf Jahren "ein Kind, das sich gerne und viel bewegt". Mit 15 brachte dann ein Workshop die Gewissheit: Das intensive Gefühl von In-der-Welt-Sein, das sie durch die Wahrnehmung ihres Körpers erfuhr, wollte sie nie mehr missen. Tanzstudium in Amsterdam, Projekterfahrung in New York, dann Berlin. Bei allem Respekt für Pina Bausch und ihrer "einzigartigen Bedeutung für den modernen Tanz" sieht Waltz sich jedoch "nicht in der Traditionslinie des deutschen Tanztheaters". "Der menschliche Körper selbst und dessen Bewegung stehen im Zentrum meiner Arbeit. In diesem Sinne hat mich die amerikanische Postmoderne wesentlich geprägt."
1993 gründete Sasha Waltz mit ihrem Mann Jochen Sandig die freie Tanzcompagnie Sasha Waltz & Guests und machte die Berliner Sophiensäle zu einer der ersten Kulturadressen der Stadt. Seit Ende 1999 gehört das Paar, das einen vierjährigen Sohn und eine sechs Monate alte Tochter hat, zu dem Führungsquartett der Schaubühne.
"Körper" ist inzwischen ein Welterfolg. In dem Stück verabschiedet sich die Künstlerin radikal vom gefälligen anekdotischen Stil ihrer früheren Arbeiten, die soziale Milieus unter die Lupe nahmen, reich an Requisiten und Slapstick-Nummern waren. Als sie daran arbeitete, hatte sie gerade ihre erste Schwangerschaft hinter sich. Da geraten der Körper und seine Potenziale zwangsläufig ins Visier. "Es geht mir darum, das allgemein Menschliche zu zeigen." Auch bei der Arbeit im Tänzerensemble haben sich Geschlechterunterschiede ausgewachsen. "Der intime Kontakt bei der Arbeit wird nicht vom Geschlechtlichen überschattet. Da geht es in erster Linie um die Energien des Körpers."
Die Enge von Rollenbildern und ihre Überwindung thematisiert sie auch in ihrem neuen Stück, das im Herbst in der  Kulturhaupstadt Graz uraufgeführt wird. "Inside Out" bearbeitet den Wandel von Werten und Statussymbolen im Laufe des vergangenen Jahrhunderts. Als Rohmaterial für ihre Studien dienen Waltz bei diesem Stück – ganz wie bei Bausch – die biografischen Erfahrungen ihrer TänzerInnen, die aus vielfältigen Kulturkreisen stammen.
Ihr Traum ist herauszufinden, "welche Energie uns im Nicht-Stofflichen antreibt". Hat sie eine Ahnung, wie die Antwort aussehen könnte? Sie prustet los. "Natürlich nicht!"
Dieser Hang zu den großen Fragen und die Gründlichkeit, mit der sie nach Antworten sucht. "Ich beschäftige mich mit existenziellen Fragen, weil mich eine innere Notwendigkeit dazu treibt", sagt sie. Dann muss sie zu den Proben. Die kahle Semmelhälfte lässt sie auf dem Teller liegen.
EMMA 5/2003

 

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