Skandal um ein Schulbuch

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Das Thema, das die SchülerInnen der 10. Klasse am Siegburger Gymnasium Alleestraße an diesem Morgen in der Philosophiestunde behandeln sollten, versprach eine spannende Diskussion. „Gibt es eigentlich moralische Normen, die für alle Menschen verbindlich sind, oder hat jede Kultur ihre eigenen und für sie gültigen Normen?“, hieß es im Schulbuch „Zugänge zur Philosophie“, und weiter: „Gerade nachdem die europäische Zivilisation jahrhundertelang die Wertvorstellungen anderer Kulturen, die sie für minderwertig hielt, rücksichtslos durch Gewalt oder Missionierung verdrängt hat, sind wir zu Respekt anderen Kulturen gegenüber verpflichtet. Aber folgt daraus schon, dass man auf jede Kritik anderer Vorstellungen verzichten muss, dass es keinen Maßstab für eine solche Kritik gibt?“

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Das Beispiel, anhand dessen die SchülerInnen diese Frage diskutieren sollten, stand dort ebenfalls: „Ein türkischer Familienvater in Deutschland verheiratet seine Tochter ohne deren Einverständnis mit dem Sohn seines verstorbenen Bruders, um diesem eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland und damit eine Existenz zu sichern.“ Ein durchaus aktuelles Beispiel, möchte man meinen: Allein in Deutschland wenden sich schließlich Tausende Mädchen im Jahr an Beratungsstellen, um einer erzwungenen Ehe zu entkommen. Im Jahr 2021 gab es 77 Strafverfahren wegen Zwangsheirat.

NRW-Ministerin Yvonne Gebauer entschuldigte sich. Schulbuchautorin Eva Sewing findet das ein fatales Signal.
NRW-Ministerin Yvonne Gebauer entschuldigte sich. - Schulbuchautorin Eva Sewing findet das ein fatales Signal.

Doch auf die Philosophie-Stunde folgte ein Shitstorm in Orkanstärke gegen das Gymnasium. Die „Föderation Türkischer Elternvereine in NRW“ (Fötev) schrieb einen Brandbrief an NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) und warf der Schule vor, mit der „extrem vorurteilsbehafteten Aufgabe“ das „Vokabular rechtsradikaler Populisten“ zu verwenden. Auch die Siegburger DITIB beschwerte sich, klar.

Folge: Eine Serie von Entschuldigungen. Die Schulleitung entschuldigte sich „bei allen, die sich verletzt fühlen könnten“. Das NRW-Schulministerium entschuldigte sich und erklärte, die Aufgabe verstoße gegen das „Kriterium der Diskriminierungsfreiheit“. Schließlich versicherte auch der Cornelsen-Verlag, Herausgeber des Schulbuchs: Die fragliche Aufgabe werde in der neuen Auflage so nicht mehr auftauchen.

Existierende Gesellschafts-Konflikte in der Schule lieber nicht ansprechen?

Nun aber meldeten sich die fünf AutorInnen des Schulbuchs zu Wort. In der Aufgabe würden die Schüler ausdrücklich dazu aufgefordert, „die Perspektiven von Menschen unterschiedlicher Kulturen einzunehmen“, erklärten sie in ihrer Stellungnahme, und fordern: „Die in unserer Gesellschaft existierenden Konflikte müssen auch in der Schule angesprochen werden können. Mehr als anderswo ist dort ein rationaler Diskurs über diese Konflikte möglich – und dieser Diskurs sollte auch in Zukunft weiter möglich sein.“

Das scheint das NRW-Schulministerium anders zu sehen. Es stimmte einem Vorschlag des Verlags zu, in dem das Thema Zwangsheirat überhaupt nicht mehr vorkommt. Doch die AutorInnen kämpften um die Aufgabe. Schließlich blieb sie in der Neuauflage des Schulbuchs, allerdings in einer abgesofteten Variante: So darf zum Beispiel die Nationalität des Vaters nicht mehr genannt werden.

„Empörend“ findet Eva Sewing, eine der fünf AutorInnen, das Verhalten des Schulministeriums. Hier sei „ein fatales Signal gesendet worden, und zwar an Lehrer, Schüler, Schulbuchautoren und Verlage: Hier soll ein Dialog verhindert und ausradiert werden!“

Dabei hätte der Schulministerin klar sein können, dass es sich hier keineswegs um einzelne „verletzte“ türkische Eltern handelte, sondern um eine politische Strategie. Öffentlich gemacht hatte die Schulaufgabe nämlich nicht irgendwer, sondern der Solinger Rechtsanwalt Fatih Zingal, seines Zeichens Pressesprecher der „Union Internationaler Demokraten“ (UID). Die Bundesregierung bezeichnet die UID als einen „von Funktionären der AKP beaufsichtigten Lobbyverein“ mit dem erklärten Ziel, „den politischen Willensbildungsprozess in Deutschland im Sinne der AKP zu beeinflussen“. Für den türkischen Präsidenten Erdoğan ist die Mission der UID ein „heiliger Kampf“. Es ist der Courage der fünf SchulbuchautorInnen zu verdanken, dass Erdoğan ihn diesmal nicht gewonnen hat.

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