Herrin des eigenen Schicksals

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Das "Andere Geschlecht" wurde bisher üblicherweise als Beauvoirs Auslegung der in "Das Sein und das Nichts" entwickelten Sartreschen Philosophie im Hinblick auf die Frauenproblematik gewertet. Die Bestrebungen, gegen die Sichtweise anzugehen, Beauvoirs Philosophie habe erst mit Sartre begonnen, waren bis vor kurzem mit einem schier unlösbaren Problem konfrontiert: Es fehlten philosophische Texte Beauvoirs, die vor ihrer Beziehung mit Sartre entstanden.

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Aber das änderte sich nach Beauvoirs Tod im Jahre 1986 mit der Entdeckung ihrer Tagebücher aus der Studienzeit von 1926 bis 1930 durch Sylvie Le Bon Beauvoir. In dem Tagebuch aus dem Jahre 1927, als Beauvoir noch Philosophiestudentin an der Sorbonne war, und zwei Jahre vor ihrer ersten Begegnung mit Sartre im Jahre 1929, finden wir Beweismaterial: Das Tagebuch von 1927 zeigt Beauvoirs leidenschaftliches Engagement für die Philosophie: "Oh, ich weiß jetzt genau, wie mein Leben aussehen wird: leidenschaftliche, hingebungsvolle Forschung.

Ich habe bisher nicht gewusst, dass man sich aus metaphysischer Verzweiflung nach dem Tod sehen kann; alles dem Verlangen nach Wissen opfern; nur für die eigene Rettung leben. Ich wusste zuvor nicht, dass jedes System eine glühende, stürmische Sache ist, lebenswichtig, ein Drama im wahrsten Sinn des Wortes - und nicht nur die abstrakte Intelligenz fordernd. Aber nun weiß ich es, und ich weiß, dass ich mich mit nichts anderem mehr beschäftigen kann."

Hier zeigt sich Beauvoirs Drang zur Philosophie und auch schon ihre Kritik der "abstrakten Intelligenz", die ein unverwechselbares Merkmal ihrer späteren philosophischen Methodologie sind. Beauvoir überliest ihr Tagebuch später noch einmal, untersucht ihre eigenen Erfahrungen und definiert ihr zentrales Thema, das für ihr späteres Werk bestimmend sein wird: den Gegensatz zwischen dem Selbst und dem Anderen.

"Ich muss mit meinen philosophischen Ideen im Reinen sein. Die Probleme, die mich beschäftigt haben, vertiefen. Thema ist fast immer dieser Gegensatz zwischen meinem Selbst und dem Anderen, den ich von Anbeginn meines Lebens verspürte."

Der Konflikt zwischen dem Selbst und dem Anderen entsteht im Tagebuch für Beauvoir, als die Suche nach dem Selbst in Konflikt gerät mit der Suche nach Liebe. Ein Konflikt, der durch Beauvoirs Definition von Liebe als "sich be- herrscht fühlen" noch verschärft wird.

Beauvoir erkennt den Gegensatz zwischen dem Selbst und dem Anderen und die Problematik von Liebe und Unterdrückung. Sie definiert so zwei Jahre vor ihrer ersten Begegnung mit Sartre das Thema, das sowohl Sartres Werk "Das Sein und das Nichts" als auch ihr Werk "Das Andere Geschlecht" grundlegend bestimmt. Ob auch Sartre bereits im Jahre 1927 diese Leitmotive definiert hatte, bleibt noch zu beweisen. Wenn nicht, dann untermauert die Entdeckung von Beauvoirs Bestimmung dieser Themen aus dem Jahre 1927 die Ansicht, dass einige der Elemente der Philosophie, die später als der "Sartresche" Existentialismus berühmt wurden, ursprünglich von Beauvoir und nicht von Sartre entwickelt wurden.

Und was ist mit Beauvoirs These, dass man nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht wird? Können wir auch die in dem Tagebuch von 1927 ausfindig machen? Das Konzept setzt sich aus zwei Annahmen zusammen: 1. dass das Geschlecht sozial konstruiert ist, also ein Resultat aus Sozialisation in der Kindheit und Beschränkungen durch Gesetz und Kultur. 2. die Wahlfreiheit: die Ansicht, dass man sich erst zu dem Menschen machen muss, der man ist; und dass das Geschlecht ein (wenn auch beschränkter) Prozess des "Gemachtwerdens" ist und als solcher beeinflusst durch die gesellschaftlichen Mechanismen und die eigene Entscheidung.

Wir finden in Beauvoirs Tagebuch von 1927 beide Elemente: das Element der Sozialisation in der Kindheit und das Element der freien Wahl. Nehmen wir die folgende Passage vom 10. Juli, in der Beauvoir über die Versuchung des religiösen Glaubens nachdenkt und ihre Abkehr vom Katholizismus aus Kindheitstagen beteuert: "Heute morgen habe ich mir so leidenschaftlich gewünscht, das junge Mädchen zu sein, das bei den Morgenmessen seine Kommunion erhält, und die in eine sichere Gewissheit geht. Der Katholizismus von Mauriac, von Claudel ... wie er mich geprägt hat, und wie viel Raum es in mir für ihn gibt! Und dennoch weiß ich, dass ich ihn zukünftig nicht mehr kennen werde; ich wünsche, nicht mehr zu glauben: Der Akt des Glaubens ist der verzweifeltste Akt, den es gibt, und ich will, dass meine Verzweiflung wenigstens ihre Klarheit und Schärfe bewahrt.

Ich will mich nicht selbst belügen." In dieser Schlüsselpassage beschreibt Beauvoir, wie Kindheitserfahrungen ihr Bewusstsein geformt haben. Dieses Bewusstsein für Sozialisation markiert einen frühen Unterschied zu Sartre und ist auch der Schlüssel zu dem Konzept, dass man zur Frau gemacht wird. Aber trotz des starken Einflusses ihrer katholischen Erziehung wendet sie sich vom religiösen Glauben ab und bestätigt so die Macht der eigenen Entscheidung. Sie erlebt den religiösen Glauben nicht als auferlegt, sondern als eine Versuchung - eine, der sie schwört zu widerstehen.

Beauvoirs Bewertung der Klarsichtigkeit und die Verbindung, die sie zwischen religiösem Glauben und der Versuchung, sich selbst zu belügen, her- stellt, sind Schlüsselelemente des Konzepts der "mauvaise foi" (Unaufrichtigkeit - und auch: Selbstbetrug), das ein zentraler Punkt ihrer späteren Ethik sein wird. Beauvoirs Analyse dieses Konzepts, dass es in der nostalgischen Sehnsucht nach den Gewissheiten der Kindheit wurzelt, weist auf einen wichtigen philosophischen Unterschied zu Sartre, der zuerst von Debra Bergoffen erkannt wurde.

Das Tagebuch von 1927 liefert Beweise, dass Beauvoir die Geschlechterrollen wie auch den religiösen Glauben als geprägt durch die jeweiligen Verhältnisse ansah, womit die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit zur Veränderung vorgegeben ist. Aber die Erfahrungen, die sie bei der Veränderung der Geschlechterrollen machte, sind von einer tiefen Ambiguität gezeichnet. Beauvoir erlebt ein überbordendes Gefühl der Freiheit, als sie aus der Frauenrolle ausbricht, aber auch verzweifelte Furcht, als sie sich ihre einsame Zukunft ausmalt:

"Wie ich gestern die so schöne und einfache Mme. de Wendel beneidet habe, ohne Stolz und ohne Begehren! Ich habe geweint und über mein eigenes zukünftiges Schicksal nachgedacht, über all die Kraft und Anstrengung, die es mich kostet, ihm den Vorzug vor jedem anderen geben zu können." Beauvoir scheint entschlossen, es mit dieser ihr auferlegten Zukunft aufzunehmen.

Als sie außerhalb der traditionellen Frauenrolle der Ehefrau und Mutter ihre zukünftigen Schreibprojekte plant, erlebt sie die freudvolle Entdeckung ihrer persönlichen Kraft. "Am Freitag habe ich ein richtiges Lebensprogramm aufgestellt. In solchen Augenblicken ist meine Einsamkeit wie ein Rausch: Ich bin, ich (be)herrsche, ich liebe mich und verachte den Rest." Aber diese Erfahrung bleibt mit Ambiguität verhaftet: aufgrund der Einsamkeit, die mit dem Egoimus einhergeht, sehnt Beauvoir sich verzweifelt nach der traditionellen Frauenrolle: "Aber ich hätte selbst auch so gerne das Recht, sehr einfach und sehr schwach zu sein, eine Frau zu sein. In was für einer 'verwüsteten Welt' bewege ich mich, so unfruchtbar, und die einzige Oase, die es für mich gibt, ist die brüchige Wertschätzung, die ich mir selbst entgegenbringe. Ich zähle auf mich, ich weiß, dass ich mich auf mich selbst verlassen kann. Aber ich hätte es so gern nicht nötig, mich auf mich selbst zu ver-lassen."

Wie tief verzweifelt Beauvoir ist, als sie sich mit ihrer Zukunft ohne den Komfort der weiblichen Rolle auseinandersetzt, zeigt sich in einer späteren Randbemerkung zu obiger Passage vom 18. Mai 1929: "Könnte ich es heute noch aushalten so zu leiden wie damals, als ich diese Zeilen schrieb?"

Mit dieser Beschreibung der Diskrepanz zwischen der traditionellen Frauenrolle mit all ihrer Nestwärme und ihrer eigenen zukünftigen Einsamkeit legt Beauvoir den Grundstein für ihre im "Anderen Geschlecht" vorgestellte Analyse der Versuchung, als Mittäterin bei der eigenen Unterdrückung in der Rolle der "Anderen" zu fungieren. Hier tritt auch das Problem zutage, das Verlangen nach Freiheit einerseits und nach Liebe andererseits in Einklang zu bringen, das die Philosophin Karen Vintges als Schlüssel zu Beauvoirs Ethik identifizierte.

"Das Grauen der definitiven Wahl ist, dass man nicht nur das Ich von heute bindet, sondern auch das von morgen. Das ist es, warum die Ehe im Grunde unmoralisch ist." Dieser Satz aus Beauvoirs frühen Tagebüchern nimmt nicht nur den Voluntarismus aus dem "Anderen Geschlecht" vorweg, in dem Beauvoir die Frauen in die Verantwortung nimmt, der Versuchung der Abhängigkeit zu widerstehen und stattdessen Freiheit und Transzendenz zu wählen.

Es werden auch zwei Charakteristika des Bewusstseins definiert, die von Sartre in "Das Sein und das Nichts" definiert werden: freie Wahl und Zeitlichkeit. Die Qual an einer definitiven Wahl ist, wie Beauvoir es sieht, dass sie die Definition des Selbst nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft vornimmt. Viel eher als Sartres philosophisches Nachfolgemodell präsentiert das Tagebuch von 1927 also Beauvoir als philosophische Neuererin, deren beschriebene eigene Erfahrungen zentrale Bausteine des späteren Sartreschen Existentialismus vorwegnehmen.

Wenn also nicht Sartre, welche waren dann die wichtigsten philosophischen Einflüsse auf Beauvoir? Das Tagebuch von 1927 zeigt eine ganze Vielzahl von Einflüssen, der wichtigste darunter Henri Bergson. Und ein Schlüssel im "Anderen Geschlecht" ist ihre Berufung auf die Analogie mit dem Rassismus als Modell für Unterdrückung. Meine Nachforschungen ergaben, dass eine wichtige Quelle für Beauvoirs Verständnis des Rassismus Richard Wright war, der afroamerikanische Schriftsteller, dem Beauvoir in einem Interview mit Michel Fabre zugute hält, ihr "eine neue Version der Vorherbestimmung" geliefert zu haben.

Beauvoir hatte in den Vierzigern einen lebhaften Kontakt zu Wright. Beauvoir und Sartre veröffentlichten einige seiner Texte in "Les Temps Modernes", und auf Beauvoirs Reise in die Vereinigten Staaten im Jahre 1947 fungierte Wright als ihr sozialer und intellekueller Reiseleiter durch den amerikanischen Rassismus.

Ich konnte vier Bereiche von Wrights philosophischem Einfluss auf "Das Andere Geschlecht" ausmachen: W.E.B. DuBois Konzept des doppelten Bewusstseins Farbiger; Wrights phänomenologische Beschreibungen von Unterdrückungserfahrungen Farbiger; Wrights Kritik am marxistischem Reduktionismus und Wrights strategischer Gebrauch des Konzepts der Andersartigkeit im Interesse der schwarzen Befreiungsbewegung. Wrights philosophischer Einfluss auf Beauvoir markiert also einen bisher unerkannten historischen Moment der Verbindung zwischen der feministischen Bewegung und dem afroamerikanischen Freiheitskampf.

Margaret A. Simons, Übersetzung: Antje Görnig, EMMA Mai/Juni 1999

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