Tagebücher: Ich liebe mich und mein Leben

Artikel teilen

Die folgenden zwei Auszüge aus den „Cahiers de jeunesse“ von Simone de Beauvoir zeigen sie im Abstand von zwei Jahren, im April 1927 und im April 1929, im Alter von 19 und 21 Jahren. 1927 ist sie Studentin an der Sorbonne und besucht nebenbei auch Vorlesungen in Sainte-Marie de Neuilly und am Institut Catholique. Sie bereitet sich gleichzeitig auf ein Staatsexamen (die Licence) in Philosophie und auf ein weiteres in klassischer Literatur vor. Wir stoßen auf die Namen ihrer engsten Freundin Zaza und ihrer Schwester Poupette, lesen Anspielungen auf ihre Tätigkeit bei den von Robert Garric gegründeten Équipes Sociales, die in christlichem Geist Arbeiter und Studenten einander näherbringen wollten. Ihr Cousin Jacques, für den sie eine ebenso hartnäckige wie eingebildete Liebe empfindet, hat sie bei diesen Sozialgruppen eingeführt. Sie hält Vorträge in Belleville (einem Arbeitervorort von Paris, Anm.d.Übers.) und gibt für Kranke Fernunterricht. Im darauf folgenden Jahr hat sich die artige Studentin sehr verändert. Gewiss arbeitet sie immer noch so intensiv und besteht mit Glanz die Prüfungen. Sie hat jedoch einen wichtigen Entschluss gefasst: Sie will ihr Studium beschleunigen und sich schon 1929, ein Jahr früher als vorgesehen, für die Agrégation einschreiben. Sie ist nämlich der Vormundschaft ihrer Eltern überdrüssig und flieht bei jeder Gelegenheit, um in anrüchigen Vierteln heimliche Abende zu verbringen. Sie strebt nach dem „wahren Leben“. Das ist der Zeitpunkt, da sie sich in Richtung echter Emanzipation bewegt und die Gren­zen ihrer Erziehung und ihres Milieus sprengt. – Sylvie Le Bon de Beauvoir

Anzeige

Sonnabend, 30. April 1927
Ah! Ich liebe mich und ich liebe mein Leben. Eben habe ich die gestern in dieses Heft geschriebenen Seiten wieder gelesen; und zusammen mit den Reflexionen dieser Tage über mich ergibt das einen wunderbaren Rausch. Wie das alles sagen?

Donnerstag habe ich in der Philosophiegruppe mit Studenten, schwachen, doch nicht ohne einen gewissen Wert, diskutiert. Gestern kamen Fräulein Blomart und Zaza zum Nachmittagskaffee, und wir haben uns lange unterhalten. Ich hatte mit Poupette zwei Gespräche, bei denen ich mich selbst besser verstanden habe. Schließlich strahlte die Sonne während dieser zwei Tage und das Studium des Griechischen macht mir Spaß. Meine Kraft! Sie zu besingen hätte ich gern den begeisterten Stolz eines Rivière (Schriftsteller, Anm.d.Übers.).

Gestern blickte ich vor der Tür zur Bibli­othek in den Hof der Sorbonne und entdeckte, wie Cocteau in „Le Secret pro­fession­nel“ sagt, dass wir plötzlich die zu vertrauten Dinge entdecken; die Studenten, die im Licht liefen, schienen von meinem Geist geschaffen; ich fühlte, wie das Leben mich ganz in Besitz nahm; die Erinnerungen an Bücher, an Bilder, die ich gemocht hatte, kehrten in Fülle zurück. Ebenso, als ich mich gestern schlafen legte: Ich bin es, ich, die im Mittelpunkt dieses Lebens steht. Doch es ist unnütz, Worte werden diese Gewiss­heit nicht wiedergeben.

Das Leben ist schön mit allen schönen Gemälden, die Menschen darin malen, den wunderbaren Büchern, die sie darin schreiben, mit dem Denken und den Systemen, die sie errichten; es ist schön wegen der intelligenten und sensiblen Wesen, die in ihm leben, wegen der Sonne der warmen Tage und der Frische der ein wenig grauen Vormittage; schön wegen der einfachen Bekannt­schaften und der tieferen Freundschaften. Es ist schön mit all meinem Reichtum! Ich bin so reich! Kleines Mädchen des Cours Désir, das von alldem nichts ahnte, genügten dir wirklich achtzehn Monate für derartige Eroberungen? So viele Verse singen in meinem Kopf! So viele Bilder in der Tiefe meiner Augen, so viel Wissen in meinem Gehirn, und in meinem Herzen so viele Menschen, die zu kennen ich glücklich bin! Und dann ich, ich … Ich denke, es ist lächerlich, doch nach soviel Widerwillen, und in der Gewissheit, ihn morgen wieder zu finden, kann ich da nicht fröhlich sein, mich so zu finden? Ohne Überschwang, jedoch mit dieser sicheren Gewissheit meiner selbst, die ich im letzten Jahr erfahren habe.

Ich liebe mich dafür, dass ich so leidenschaftlich sein konnte, dass ich „nichts vorü­bergehen ließ, ohne mir daraus Liebe und Leben zu nehmen“, vor allem dafür, dass ich so intelligent bin! Das weiß ich, dass ich es bin. Ich kann mich niemanden nähern ohne zu finden, dass ich schneller verstehe, schneller tiefe und unvorher­ge­se­hene Beziehungen erfasse. Nur bei Jacques finde ich die gleiche Geschwindigkeit.

Allerdings ist da noch etwas! Cocteau hat ja gesagt „Sei nicht zu intelligent“, und Fräulein Blomart und Poupette stürzten mich gestern in Abgründe von Gedanken. Es gibt Menschen, die ich schätze und liebe, (…) die besorgt sind, jedoch wenigstens einige Überzeugungen haben, an die sie sich klammern: Sie bauen ihr Leben darauf auf; und auf dieser fest errichteten Ebene brauchen sie nur noch ihr Leben sich entfalten lassen …

Als ich vorhin aufwachte, habe ich gefühlt, wie sehr ich an solchen grauen Morgen eilig aufstehen möchte und ruhig, brennend einer friedlichen Aufgabe entgegengehen wollte, die ich für nützlich hielte und bei der es lediglich darum ginge, sie gut zu erfüllen. Eine Flamme sein … das Gute tun … sich geben (…)

Ja, ich habe gestern Abend darunter gelitten, nicht so wie sie zu sein, und dass ich es hätte – vielleicht – sein können. Und zugleich sagte ich mir: wozu? wozu? Im Grunde befinde ich mich in einer paradoxen Situation: Ich spüre meine Intelligenz, und welche positive Macht sie haben könnte; ich möchte etwas tun, und wenn ich so oft an Barbier oder Baruzi denke, dann weil ich mich wie sie für ein philosophisches Werk begeistern möchte; ich fühle mich fähig, es zu einem guten Ende zu führen. Ich spüre auch meinen Willen, meine Fähigkeiten zu handeln, und ich möchte mich ganz einbringen in ein Werk, an das ich glaube. Etwas tun, wäre für mich eine umso größere Freude, als ich mich fähig weiß, etwas sehr Gutes zu tun. Diese Fähigkeiten selbst jedoch, die danach verlangen, nützlich zu sein, zeigen mir, welche Illusion es ist, den Anspruch zu erheben, zu etwas gut zu sein. Liegt es am Einfluss von Jacques oder ist es mein wahrstes Ich? Wenn ich Garric oder Barbier geliebt hätte, hätte ich dann ein vollkommenes Gleichgewicht erlangt? Oder hätte sich dieser kritische Geist dennoch geregt? Sollte man zuerst handeln, und hätte ich mir dann nicht mehr die Frage stellen müssen: Wozu handeln?

Montag, 8. April 1929
Ende der Ferien. Und morgens im Institut Catholique hatte ich beim Studieren von Leibniz und Locke die Illusion, dass ein endlich der Disziplin des Wettbewerbs unter­worfenes Jahresende leicht wäre. Um zwei treffe ich Merleau-Ponty in der Sorbonne, wir gehen bis zum Jardin du Luxem­bourg und plaudern über Green, Mauriac, Barrès. Wärme, ihn wieder zu sehen und auf dieser Café-Terrasse zu sein, so einfach. Doch nach der Vorlesung von Lalande und den paar Worten, die Can­dillac mir über Davos gesagt hat, stoße ich wieder auf meine Weigerung, die Neugier nach etwas anderem zu begraben.

Ich begleite Fräulein Richard durch den Jardin du Luxembourg, dann über den Boulevard Port-Royal bis zu ihrer Wohnung. Ich gehe hinauf. Tee, Dunkelheit, ein trauriges Gesicht, dessen Falten vom Schatten gedämpft werden; unterdrücktes Herz, das nicht versucht, sich aufzurichten, gebeugt unter der Tragödie ihrer einsamen Jugend. Sie spricht von Barbier, mit dem sie eng verbunden war (…) Dann erzählt sie ein wenig tragische Geschichten; das Kino gegenüber erleuchtet uns, Autos fahren vorbei. Eine junge Frau von zwanzig Jahren starb an einer Kugel, die sie auf sich selbst gerichtet hat, ein leidenschaftliches und einsames Mädchen, Beute einer Frau, Beute eines Mannes, allein. Romantik. In die neblige Milde des Abends nehme ich Fetzen dieser dekadenten Romantik mit; und ich gebe diesem „Ungesunden“, Schmerzhaftem nach, das von mir Besitz nimmt. Seltsamer Abend. (Und wie kann ich es wiedergeben in dieser blauen und ruhigen mittäglichen Klarheit?)

Clichy, eine erbärmliche Sängerin, ein Rangplatz zu vier Francs, inmitten von Paaren ohne Kopfbedeckung, die sich umarmen – ein bleiches Mädchen, grausam, am Ende der Reihe, eine Mutter mit gesetztem Gesicht in Begleitung zweier bezaubernder blonder Kinder, eine junge blonde Frau, hübsch, mit einer rosa und weißen Halskrause mit kleinen Falten. Unten in einer Loge sind eine Dame und einige sehr gut gekleidete Herren zu erkennen. Chansons folgen einander, derb, sentimental oder komisch, Zwischenrufe, Bravorufe, Pfiffe ge­hen von der Bühne ins Publikum. Ich schaue in mich, sehr verwundert, da zu sein.

Welche dumpfen Affinitäten verbinden mich stark, derartig stark mit diesem volkstümlichen Leben – nicht nur populär: vulgär, ganz dem Vergnügen hingegeben, dem Geist entgegengesetzt. In mir die dumme Seele, denn sie ist dort, des Mädchens wiederfinden, die die schwarzen Haare um das fahle Gesicht des Sängers in eine unbeschreibliche Erregung stürzten. Die Feigheit eines einsamen, weichen Herzens wiederfinden, genährt von Sehnsüchten unterster Klasse, die in jedem Lächeln eines Mannes eine Einladung zur Sklaverei sucht. Mich befragen nach dem, was jede dieser Masken der Genügsamkeit, der Dummheit, und in der armseligsten vielleicht, des glühenden Strebens nach Leben verbergen kann. Und ich werde nie wissen … Zwischen jedem dieser Menschen und mir eine Bewährungsprobe schaffen, die sie mir ausliefert, indem sie mich ihnen ausliefert. Ah! Musik, Tee, Tan­go, „Beduinentochter“ … und auf dem Boulevard de Clichy und dem Boulevard Barbès, warum diese Liebe für die brutalen Männer mit dem gefährlichen Beruf, für den weichlichen, zu schönen Burschen mit der verächtlichen Zigarette, für das an der Straßenecke postierte Mädchen, für jene, die in einer zwei­felhaften Bar auf das Abenteuer wartet, das für sie nur alltägliches Brot ist, warum, statt Grauen oder Gleichgültigkeit, dieses Gefühl, das nicht mal Neugier, sondern Begehren ist …

Begehren jene zu sein, die in der Nähe des Métrogitters sagte: „48 Stunden sind mir schnuppe, hab sie bereits hinter mir, hab doch gesagt, passt auf, das ist die Razzia des X. Arrondissement …“ Es ist, denke ich, die brutale Vereinfachung dieser Leben, die Gewöhnlichkeit der Freuden und Unglücke, die mich anziehen, mit dieser unvermeid­lichen Maske, die nicht trügt, deren Künstlichkeit einen Kontrast bildet zu den ungekünstelten Leben, die sie verbirgt. Da ist in mir ich weiß nicht was für ein vielleicht unge­heures Begehren, seit je gegenwärtig, schwer, nach Lärm, Kampf, Wildheit, Versinken vor allem … Wie wenig brauchte es selbst heute noch, damit auch ich morphiumsüchtig, Alkoholikerin und was weiß ich noch sei? Vielleicht nur eine Gelegenheit, einen etwas größeren Hunger nach alldem, was ich nie kennenlernen werde. Existenzen, die ihr Elend nur allzu gut verteidigen.

Welche Stunden habe ich erlebt mit der einzigen Angst, im hellen Licht des Tages darüber zu erröten, aber nein – diesen Abend im Européen bejahte ich von ganzem Herzen im Vorlesungsraum der École normale. Ich litt nur unter dem Gedanken: Ich bin doppelt, ich bin eine Heuchlerin, ich werde geliebt für die edle Erscheinung, die ich nicht bin (…) Ich bin nicht Gandillac und seine Weisheit, ich will das Leben, das ganze Leben.

Was gäbe es hier für ein Buch zu schreiben, doch die Heldin würde sich dadurch von mir unterscheiden, dass sie nicht daran dächte, ein Buch daraus zu machen. Und wirklich war es gestern nicht eine Erinnerung, die ich mir zurecht legte, sondern ich war gefangen und war nichts als ein komplizierteres Tier, eingesperrt in die fleisch­liche Traurigkeit der alleinigen Gegenwart.

Seltsame Rückkehr in der Métro, wo eine junge Anarchistin inmitten einer Gruppe diskutierte, hübsch mit ihrem großen Hut, ihrer kurzärmeligen Bluse, ihrem Schlips. Die Männer hatten lange Haare und wirklich verwahrloste Gesichter.

Unmöglich jedoch, aus alldem eine wirkliche Bitterkeit abzuleiten. Unmöglich, mich in einer Vielfalt aufgelöst zu fühlen, denn ich kenne diese Vielfalt als ganz verstandene und geliebte, und wenn ich das alles nicht erzähle, dann weil es zu leicht wäre, nicht aus Misstrauen.

Kennst du dabei diesen Wahn in mir, der eine finstere Strafe wäre, wenn ich je, mich ihm hingebend, den Einfall hätte, ihn finster zu nennen und ein Bedauern zu empfinden angesichts der leidenschaftlichen Gefahr, auf die ich mich einlasse: bis zum Ende dessen zu gehen, was ich in mir am Schlimmsten finde, um herauszubekommen, ob ich mir jemals zuwider sein könnte.

Übersetzung: Vincent von Wroblewsky
Die Tagebücher erscheinen im März im französischen Original bei Gallimard.

Artikel teilen
 
Zur Startseite