Susianna Kentikian: Die Weltmeisterin

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Sie ist die kleinste Profiboxerin, aber Weltmeisterin im Fliegengewicht. Und sie hat mit ihren Fäusten die ganze Familie durchgeboxt.

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Plötzlich ist die Halle wieder wach. Bei den beiden Kämpfen zuvor hatte Grabesstille geherrscht. Dann, zwanzig Minuten nach Mitternacht, kommt Susi Kentikian. Und zack, bumm, tobt der Saal. Als "German Darling" wird die Armenierin in der Kölner Fight Night Arena angekündigt. Sie marschiert ein zu den Klängen von Queens ‚Killer Queen‘. Der Titel ist Programm. Denn jetzt geht die Post ab.
Susi Kentikian ist schnell. Unglaublich schnell. Die mit 1,55 Metern kleinste Profiboxerin der Welt schlägt selten nur einmal zu. Rechts, links, rechts klatschen ihre Fäuste der französischen Herausforderin Nadia Hockmi um die Ohren. Blitzschnell weicht das Kraftpaket Kentikian den Schlägen der Gegnerin aus und – batschbatschbatsch – landen die Boxhandschuhe wieder dreifach an Hockmis Kopf. Elf ihrer 14 Profikämpfe hat die 19-Jährige durch k.o. gewonnen.
"Im Ring muss man schon gnadenlos sein", erklärt Susianna, genannt Susi, am nächsten Tag und lacht. Sobald sie nämlich den Kampfort verlässt, verwandelt sich die Killer Queen in eine quirlige junge Frau, die mädchenhaft kichert und freundlich erklärt, wie man die traditionelle weibliche Beißhemmung gegenüber der Gegnerin überwindet: "Wenn du nicht triffst, dann gewinnst du nicht." So einfach ist das. Überhaupt ist "Fußball viel gefährlicher als Boxen", sagt Susi, weil man da schon mal aus Versehen ein Knie in die Zähne kriegt statt absichtlich einen Boxhandschuh aufs Auge. Und lacht wieder.
Dass Susi Kentikian sich schon als Zwölfjährige fürs Boxen begeistert hat, verwundert nicht, wenn man ihre Geschichte kennt. Die Familie Kentikian flüchtete aus Eriwan, als Susi fünf war. Es herrschte Bürgerkrieg um die umkämpfte Region Berg Karabach, und dem Vater, der bis dato als Lokführer gearbeitet hatte, stand die Einberufung bevor. Nun begann eine Odyssee über Berlin, Moldawien und Hamburg, die eigentlich erst seit drei Jahren zu Ende ist. Bis 2004 waren die Kentikians "Personen ohne Bleiberechtsperspektive", die von Asylbewerberheim zu Asylbewerberheim verschoben wurden und die alle vier mit vielen Putzjobs versuchten, "dem Staat nicht auf der Tasche zu liegen". Einmal klingelte im Morgengrauen die Polizei und ließ Kofferpacken. Das Flugzeug nach Armenien ginge in drei Stunden. Susis Boxtrainer konnte die Abschiebung in allerletzter Minute stoppen.
Es war Susi Bruder Mikael gewesen, der seine kleine Schwester eines Tages mit zum Boxtraining genommen hatte. "Ich war bis dahin immer ruhig, hab alles in mich reingefressen. Beim Boxen konnte ich plötzlich alles rauslassen!" Den besorgten Vater überzeugte Susis Trainer, indem er ihm vom Talent seiner Tochter vorschwärmte. Die Frage, ob sich Boxen für ein Mädchen schickt, stellte sich für Susi nicht. "Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht, ob ich ein Mann oder eine Frau bin." Wichtig war einzig und allein, dass ihr das Boxen "ein Megaselbstbewusstsein gegeben hat. Ich würde es jedem Menschen empfehlen, der unzufrieden mit sich ist".
Sehr bald galt die junge Armenierin als "Million Dollar Baby" – als größte deutsche Boxhoffnung nach Regina Halmich. "Die Regina", sagt Susi, "die hat es viel schwerer gehabt. Die musste noch die ganzen Angriffe auf das Frauenboxen einstecken." Anfang 2005 bekam Kentikian, die geschlechtsbedingte Buhrufe nur noch vom Hörensagen kennt, einen Profivertrag im Hamburger Boxstall Universum. Hamburger Meisterin, Norddeutsche Meisterin, Deutsche Meisterin. Ein Weltmeisterschaftskampf war noch nicht drin, weil Susi noch ihren Realschulabschluss machen wollte und deshalb nur einmal am Tag trainieren konnte – nach der Schule. Ihr Abitur macht sie gerade im Fernstudium, ihren ersten WM-Kampf absolvierte sie im Februar gegen die Venezolanerin Carolina Alvarez. Resultat: Technischer k.o. für Kentikian.  
Bisweilen schreibt die Presse, die 1,55 Meter-Frau boxe "wie ein Mann". Das findet die Boxerin ganz und gar blöd. "Was soll das denn überhaupt heißen? Es geht doch darum, was für einen Stil man hat – und der ist nicht nach Geschlechtern getrennt."
Auf ihren muskulösen Körper ist sie "sehr stolz". Regina Halmich, ihr großes Idol, hat sich für den Playboy ausgezogen. Für sie selbst kommt das nicht in Frage. "Ich bin Sportlerin. Und ich möchte als Sportlerin Erfolg haben", sagt sie. "Ich kann auch anders zeigen, dass ich schön bin."   
Dass ihre Geschichte als eine Art Heldinnengeschichte – junge Armenierin rettet mit sensationellem Boxerfolg ihre Familie – erzählt wird, will Susianna Kentikian nicht. "Wir haben alle gearbeitet", sagt sie. Die Aufenthaltsgenehmigung ist durch, ihr Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft läuft. 
An diesem Abend in der Kölner Fight Arena wird für Susi Kentikian die deutsche Nationalhymne gespielt. Heute ist es kein k.o.-Sieg. Trotzdem: Titelverteidigerin Susi Kentikian trägt einen Sieg nach Punkten davon und bleibt Weltmeisterin im Fliegengewicht. "Das Tolle ist", sagt sie, "dass da zwei Leute im Ring sind und nur eine gewinnen kann. Und dass ich es dann ganz allein geschafft hab!"

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