So begann der Kampf um Tierrechte

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Am 15. September 1906 wird auf dem Latchmere Recreation Ground, einem kleinen Park im Londoner Stadtteil Battersea, feierlich ein Denkmal eingeweiht. Die Reden halten Charlotte Despard, eine bekannte Suffragette, und der Dramatiker George Bernard Shaw. Die Statue, ein Terrier, der auf einem 2,30 m hohen Granitsockel steht, wird in den kommenden Jahren für gewaltigen Aufruhr sorgen.

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Medizinstudenten werden das Denkmal mit Brechstangen und Vorschlaghämmern traktieren (weshalb es der Bezirksrat zeitweise rund um die Uhr bewachen lässt). Eine Petition mit 20.000 Unterschriften für den Abbau des Denkmals wird eingereicht. Ein 500-köpfiges Komitee hingegen kämpft für den Erhalt der Statue. Immer wieder protestieren hunderte Medizinstudenten gegen die Statue, am 10. Dezember kommt es am Trafalgar Square zu einer Straßenschlacht zwischen 1000 randalierenden Demonstranten und 400 Polizisten.

Eine Woche später stürmen die gleichen Männer, die gegen das Tier-Denkmal protestierten, einen Suffragetten-Kongress. Auf dem Granitsockel sitzt unerschüttert der Terrier und schaut seine BetrachterInnen mit gespitzten Ohren und wachem Blick an. Die Inschrift lautet: „Im Gedenken an den braunen Terrier, der im Februar 1903 in den Laboren des University College of London zu Tode gebracht wurde, nachdem er zwei Monate der Vivisektion erdulden musste und von einem Vivisektor zum nächsten gereicht wurde, bis der Tod ihn erlöste. Auch im Angedenken an die 232 Hunde, die am selben Ort im Jahre 1902 lebendig seziert wurden. Männer und Frauen von England, wie lange sollen diese Dinge fortbestehen?“ Das Denkmal und die Proteste dagegen werden als „Brown Dog Riots“ in die Geschichte eingehen.

Sogar die New York Times berichtete über das Mahnmal für den Terrier, der zum Symbol für die grausame Praxis vieler Medizin-Fakultäten wurde, Tiere bei lebendigem Leib und oft ohne Betäubung zu sezieren. Das Verbot dieser so genannten „Vivisektion“ wurde eine der wichtigsten Ziele der britischen Tierrechtsbewegung, die zu diesem Zeitpunkt eine bedeutende Kraft im Königreich geworden ist.

Doch warum stürmten die erzürnten Medizinstudenten ausgerechnet eine Veranstaltung der Suffragetten? Weil viele Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht gleichzeitig Kämpferinnen für Tierrechte waren. „Das Engagement für Tiere war eine der wenigen Möglichkeiten für Frauen, sich sozial zu engagieren. Viele Frauen haben sich dann im Tierschutz politisiert“, erklärt Mieke Roscher, die deutschlandweit erste Professorin für die Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen (siehe Interview Seite 90). Roscher hat die Historie der britischen Tierrechtsbewegung erforscht und weiß: „Die Frauen - bewegung in Großbritannien hat ihre Wurzeln in der Tierschutzbewegung.“ Und natürlich erkannten schon die Pionierinnen von Frauen- und Tierrechtsbewegung die Parallelen: Frauen und Tiere waren traditionell gleichermaßen ein rechtloser Teil des Hausstandes, der Hausherr gebietet über beide, bei Bedarf mit Gewalt.

Die erste, die diesen Zusammenhang in ihren Schriften öffentlichkeitwirksam benennt, ist Frances Power Cobbe (1822–1904). Die Artikel, die die Tochter aus gutem Hause ab den 1860er Jahren über Frauenrechtsfragen publiziert, tragen Titel wie „Truth on Wifes Torture“ (Die Wahrheit über das Leid der Ehefrauen) und prangern die Rechtlosigkeit von Frauen an, die mit der Eheschließung sämtliche bürgerlichen Rechte verlieren.

Auch die Gewalt gegen (Ehe)Frauen ist ein Thema für Cobbe, die selber mit Frauen lebt. Aber die Frauenrechtlerin weiß nur zu gut, dass es noch andere Lebewesen gibt, die der Brutalität des Hausherrn ausgesetzt sind und wendet sich auch ihnen zu: den Tieren, die für die gläubige Christin genauso „Gottes Kreaturen“ sind wie Menschen. Im Jahr 1875 gründet Frances Power Cobbe die „Society for the Protection of Animals Liable to Vivisection“ ins Leben – weltwelt die erste Organisation gegen die Abschaffung der Experimente an lebenden Tieren.

Cobbe, die laut Tierhistorikerin Roscher die „prominenteste Antivivisektionsaktivistin des viktorianischen Zeitalters“ wird, analysiert die „häusliche Gewalt gegenüber Frauen als Verlängerung der Gewalt gegenüber Tieren“. Sie fordert das Frauenwahlrecht, die „wichtigste Schlacht der Geschichte“, um beides zu beenden.

Der Pionierin Cobbe folgen viele britische Frauenrechtlerinnen. Zum Beispiel Charlotte Despard (1844–1939), die 1906 bei der Enthüllung des Brown-Dog-Denkmals die Eröffnungsrede hielt. Die Offizierstochter war sowohl Mitglied der 1903 von Emmeline Pankhurst gegründeten „Women’s Social and Political Union“ (WSPU) als auch der „London Vegetarian Society“. Sie erklärte: „Je eher wir das Frauenwahlrecht erhalten, desto eher werden wir dann in der Lage sein, Hunde von Missbrauch und Grausamkeit zu emanzipieren.“

Auch Frauenrechtlerin Gertrude Baillie Weaver (1855–1926) war Vegetarierin und gründete gemeinsam mit ihrem Mann Harold, seines Zeichens Mitglied in der „Men’s League for Women’s Suffrage“, die Tierschutzorganisation „National Council for Animals’ Welfare Work“. Die Romanautorin würde später die Biografie über Emily Wilding Davison schreiben, jene Suffragette, die sich 1913 beim Epsom Derby vor das Pferd des Königs warf, um den Kampf für das Frauenwahlrecht voranzubringen. Sie starb an ihren Verletzungen.

Auch in den USA und in Deutschland gibt es Überschneidungen zwischen der Frauen- und Tierrechtsbewegung. So sind Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg, Deutschlands bekannteste Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht, überzeugte Vegetarierinnen und betreiben im Umland von München einen „ökologischen“ Bauernhof.

Die amerikanischen Feministinnen der ersten Stunde, Elisabeth Cady Stanton, Susan B. Anthony oder Amelia Bloomer, „übernahmen ebenfalls den Vegetarismus und sympathisierten mit der Tierschutzidee“, berichtet Mieke Roscher. „Die konzeptionelle Aufnahme von Tierschutz fand hier jedoch nicht denselben Platz.“ Nicht denselben Platz wie in Großbritannien. Es dürfte kein Zufall sein, dass das Land mit der größten und militantesten Frauen(wahl)rechtsbewegung gleichzeitig die größte und militanteste Tierrechtsbewegung hatte.

Eine ihrer mutigsten Vertreterinnen war Lizzy Lind-af-Hageby, die Urheberin der Brown Dog Riots. Die Anwaltstochter und gebürtige Schwedin hatte am englischen „Cheltenham Ladies College“ eine für die damalige Zeit ungewöhnlich gute Ausbildung erhalten. Als Feministin kämpfte sie in der „Women’s Freedom League“ für das Frauenwahlrecht und gegen Prostitution. Als Tierrechtlerin schrieb sie sich 1902, gemeinsam mit ihrer Freundin Liesa Schartau, an der „London School of Medicine for Women“ ein.

Die Frauen-Fakultät verzichtete auf Versuche an lebenden Tieren. Gleichzeitig durften Studentinnen an Medizin-Seminaren des „University College of London“ teilnehmen, das als Zentrum für Tierversuche in England berühmt und berüchtigt war. Die beiden Frauen schlichen sich auf diese Weise in die Labore ein. Was sie dort an Grausamkeit erlebten, schilderten sie in ihrem Buch „Eye-Witnesses“ (Augenzeugen), das 1903 erschien und die Debatte um ein Verbot der Vivisektion enorm anheizte. In einem Kapitel, das sie schlicht „Fun“ genannt hatten, beschrieben Hageby und Schartau, wie Professoren und Medizinstudenten im Angesicht des Leids der gequälten Tiere lachten und scherzten. Die Empörung war groß.

Nun wurde es allmählich heikel für die Herren Mediziner und sie schlugen zurück – mit einer Verleumdungsklage. Darin ging es um den kleinen braunen Terrier. Die beiden Medizinstudentinnen hatten in ihrem Buch dem Medizinprofessor William Bayliss vorgeworfen, den Hund mehrfach ohne Betäubung für seine Forschung über den Zusammenhang von Nervensystem und Bauchspeicheldrüse gequält zu haben. Das aber hätte gegen den „Cruelty to Animals Act“ verstoßen, ein Gesetz gegen Grausamkeit an Tieren, das TierrechtlerInnen im Jahr 1876 erkämpft hatten. Es sah vor, dass ein Tier nur einmal „benutzt“ werden durfte und dabei betäubt sein musste. Ausnahmen waren „im Dienste der Wissenschaft“ allerdings erlaubt.

Bayliss bestritt die Vorwürfe und gewann schließlich den Prozess. Lizzy Lind-af-Hageby und ihre Mitstreiterinnen beschlossen, dem Hund ein Denkmal zu setzen. Kurz nach dessen Einweihung am 15. September 1906 beginnt die Schlacht um das Monument, die de facto ein Kampf von (überwiegend) Frauen gegen das bis dato unangefochtene Zugriffsrecht von (überwiegend) Männern auf andere, schwächere Kreaturen ist. „Es war eine Schlacht zwischen den Geschlechtern“, analysiert Richard Ryder in seinem Buch „Animal Revolution“, „insbesondere zwischen Machismo und Feminismus“.

Die Schlacht dauert vier Jahre. Am 10. März 1910 lässt der neue Bezirksrat das Denkmal in einer Nacht-und-Nebel-Aktion entfernen. Die AntivivisektionistInnen organisieren einige Tage später eine Demonstration mit 3 000 TeilnehmerInnen, aber der Rat bleibt hart.

Im Jahr 1985 besann sich die „National Antivivisection Society“ auf die „Brown Dog Riots“ ein dreiviertel Jahrhundert zuvor und stiftete ein neues Mahnmal. Die Inschrift erklärt: „Tierversuche stellen einen wesentlichen ethischen Streitpunkt in unserer Zeit dar und sollten in einer zivilisierten Gesellschaft keinen Platz haben. 1903 litten und starben 19 084 Tiere in britischen Laboren. 1984 wurden  3 497 355 Tiere verbrannt, geblendet, verstrahlt, vergiftet und zahllosen weiteren schreckenerregend grausamen Experimenten in Großbritannien unterworfen.“

In Deutschland sterben jährlich drei Millionen Versuchstiere. Der braune Hund von Battersea, dem die historischen Tierrechtlerinnen vor 115 Jahren ein Denkmal widmeten, gemahnt auch daran.

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