„Traut euch, den Job zu wechseln!“

Der Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde gilt ab dem 1. Oktober. - Foto: Sven Simon/Imago
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Frauen, auf nach Brandenburg! In diesem Bundesland verdienten Frauen 2021 im Schnitt mehr als Männer – und zwar 133 Euro zusätzlich im Monat. Diese Erkenntnis verdanken wir der jährlichen Lohnstatistik der Bundesagentur für Arbeit – und sie hält noch mehr Positives, insbesondere für Frauen und Menschen im Niedriglohnsektor bereit. Während die Löhne in traditionell von Männern besetzten Berufen beispielsweise in der Maschinen- und Fahrzeugtechnik vom 2020 auf 2021 um 1,8 Prozent gestiegen sind, gab es in der Altenpflege mit ihren vielen weiblichen Beschäftigten ein Plus von 5,2 Prozent. In der Gastronomie waren es sogar 5,7 Prozent. In der Floristik wurde soeben ein Tarifvertrag über zwei Jahre abgeschlossen, der 17,4 Prozent höhere Löhne vorsieht. 

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Frauen und Ostdeutsche werden vom neuen Mindestlohn profitieren

Klar, all die erwähnten „Frauen-Branchen“ zahlten in der Vergangenheit miserabel. Doch es ist unverkennbar: Niedrig bezahlte Jobs, die nicht durch Automatisierung ersetzt werden können, holen mächtig auf. Der demografische Wandel sorgt dafür, dass bundesweit ein immer größerer Arbeitskräftemangel in diesen Bereichen herrschen wird. So werden insbesondere die hier tätigen Frauen bis mindestens 2030 kontinuierlich weiter zu den Gewinnerinnen am Arbeitsmarkt gehören. 

Diese Entwicklung hebelt wahrscheinlich sogar die Anhebung des Mindestlohns um 25 Prozent zum 1. Oktober aus. Zwölf Euro ist dann der niedrigste legale Stundenlohn, der in Deutschland gezahlt werden darf. Doch schon zum 1. Juli boten beispielsweise die Lidl-Discountmärkte in Potsdam – ja, das liegt in Brandenburg – einen Stundenlohn von 14 Euro an. Die Not, neue Arbeitskräfte zu finden, ist so groß, dass das Unternehmen die Einfahrt zu den Parkplätzen der Märkte mit großflächigen Bannern „Mitarbeitende gesucht“ bestückt hat. 

22 Prozent der Beschäftigten hierzulande werden von der Anhebung des Mindestlohns profitieren, vor allem Frauen und Ostdeutsche. Das macht gut sechs Millionen Männer und Frauen, die ab Oktober deutlich mehr verdienen. Auch die Minijob-Einkommensgrenze wird dann von 450 Euro im Monat auf 520 Euro angehoben. 

Wie bislang auch, bleiben einige Gruppen am Arbeitsmarkt davon ausgeschlossen, beispielsweise Auszubildende, Jugendliche unter 18 Jahren oder auch Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten nach dem Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt. 

Normalerweise müssen die ArbeitgeberInnen das Gehalt automatisch anpassen. Wo das nicht passiert, können sich Betroffene an die „Mindestlohn-Hotline“ des Arbeitsministeriums (T 030/ 60280028) wenden. Eine andere Möglichkeit ist, sich – auch anonym – bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls zu melden (T 0351/44834- 510), der für die Kontrolle der Einhaltung des Mindestlohns zuständig ist. Die potenziellen Strafen gehen bis 500.000 Euro.

Wenn der Arbeitgeber trotzdem nicht zahlt, muss der oder die Betroffene vor Gericht ziehen, um den Mindestlohn einzuklagen. Am besten ist dabei, in eine Gewerkschaft einzutreten und dann mit ihrer Hilfe vor Gericht zu ziehen. Angesichts des immer weiter zunehmenden Arbeitskräftemangels ist die womöglich bessere Alternative aber, sich einfach einen neuen Job zu suchen. Nach Jahrzehnten hoher Arbeitslosigkeit können sich viele Menschen noch nicht vorstellen, wie dramatisch sich der Arbeitsmarkt derzeit wandelt: Mit jedem Tag steigt die Macht der Arbeitnehmenden gegenüber ihren Arbeitgebenden. Denn nun gehen die sogenannten Babyboomer in Rente. Und damit steigt die Zahl der Menschen sehr deutlich an, die täglich den Arbeitsmarkt verlassen. Weil diese Gruppe aber im Vergleich zu ihren Eltern sehr viel weniger Kinder pro Kopf bekommen haben, sinkt die Zahl derjenigen kontinuierlich, die in den nächsten Jahren anfangen zu arbeiten. 

Am besten lässt sich das mit einem kleinen Gedankenexperiment nachvollziehen – und zwar des Verhältnisses derjenigen, die hierzulande täglich ihren 65. Geburtstag feiern mit denen, die ihren 18. Geburtstag begehen. Momentan liegt das Verhältnis bei 2.887 Menschen, die im Schnitt täglich 65 werden, zu 2.104 Menschen, die hierzulande täglich ihre Volljährigkeit feiern. Die Lücke liegt also bei 783. Oder anders ausgedrückt: 783 Jobs bleiben jeden Tag aufs Neue unbesetzt – es sei denn, die Arbeitgeber finden jemanden aus dem Ausland dafür.

Diese Zahlen steigen bis 2031 täglich an: Immer mehr Männer und Frauen gehen in Rente und verlassen den Arbeitsmarkt. Immer weniger Männer und Frauen werden 18 und beginnen dann in absehbarer Zeit zu arbeiten. Der Höhepunkt wird im Jahr 2031 erreicht sein, denn dann geht der Jahrgang 1964 in Rente. Das war der Höhepunkt des Babybooms – niemals zuvor und niemals danach wurden so viele Menschen in Deutschland geboren wie damals. Das Verhältnis derer, die dann im Schnitt täglich 65 werden zu denen, die 18 werden, liegt dann bei 3.536 zu 2.090. Womit sich die Lücke auf 1446 verdoppelt: So viele Jobs bleiben jeden Tag von neuem unbesetzt. 

Der Arbeitsmarkt dreht sich zu einem Arbeitnehmermarkt

Der Arbeitsmarkt dreht sich also zu einem, wie es in der Fachsprache heißt, „Arbeitnehmermarkt“. Das bedeutet schlicht und einfach, dass künftig die Arbeitnehmenden das Sagen haben, zumindest in allen Branchen, in denen Arbeitskräfte dringend gesucht werden. Zunehmend trifft das inzwischen auch auf Arbeitsplätze zu, die derzeit noch mit Mindestlohn bezahlt werden. 

Für die nächsten Jahre kann aber mit Sicherheit schon vorausgesagt werden, dass die Löhne überall da überproportional steigen werden, wo menschliche Arbeit nicht durch Automatisierung und künstliche Intelligenz ersetzt werden kann – also beispielsweise in der Pflege, in der Reinigungsbranche, der Gastronomie oder der Kinderbetreuung. Also alles Bereiche, in denen traditionell viele Frauen arbeiten, fast immer schlecht bezahlt und leider oft auch mit wenig Kenntnissen sowohl der deutschen Sprache als auch ihrer Rechte als Arbeitnehmerinnen.

Viele trauen sich leider deshalb oft gar keinen Arbeitgeberwechsel zu. Manche scheuen den Aufwand, sich zu bewerben. Andere wissen schlicht und einfach nicht, wie es geht und wie sie dabei vorgehen sollen. Das ist außerordentlich bedauerlich, weil es inzwischen viel Hilfe gibt – angefangen vom Jobcoaching der Arbeitsagentur bis hin zu vielen Beratungsstellen für MigrantInnen. Oftmals sind aufwendige Bewerbungen auch gar nicht mehr notwendig und es reicht ein simpler Anruf bei den Firmen, die Mitarbeitende suchen. 

Notwendig ist deshalb vor allem nun eine Bewusstseins-Offensive: Frauen, macht euch klar, wie wichtig eure Arbeit für die Gesellschaft ist – und fordert gute und gerechte Löhne! Am besten kollektiv, so dass alle in der Branche davon profitieren!

 

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