Schweiz: Das Wunder von Neuenburg

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Die Frauen des Kantons Neuenburg feiern einen epochalen Sieg. Erstmals sitzen in einem Kantonsparlament mehr Frauen als Männer. Wie kam es dazu? Seit dem Schweizer Frauenstreik 2019 stehen die Zeichen auf Sturm. Es muss endlich Schluss sein mit dem Altherrengeplänkel. Und: Nur Ja heißt Ja!

Am 19. April ist es geschehen – das „Wunder von Neuenburg“. Kein Fußballspiel im Regen, auch keine Rettung aus einem eingestürzten Bergwerk. Nein, ein epochaler Sieg der Frauen! Zum ersten Mal in der Schweizer Geschichte werden in einem Kantonsparlament (= Landtag) im westschweizerischen Neuenburg mehr Frauen (58) als Männer (42) sitzen. Ein Novum! Mehr noch: eine Zeitenwende! Wie konnte es dazu kommen?

„Wir Frauen haben etwas verstanden. Wenn wir Frauen unsere Sache voranbringen wollen, dann müssen wir in den Parlamenten an die Macht!“, sagt Sophie Achermann. Sie ist die Geschäftsführerin von alliance F, dem größten schweizerischen Frauendachverband, der die Interessen von 400.000 Frauen vertritt. Achermann und Mitstreiterinnen hatten auf Parität gehofft – und nun: Mehrheit!

Vor dem Gleichstellungsbüro des Pionierkantons flattern seitdem violette Fahnen. Den Löwenanteil an diesem Sieg hat die neue Frauenbewegung „Helvetia ruft!“, die unter dem Dach der aliance F agiert. Die Helvetia-Akteurinnen vernetzen und coachen Politikerinnen, fordern Frauen aus allen Parteien immer wieder dazu auf, sich zur Wahl zu stellen. Oberstes Credo: Frauensolidarität über Parteigeplänkel!

Kurz vor Corona hatte alliance F nach Neuenburg geladen.
Kurz vor Corona hatte alliance F nach Neuenburg geladen.

Helvetia wurde gehört – und sie hat mit dem „Wunder von Neuenburg“ ein neues Level erreicht. „Wir haben jetzt eine breite Wählerschaft, die aus einer Auswahl von Männern und Frauen ganz bewusst die Frauen wählt – und zwar in allen Parteien, sowohl bei den Linken und Grünen als auch bei den bürgerlichen Parteien. Wir hoffen jetzt auf eine schweizweite Signalwirkung!“, referiert Achermann hocherfreut.

Seit am 14. Juni 2019 eine halbe Million Schweizerinnen auf die Straße ging, um gegen Femizide und Benachteiligung zu demonstrieren, stehen die Zeichen auf Sturm.
Achermann: „Neuenburg beflügelt uns total! Wir erleben eine wahnsinnige Welle der Frauensolidarität. Wir Frauen haben einfach keine Lust mehr auf das Patriarchat und das Altherrengemauschel!“

Der Ständerat (= Bundesrat) ist noch immer nur zu 26 Prozent von Frauen besetzt, doch auch dort kommen die Einschläge näher. Als die älteren Herren des Rates 2018 süffisant über eine Vorlage zur Lohngleichheit von Männern und Frauen hinwegdiskutieren wollten, tickerte alliance F sämtliche Aussagen live mit. Die Frauen der Schweiz waren entsetzt. Übrigens auch die Ehefrauen der Herren des Rates. „Die haben zuhause ordentlich aufs Dach bekommen“, lacht Achermann.
Nicht zuletzt wegen des Jubiläums „50 Jahre Stimmrecht“ sind die Schweizerinnen hochsensibilisiert für patriarchale Fehltritte.

„Der öffentliche Druck ist nun riesig, wir lassen uns die Gleichberechtigung nicht mehr wegnehmen und wir haben auch viele moderne Männer auf unserer Seite.“
Eine Studie der Uni Zürich zeigt, dass sich mit der Feminisierung der Wählerschaften links der Mitte auch das Wahlverhalten der Männer geändert hat. Auch sie haben Frauen erstmals ausdrücklich bevorzugt. Auf Bundesebene hat der heutige Nationalrat (= Bundestag) einen Frauenanteil von 42 Prozent, die höchsten Frauenvertretungen auf Kantonsebene hatten bisher Basel (42), Zürich (40) und Basellandschaft (40). Und nun Neuenburg.

Aktuell wird in der Schweiz über das Sexualstrafrecht gestritten, Stichwort: „Nein heißt Nein!“. Noch immer gilt in der Schweiz (in Deutschland griff die Reform 2016) nur ungewolltes vaginales Eindringen als Vergewaltigung, und das auch „nur“ bei Gewalt oder Gewaltandrohung. Eine Rechtskommission des Ständerates (bestehend aus drei Männern) hatte verschiedene Varianten für eine Revision ausgearbeitet, die nach Ansicht von alliance F und tausenden Frauen noch dringend spezifiziert werden müssen: „Nur Ja heißt Ja! Jedes vaginale, orale oder anale Eindringen ohne Zustimmung ist im Gesetz als Vergewaltigung anzuerkennen!“

Sophie Achermann ist guter Dinge: „Spätestens, wenn die Vorlage im Dezember den Nationalrat erreicht, werden wir Frauen für die umfassende Neudefinition sorgen. Das geht nicht mehr durch!“

Die Schweiz hat, was die Repräsentation von Frauen in politischen Ämtern angeht, laut UNO-Statistik auch global beachtlich aufgeholt. Seit 2021 liegt sie an 20. Stelle – Deutschland an 49.

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