Andersrum

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An dem Vormittag, an dem ich mit den Menschen auf der Kungsgatan mitstrebte, bot sich mir ein repräsentativer Anblick. Unter den Leuten, die einkaufen gingen, die zur Arbeit oder zur Schule unterwegs waren, unter denen, die beim Frühstück saßen oder nur auf die Schnelle einen Kaffee tranken, unter denen, die sich in Ruhe eines der ältesten Warenhäuser Stockholms von 1886 ansahen oder die beiden „skyskrapor“, Mitte der Zwanzigerjahre erbaute Hochhäuser, zwischen Geschäftsleuten, Blumenverkäufern und Studenten bemerkte ich ein Grüppchen von vier Männern, das mir ungewöhnlich erschien, vielleicht vor allem deshalb, weil es niemandem sonst auffiel.

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Zwei von ihnen waren nicht übermäßig, dafür aber elegant gekleidet und posierten eng beieinander; ein kahlköpfiger, sehniger Tänzertyp, der lüstern auf der Schulter eines schwarzhäutigen, feurigen Matadors lehnte, als wollte er gleich mit den Lippen an dessen Ohrläppchen zuppeln. Die beiden anderen Männer standen gelassen daneben, trugen Shorts, luf­tige T-Shirts und waren jeder mit einem doppelsitzigen Kinderwagen ausgestattet. Sie bissen in grüne Äpfel und plauderten. Bei den zurückhaltend Bekleideten han­delte es sich um eine Werbung von Dolce & Gabbana, die überlebensgroß an einer Hauswand prangte, bei den beiden mit Kinderwagen um eine lebendige Werbung für schwedische Familienpolitik.

Nach diesem Erlebnis sah ich überhaupt nur noch Männer mit Kinderwagen. Sie saßen lesend im Park, während das Kind schlief oder spielte. Sie standen in Gruppen an Springbrunnen, sie schlenderten mit den Kinderwagen am Ufer entlang, sie genossen die Sonne und vor allem: sie genossen es.

In Deutschland waren mir bisher, wenn überhaupt, dann häufig Väter begegnet, die sich tief über den Kinderwagen beugten, wenn ich an ihnen vorüberging, und so taten, als suchten sie etwas, oder den Wagen an einem einzigen abgespreizten Finger vor sich herführten, als wäre der Kinderwagengriff zufällig dort kleben geblieben, Kind und Wagen hätten aber eigentlich nichts mit ihnen zu tun. Oder sie rannten. Dann stießen sie die stromlinienförmigen Gefährte in einem Tempo vor sich her, das nur eines bedeuten konnte: Sie wollten nicht erkannt werden (ich glaube, dass viele Väter auf diese Weise überhaupt erst zum Joggen gefunden haben – und viele Kinder es seitdem hassen).

Deutsche Väter haben vielleicht deshalb noch Schwierigkeiten mit dem Genießen, weil es zu wenige Bilder gibt, die zeigen, wie das geht. Wie man es genießt, mit dem Sohn sonntags ins Stadion zu gehen, ist klar, auch, wie man angeln geht oder Fußball spielt; zur Not geht das sogar mit einer Tochter. Aber Bilder davon, wie die ersten zwei Babyjahre genießerisch zu erleben sind, sind rar. Wenn sich doch einer am Windeln und Breichen-Warmmachen versucht, kann das schnell anstrengend werden, nicht wegen des Breichens, sondern wegen des Erklärungszwangs vor anderen, der dem einer Frau entsprechen mag, die Pfeife raucht oder boxt. Vielleicht kommen deshalb so viele so glücklich aus Schweden zurück; sie haben endlich einen Ansatz.

Da sich Deutschland 2007 unter Höllenqualen dazu durchgerungen hat, das schwedische Modell der Elternzeit zu übernehmen, könnte sich die Lage in ­Zukunft verbessern; allerdings so schön langsam, wie das bei Bewusstseinserweiterungen gemeinhin der Fall ist. Unterwegs müssen die Frauen mit ihren Karriereansprüchen noch einmal kurz die Schuld an der niedrigen Geburtenrate auf sich nehmen; ungeachtet der Umfragen, die belegen, dass es häufig die Männer sind, die sich lieber gut verdienend kinderlos vergnügen.

Die Schweden hatten seit 1974 Zeit, an ihrem Bewusstsein zu arbeiten. Mittlerweile übernehmen Väter immerhin ein Fünftel der Elternzeittage, und wer will, kann im Anschluss selbstverständlich Teilzeit arbeiten. Aris Fioretos sagte nach drei Monaten Vaterzeit: „Es ist keine Schwächung des eigenen Stands, zu Hause zu bleiben. Heutzutage bringt ein Adelstitel kaum Privilegien. Aber mit etwas Spaghettisoße auf der Schulter des Vaters, als kleines Epaulett …“.

Auch in Schweden ist nicht alles perfekt. Bei den kinderwagenschiebenden Vätern handelt es sich oft um Besserverdienende; bei Familien mit geringem Einkommen bleibt weiterhin die meiste Zeit die Frau zu Hause, weil sie im Durchschnitt immer noch zwanzig Prozent ­weniger verdient als ihr Mann. In börsennotierten Unternehmen sind Frauen trotz Gleichstellungsgesetz und Ombudsleuten rar. Das norwegische Vorbild einer Vierzig-Prozent-Quote für Managerinnen in den Vorständen hält der Schwedische Wirtschaftsverband für Gängelung, und die bürgerliche Regierung hatte bei Amtsantritt erst einmal nichts Besseres zu tun, als einen entsprechenden Vorschlag vom Beratungstisch zu wischen. Unter schwedischen Geschäftsfrauen kursiert der bittere Witz, dass „IT“ für „Inga Tjejer“ stünde, zu Deutsch: keine Mädchen.

Aber da mit Karl Marx auch nach dem Ende des Sozialismus immer noch das Sein das Bewusstsein bestimmt, sind kleine Veränderungen im Alltag für die Erweiterung desselben schon von erheblicher Bedeutung, wie beispielsweise die Idee, in öffentlichen Toiletten auch bei den Männern Wickeltische aufzustellen. Na also. Geht doch.

Ein Parlament mit weltweit der größten Gleichberechtigung (47,3 Prozent der Parlamentarier sind weiblich), eine Feministische Partei, die sich mit Sicherheitsfragen und Steuerpolitik beschäftigt, eine Gesellschaft, in der 80 Prozent der Frauen berufstätig sind (im Gegensatz zu zwei Dritteln in Deutschland), in der Eltern, die ihre Kinder mit dem ersten oder zweiten Lebensjahr in eine Kindertagesstätte geben, nicht als Rabeneltern beschimpft und Kindertagesstätten nicht als Brutkästen späterer Traumata und Depres­sion verunglimpft, sondern als Lernstätten sozialen Verhaltens geschätzt und flächendeckend angeboten werden, sind das eine. Das andere sind Friseure, bei denen ich für meinen Kurzhaarschnitt, der weder länger dauert noch anders aussieht als auf dem männ­lichen Kopf nebenan, keine schwedische Krone mehr bezahle als er, nur weil sich ein in den Tiefen meiner Kleidung verborgener Körperteil, der zu meinen Haaren noch nicht einmal eine besondere Beziehung ­unter­hält, etwas anders ausgeformt hat.

Das andere ist ein im schwedischen Selbstverständnis verankertes Bedürfnis nach Selbstbestimmung, nach geradezu „radikaler Individualität im Land der sozialen Sicherheit“, wie der Wissenschaftler Lars Trägårdh und der Journalist Henrik Berggren feststellen. Das klingt erst einmal paradox: Wie lässt sich radikal individuell leben in einem Staat, in dessen straffem ­Sozialsystem jeder gleichermaßen aufgehoben und gefangen ist, dessen feinmaschiges Netz aus hohen Steuern und Sozialabgaben eher abhängig zu machen scheint als frei? Diese Interpretation hört und liest man immer wieder, und sie ist eine typisch deutsche. Deutschland regelt die Machtbeziehungen, die in modernen Wohlfahrtsstaaten zwischen den drei Größen Familie, Staat und Individuum existieren, anders als Schweden. In Schweden ist es möglich, ­unabhängig und Teil einer Gemeinschaft zu sein, weil es eine Allianz zwischen dem Individuum und dem Staat gibt, wie Trägårdh und Berggren feststellen.

In Deutschland besteht eine Allianz zwischen Familie und Staat; der deutsche Staat mischt sich in die Familienplanung ein, und die Familie entlastet wiederum den Staat, indem sie die Versorgung von Angehörigen regelt. Die Angehörigen bleiben damit abhängig von der Familie. Der schwedische Staat dagegen schützt den Einzelnen. Er sorgt dafür, dass Kinder ihren Eltern mit Erreichen der Volljährigkeit nicht mehr auf der Tasche liegen. Staatliche Bezuschussung baut auf der Erwartung auf, dass die Kinder ausziehen und selbstständig leben und nicht wie in Deutschland bei ihren Eltern wohnen müssen, wenn sie keine Arbeit haben, und auch beim BAföG noch am Rockzipfel hängen. Werden die Eltern alt, stehen Kinder nicht in der Verantwortung, sich finanziell um sie zu kümmern, selbst die Beerdigung trägt der Staat. So wird jede Entscheidung, für Eltern oder Kinder zu sorgen, zu einer freiwilligen; finanziellen familiären Abhängigkeiten wird vorgebeugt. In der Ehe ist das Taschengeld-Prinzip ebenso unerwünscht. Schon lange wird in Schweden jeder einzeln besteuert, und zwar in einem unkomplizierten Verfahren, ein Ehegattensplitting gibt es nicht. Nach einer Scheidung ist der Besserverdienende nicht verpflichtet, den ehemaligen Partner weiterzuversorgen.

Diese Beispiele erhellen, warum sich in Deutschland sowohl die traditionellen Familien als auch der Staat so schwertun mit der Vorstellung alternativer Lebensentwürfe: Die Ehe ist nach wie vor als Feste des Staates heilig; Regenbogenfamilien dagegen stellen als frei gewählte Form des Zusammenlebens eine Gefährdung dieser Allianz dar. In Schweden, wo das Wohlfahrtssystem auf das Individuum ausgerichtet ist, werden solche individuellen Lebensentwürfe gefördert. Von den Bürgern wird verlangt, dass sie den Staat gestalten und mittragen; welche Formen des Zusammenlebens sie dann wählen, ist die freie Entscheidung jedes Einzelnen. Das hat sich auch in der Sprache niedergeschlagen; ein Spiegel dessen, worauf eine Gesellschaft besonderen Wert legt oder nicht. Für unverheiratete Langzeitpaare, die längst die Realität sind, kennt die deutsche Sprache immer noch nur den Begriff der „wilden Ehe“, der als moralisch verwerfliche Form der echten Ehe daherkommt. Auf behördlichen Formularen kreuzen solche Paare dann den Status „ledig“ an, der längst zu einer Art Lumpensammler geworden ist. Auch homosexuelle Lebenspartnerschaften firmieren häufig notgedrungen offiziell als ledig.

In Schweden wird sprachlich differenziert: Die Partner einer Langzeitbeziehung ohne Eheschließung heißen „sambo“. „Särbo“ heißt, wer zwar lange zusammen ist, aber nicht zusammen wohnt. Beide Worte sind wiederum unabhängig von „gift“, dem verheirateten Zustand. Und auch für den, der, obwohl er schon neunzehn ist, sich noch immer nicht von zu Hause lösen kann, gibt es eine Bezeichnung; bei einem „mambo“ fürchtet man, dass er nie auf eigenen Füßen steht.

Wenn überhaupt geheiratet wird, dann spät, aber stilvoll, und häufig sind die Kinder bei der Hochzeit dabei. Und sollten diese Kinder aus einer früheren Beziehung sein, nennt man sie „bonusbarn“, Bonuskinder, und nicht Stiefkind; dieses schon sprachlich verschmähte und gegenüber dem Nachwuchs aus klassischen Ehen abgewertete Kind.

Freiheit aus schwedischer Sicht bedeutet also nicht frei zu sein vom Staat, sondern frei zu sein durch den Staat. Der Staat bereitet den Boden für die Möglichkeit aller, voneinander unabhängig zu sein.

Der Text ist ein Auszug aus: „Gebrauchsanweisung für Schweden“ (Piper, 12.90 €)

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