"Man macht es mit sich allein aus"

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„Ich selbst rede erst über mein Trauma, seit mein Sohn die erste Aussage bei der Polizei unter zwei Promille Alkoholeinfluss machte“, schrieb Peter M. Und der Familienvater beklagte sich bitter über fehlende Hilfsangebote: „Wir als Opfereltern stehen hilflos Bürokratien gegenüber, die uns in der sowieso schon unerträglichen Lebenssituation noch zusätzlich sehr belasten.“

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Die EMMA-Redaktion war berührt, aber auch nachdenklich: In den Missbrauchs-Skandalen von Kloster Ettal bis Odenwaldschule war quasi ausschließlich von männlichen Opfern die Rede – die weiblichen schienen in den letzten Monaten quasi vollständig aus der Debatte verschwunden zu sein, obwohl Mädchen sehr viel häufiger missbraucht werden als Jungen. Die Schätzungen schwanken: Jedes zweite bis vierte Mädchen und jeder achte bis zehnte Junge wird Opfer von Missbrauch.

Und für beide Geschlechter gilt: Der Täter ist in den seltensten Fällen ein Fremder. Jeder dritte Missbrauch findet in der Familie statt, zwei Drittel im „sozialen Nahfeld“, also in der Nachbarschaft, in der Kirche oder im Sportverein. Jungen, so sagt nicht nur Peter M., fällt es noch schwerer, sich mit ihrem Schmerz jemandem anzuvertrauen.

Die traditionelle Erziehung zum „starken Mann“ macht die Scham des männlichen Opfers womöglich noch größer. Männliche Opfer werden leichter selber Täter. Dass die Kölner Beratungsstelle „Zartbitter“ inzwischen 50 Prozent männliche Opfer berät und behandelt, „liegt daran, dass wir mit übergriffigen Jungen im Vor- und Grundschulalter arbeiten“, erklärt „Zartbitter“-Gründerin Ursula Enders. Und fügt hinzu, was die Opferforschung bestätigt:„Mädchen, die missbraucht werden, übernehmen häufig die Rolle der Lolita. Jungen die des Aggressors.“ Zeit also, auch über den Missbrauch von Jungen zu sprechen.

Peter M.: "Dass mein Sohn missbraucht worden ist, habe ich im Januar diesen Jahres erfahren. Wir hatten schon länger große Schwierigkeiten mit ihm. Wir haben das aber darauf zurückgeführt, dass wir ein Jahr davor berufsbedingt von Würzburg nach Neu-Ulm umziehen mussten, was dem Lars sehr zu schaffen gemacht hat. Er ist uns entglitten, der ist regelrecht ausgeflippt. Er war aggressiv, blieb von zu Hause weg – und das mit 13. Er hat sehr viel Alkohol getrunken, manchmal bis zur Besinnungslosigkeit. Und er hat Cannabis geraucht.

An dem bewussten Tag hat er zu Hause so sehr randaliert, dass wir uns nicht mehr anders zu helfen wussten als die Polizei zu rufen. Wir hatten Angst, dass er womöglich aus dem Fenster springt oder sich sonstwie etwas antut. Bevor die Polizei dann eintraf, hat meine Frau ihn gefragt: „Was ist nur mit dir los? Du bist doch mein kleiner Junge!“ Und da hat er geantwortet: „Den kleinen Jungen kriegt ihr nie wieder. Der ist durchgefickt.“ Da schellten bei uns natürlich die Alarmglocken, und wir fragten uns völlig fassungslos: Was ist passiert? Im gleichen Augenblick kam die Polizei und hat ihn mitgenommen.

Lars ist auf dem Präsidium mit 2,0 Promille vernommen worden, und die Beamten haben ihn auch gefragt, warum er denn so viel trinkt. Da hat er ausgesagt, dass er im Alter von 11 bis 13 Jahren etwa 50 Mal missbraucht worden sei. Er hat dann die Nacht in der Ausnüchterungszelle verbringen müssen und wurde am nächsten Morgen noch mal befragt. Und nüchtern hat er das, was er am Vorabend gesagt hatte, noch einmal bestätigt.

Ich kenne den Täter. Es war Lars‘ Breakdance-Lehrer aus dem Jugendzentrum, in das Lars immer ging. Der verdient sein Geld unter anderem als Tabledancer im Rotlichtmilieu. Er hat viel Zeit mit Lars verbracht: Kino, Schwimmbad, Sauna, Fast Food. Und wir haben diesen Kontakt zunächst sogar unterstützt.

Als unsere beiden Söhne noch klein waren, hat sich meine Frau tagsüber um sie gekümmert. Sie ist Diplom-Pädagogin. Und wenn sie dann abends in ihr Jugendzentrum ging, habe ich die beiden versorgt: Essen gemacht, ins Bett gebracht, Geschichten vorgelesen.

Und dann war ich genau in der Zeit, als das mit den sexuellen Übergriffen losgegangen sein muss, nicht da. Ich war in dieser Zeit beruflich total eingespannt, weil ich von Würzburg aus schon zu meiner neuen Stelle in Neu-Ulm quasi vorausgezogen war. Der Papa war nicht greifbar. Und der Lars war immer ein Papakind gewesen. Und da dachten wir: Naja, wenn er da in diesem jungen Mann eine Bezugsperson hat. Wir machen uns heute riesige Vorwürfe deshalb.

Ich gehe davon aus, dass das ein schleichender Prozess war, an dessen Ende die Vergewaltigungen gestanden haben. Lars hat ausgesagt, dass diese Vergewaltigungen auch im Jugendzentrum stattgefunden haben, unter anderem in den Duschräumen.

Der Täter hat ihn mit einem Messer gefügig gemacht, von dem es später, als die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt hat, lapidar hieß: Ein solches Messer sei im Jugendzentrum nicht gefunden worden. Ich weiß aber, dass es dieses Messer gab. Das gehörte nämlich uns und fehlte irgendwann in unserem Haushalt. Lars hat es wohl mitgenommen. Mir hat er jetzt gesagt, er wollte damals damit Reifen zerstechen. Aber vielleicht wollte er sich damit auch gegen den Täter wehren.

Lars sprach auch von Schlägen. Wir wurden dann gefragt, ob wir denn nie blaue Flecke am Körper unseres Sohnes bemerkt hätten. Aber er hatte sich in dieser Zeit schon so zurückgezogen, dass wir überhaupt keine Gelegenheit mehr hatten, ihn nackt zu sehen. Wir haben das auf die Pubertät geschoben und gedacht: Gut, dieser Rückzug gehört jetzt wohl irgendwie dazu, er schämt sich halt.

Im Nachhinein erklärt sich so vieles. Wir haben zum Beispiel den Rasierer gefunden, in dem Haare steckten, die da nicht hingehörten. Er hat sich also die Schamhaare und die Beine rasiert, und das in dem Alter. Er hörte Musik mit harten Texten, da ging’s immer nur „Fuck, fuck, fuck!“ Auch das haben wir irgendwie für normal gehalten, diese Musik ist ja total angesagt. Es gab immer so kleine Blitzlichter, aber es war nichts wirklich greifbar. Auch Lars’ Schulnoten und sein Verhalten in der Schule gingen ab der sechsten Klasse im Senkrechtfall nach unten.

Aber auch dafür gab es eine Erklärung: Zu der Zeit wurde in Bayern die Abiturzeit auf zwölf Jahre verkürzt. Weil wir dachten, er leidet unter dem schulischen Druck, haben wir ihn dann auf die Realschule getan. Inzwischen ist er auf der Hauptschule.

Lars ist als Junge da anscheinend stärker in die Aggression gegangen. Ein Mädchen hätte sich wahrscheinlich total zurück gezogen, hätte vielleicht eine Essstörung gekriegt. Lars Reaktion war eher expressiv.

Ich habe mich dann am Tag nach Lars Aussage in einer Art Kurzschlussreaktion ins Auto gesetzt, um den Täter aufzusuchen und zu konfrontieren. Ich habe gesehen, wie er in das Jugendzentrum fuhr, für das er einen Generalschlüssel hatte. Beides hätte eigentlich nicht sein dürfen. Denn wir hatten uns schon vor jetzt vier Jahren mit unseren Problemen mit Lars immer wieder an die Erziehungsberatungsstelle in Würzburg gewandt. Der Verdacht auf Missbrauch stand da schon im Raum.

Und da hieß es von Seiten des Jugendzentrums: Innerhalb der Öffnungszeiten könnten diese Übergriffe nicht passiert sein, weil das aufgefallen wäre, und außerhalb der Öffnungszeiten auch nicht, denn der Täter hätte keinen Schlüssel. An diesem Tag habe ich aber gesehen, dass er sehr wohl einen Schlüssel hatte. Man hatte uns außerdem versichert, dass der Breakdance-Lehrer nicht mehr in dem Jugendzentrum arbeiten dürfe. Er war aber noch immer da.

Ich habe dann die Polizei gerufen, die auch gekommen ist, den Täter aber nicht ohne weiteres mitnehmen konnte. Es gibt die schriftliche Aussage eines Polizeibeamten, der gehört hat, wie ein Kumpel den Täter fragte, warum denn die Polizei da wäre. Und der hat geantwortet: „Wenn es das ist, was ich glaube, dann kann ich mich gleich erschießen oder vom Hochhaus springen.“ Aber so eine Aussage kann man in so einem Verfahren letztlich vergessen. Der Täter hat den Vorwurf abgestritten. Das Verfahren ist von der Staatsanwaltschaft eingestellt worden. Es stand Aussage gegen Aussage, und im Jugendzentrum haben sich angeblich keine Zeugen gefunden, die die Vorfälle bestätigen konnten. Ich hatte am Tag nach dieser Kurzschlussfahrt einen Zusammenbruch und habe mich selbst in die Psychiatrie eingeliefert. Ich bin in ein Loch gefallen. Mir sind alle Filme, die ich tief im Hinterkopf abgespeichert hatte, hochgeschossen. Und da ist mir auch die Geschichte aus meiner Kindheit wieder hochgekommen. Dagegen ist man machtlos. Ich hatte das weitgehend verdrängt.

Wir sind jetzt seit 18 Jahren verheiratet, und in dieser Zeit hatte ich wohl die Strategie entwickelt: „Das ist vorbei, das sollte man nicht mehr beachten.“ Ich hatte es wirklich ganz weit weg getan, aber in diesem Moment ist es derart massiv aufgetreten, dass ich mit der Situation völlig überfordert war. Ich bin tränenüberströmt in diese Klinik gefahren und hab gesagt: „Bitte helft mir, ich kann nicht mehr!“ Ich war das dritte und jüngste Kind.

Meine Mutter hat sich scheiden lassen, als ich drei war. Mein Vater hat keinen Unterhalt gezahlt und meine Mutter wusste nicht ein noch aus. Sie hat nachts in der Bäckerei Brot verpackt, damit wir irgendwie über die Runden kamen. Dann hat sie versucht, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen, und ich erinnere mich, wie ich zur Nachbarin gelaufen bin und sie ihr den Magen ausgepumpt haben. Seitdem hab ich mich für meine Mutter verantwortlich gefühlt und wollte sie beschützen.

Ich gehe davon aus, dass mein „Nicht-Nein-sagen-können“, das ich bis heute habe, aus meinem traumatischen Kindheitserlebnis kommt, als ich zugesehen habe, wie die Notärzte meiner Mutter den Magen ausgepumpt haben. Von da an habe ich wohl alles getan, um meiner Mutter nicht zur Last zu fallen, aus der Angst heraus, ich könnte sie verlieren. So habe ich mir schon als Kind eine Art Überlebensstrategie aufgebaut: Dass es keine unerträgliche Situation gibt, die das „Nein sagen“ erfordert. Als Kind hat sich das in „lieb sein“, großer Hilfsbereitschaft und Höflichkeit widergespiegelt. Meine Mutter hatte dann im Laufe der Zeit etliche Männerbekanntschaften. Und mit einem von denen muss es passiert sein.

Ich kann mich nur sehr bruchstückhaft an den Geruch von Betäubungsmittel erinnern, so etwas wie Äther, jedenfalls sehr intensiv. Momentan wache ich öfter auf und habe eine Art Phantomschmerz, also die gleichen Schmerzen wie ich sie früher nach dem Aufwachen gehabt haben muss. Ich schaue auch heute im Halbschlaf nach, ob da etwas ist. So wie ich wohl früher nachgeschaut habe, ob da Blut oder etwas anderes ist. Tiefer komme ich in die Erinnerung nicht rein. Ich kann mich an meine Kindergartenzeit und die erste Klasse erinnern. Dann beginnt meine präzise Erinnerung erst wieder so ab der vierten Klasse. Dazwischen ist ein Filmriss.

Bei Lars haben wir jetzt das umgekehrte Phänomen: Er erinnert sich nicht mehr an seine Kindheit. Kürzlich haben wir Fotoalben angeschaut, diese typischen Urlaubsbilder und Kindergeburtstage. Und er hat gesagt: „Papa, ich kann mich an nichts erinnern.“ Seine Erinnerung setzt erst ab dem elften Lebensjahr ein, also an dem Punkt, wo der Missbrauch angefangen hat. In der Klinik haben sie mich aus der akuten Krise rausgeholt, indem sie mich erstmal einen Tag schlafen gelegt haben.

Dann gab es ein Gespräch, und der Oberarzt hat mir freigestellt, ob ich bleiben will oder nicht. Er hat gesagt: „Eigentlich haben Sie hier nichts verloren. Sie haben eine Aufgabe – nehmen Sie die wahr!“ Das habe ich mir zu Herzen genommen. Dann habe ich Kontakt mit dem Kinderschutzbund, dem Weißen Ring und erneut mit dem Jugendamt aufgenommen. Ich muss sagen, dass unter allen, mit denen wir in dieser ganzen Angelegenheit zu tun hatten, die Polizei am besten geschult war.

Die Beamten waren einfühlsam, die kennen sich mit der Thematik Missbrauch wirklich aus. Das Jugendamt dagegen ist für mich ein rotes Tuch. Die machen nichts anderes als das Problem zu verwalten. Es geht alles wahnsinnig langsam und sehr bedächtig. Dabei hätten wir dringend Hilfe gebraucht, und zwar schnell. Lars ist ja auch wegen seines Cannabis-Konsums mehrfach von der Polizei aufgegriffen und kürzlich vor Gericht verurteilt worden.

Wir sind dann also zum Jugendamt und haben gesagt: „Wir haben hier einen Missbrauchsfall.“ Da hat der zuständige „Sachbearbeiter“ gesagt: „Aha, da wird uns ja einiges klar.“ Und dann passiert erstmal gar nichts. Was man sich in so einer Situation wünscht, ist aber, dass jemand uns als Familie an die Hand genommen und gesagt hätte: „Was braucht ihr, damit ihr als Familie wiederklarkommt? Was können wir tun?“ Als Eltern braucht man ja auch Hilfe. Und Lars Bruder, unser jüngerer Sohn, auch. Der ist ja auch völlig verstört von der Situation. Er sagt zwar nach außen, es wäre alles in Ordnung. Aber da tickt ja auch was.

Wir haben nach langer Recherche endlich eine Beratungsstelle gefunden, die auf den Missbrauch von Jungen spezialisiert ist: die KIBS (Kontakt- und Informationsstelle für männliche Opfer sexueller Gewalt). Die ist aber in München. Dort hat man uns eine spezialisierte Therapeutin in Neu-Ulm genannt. Aber warum bekommen wir so eine Adresse nicht gleich vom Jugendamt oder von der Polizei? Da braucht es eine viel bessere Vernetzung. Lars ist zweimal für sechs Wochen zwangsweise in die Psychiatrie eingeliefert worden.

Da haben sie mit ihm einen Entzug gemacht, aber auf das Thema Missbrauch ist da niemand eingegangen. Dabei haben sie die Information natürlich gehabt und selbst eine schwere Posttraumatische Belastungsstörung bei ihm diagnostiziert. Lars trinkt jetzt wieder. Er duscht höchstens einmal pro Woche und ist kurz vor der Verwahrlosung.

Eine weitere Therapie scheitert an den Kosten. Die Krankenkasse übernimmt zwar die Kosten für eine ambulante Therapie, aber eine Langzeittherapie in geschlossener Unterbringung, die Lars bräuchte, müssten wir selber zahlen, denn dafür ist wieder das Jugendamt zuständig. Die durch das Sozialgesetzbuch geregelte Kostenbeteiligung nötigt den Eltern den letzten finanziellen Spielraum ab. Das kann ich nicht bezahlen.

Ich habe doch jetzt schon einen gut fünfstelligen Betrag für Anwälte und Therapeuten ausgegeben. Den Täter können wir aber dafür auch nicht haftbar machen, denn das Strafverfahren ist ja eingestellt. Und eine Unterstützung nach dem Opferentschädigungsgesetz ist schwierig, wenn es kein Verfahren gibt.

Das Verfahren könnte dann wieder aufgenommen werden, wenn ein aussagepsychologisches Gutachten von Lars gemacht werden könnte. Lars hat aber eine solche Angst vor dem Täter, dass er das nicht machen will. Er sagt, der Täter hätte damit gedroht, Leute aus dem kriminellen Milieu zu beauftragen, uns alle fertigzumachen. Da beißt sich die Katze in den Schwanz.

Ich glaube, dass es grundsätzlich für Jungen noch mal schwieriger ist, einen Missbrauch zu thematisieren. Dieser Prozess des Mannwerdens, in dem diese ganzen Anforderungen gestellt werden – „Du musst stark sein!“ und „Es tut schon nicht weh!“ – das macht es sehr schwer auszusprechen, dass da eben doch was weh getan hat. Man fühlt sich auch schuldig daran, dass so etwas passieren konnte, denn irgendwas stimmt ja dann mit einem nicht.

Man denkt: Wenn ein Mann einen Jungen penetriert, dann ist mit dem Jungen was nicht in Ordnung. Sonst würde der Mann das nicht tun. Man fragt sich: „Wieso macht ein Mann das mit mir? Bin ich kein richtiger Junge? Schau ich aus wie ein Mädchen?“ Ich kann mich gut an meine Pubertät erinnern. Da hatte ich viele Mädchenbekanntschaften und war auch relativ umschwärmt.

Aber ich war auf eine gewisse Weise gehemmt. Ich war nie ein Haudrauf oder der Superkerl. Ich war auch als Jugendlicher immer zurückhaltend und freundlich. Ich war diplomatisch bis zum Umfallen und bin das auch heute noch. Bis heute ist da bei mir auch ein gewisses Misstrauen. Ich beobachte mein Gegenüber sehr genau, das ist wie ein Scan-Vorgang.

Mit meiner Frau habe ich erst jetzt über meinen eigenen Missbrauch gesprochen. Sie hat damit große Probleme. Sie hat 12 Jahre lang in einer Jugendeinrichtung für suchtvorbeugende und suchtbegleitende offene Jugendarbeit gearbeitet. Sie hat Mädchenarbeit gemacht und sich auch bei Wildwasser engagiert. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, ist das, was gerade bei uns passiert, für sie der Super-GAU.

Aber ich muss zugeben, dass ich auch selbst abblocke. Sie hat mir vorgeworfen: „Warum hast du mir das nie erzählt?“ Die Frage ist berechtigt. Ich hab da ja schon ein Päckchen mit in die Beziehung gebracht. Und jetzt mach ich das nach 18 Jahren einfach mal so auf. Wie soll sie damit auch zurechtkommen? Meinem Sohn hab ich natürlich auch davon erzählt. Seitdem bin ich für ihn „das Opfer“. Das ist schon sehr verletzend.

Er ist sehr clever darin, die wunden Punkte bei Menschen zu finden. Manchmal habe ich ihn erreicht. Aber das waren dann oft sehr verworrene Gespräche. Für Männer gibt es eine enorme Barriere, über eine solche Erfahrung zu sprechen. Die Vorstellung, dass ich mit meinem Kumpel über meinen Missbrauch spreche – nein, das läuft nicht. Meiner Meinung nach muss es eine besondere Situation geben, die einen Jungen oder einen Mann dazu bringt, darüber zu reden. Bis es soweit kommt, muss wirklich elend viel passieren. Ansonsten macht man das Problem mit sich allein aus.

Ich glaube schon, dass die Tatsache, dass jetzt das Thema in der Öffentlichkeit ist, diejenigen, die sich schon lange mit diesem Thema herumtragen, hilft zu sprechen.

Ob es auch den aktuellen und zukünftigen Opfern hilft, wage ich zu bezweifeln. Ganz einfach, weil ich fürchte, dass das Thema Missbrauch sehr schnell wieder in der Versenkung verschwinden wird. Was will man denn an diesem Runden Tisch jetzt noch alles eruieren? Das Thema ist doch eigentlich alt. Und wir müssen uns doch nichts vormachen: Letztlich geht es ums Geld.

Was ich mir wünsche ist, dass es genügend Beratungsstellen auch für missbrauchte Jungen und Männer gibt – und dass man auch weiß, wo man die findet. Da suchen sie nämlich verdammt lange. Und dort müssen betroffene Familien Hilfe bekommen, und zwar problemlos und sofort. Sechs Wochen Wartezeit können nämlich in so einem Fall sehr lang sein. Wichtig ist, dass auch die Eltern Unterstützung bekommen. Die brauchen sie nämlich dringend."

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