Überraschung: ...und sie erschuf sich selbst

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Wie wird man man selbst? Das ist die ebenso einfache wie schwerwiegende Frage, die die Jugendtagebücher von Simone de Beauvoir stellen. Am Anfang, 1926, ist ihre Verfasserin 18 Jahre alt und Simone de Beauvoir existiert noch nicht. Wir erleben Seite um Seite ihre Geburt aufgrund der Verwandlung von Mademoiselle de Beauvoir, dem jungen Bürgermädchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in jene, die ihre Freunde „Castor“, den Biber nennen werden.

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Wir haben das seltene Glück, diese grundlegende Umformung unmittelbar verfolgen zu können: ein vier Jahre lang währendes Erdbeben, von 1926 bis 1930, in dessen Verlauf jemand wird, sich erprobt, sich wählt; die Gelegenheiten nutzt, Grenzen zurückweist, kämpft und sich quält, aber auch frohlockt und triumphiert, um zu diesem Exklusivprodukt zu werden: sie selbst. Diese Selbsterschaffung ist weder Frucht eines Erbes noch eine Evolution, sie ist eine Revolution.

Doch Vorsicht! Wenn sie schreibt: „Ich akzeptiere das große Abenteuer, ich selbst zu sein“, dann schließt dieses „Ich“ gewiss die Tatsache ein, Frau zu sein, doch es beschränkt sich nicht darauf. Das Problem zu existieren, sie selbst zu sein, stellt sie sich als Individuum – und versucht es zu lösen. Ein Mann hätte diesen Satz ebenfalls schreiben können, und hier berühren wir die Universalität ihres Unterfangens: Autonomie erobern. Indem sie vor unseren Augen die grundlegenden Entscheidungen trifft, die ihre gesamte Existenz bestimmen werden, erfindet sich Simone de Beauvoir, erschafft sich selbst, wie jeder Vertreter der menschlichen Gattung es tun kann und soll.

Wir werden hineingezogen in die furcht­erregende Kontingenz dieses Abenteuers. Wenn wir eine Autobiografie lesen, wie die „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“, ist alles längst geschehen – hier in den Tagebüchern jedoch noch nicht. Alles ist glühend, im Schmelzzustand, der Einsatz ist lebensentscheidend: „Es ist mein ganzes Selbst, das ich einsetze.“ Die Schreibende kennt nicht die Fortsetzung der Geschichte, oft verzweifelt sie an sich selbst in der metaphysischen Verlassenheit der Jugend, sie sucht tastend Lösungen, die sie bald wieder in Frage stellt.

Es geht um das Recht, „Ich“ zu sagen – mit eigener Stimme zu sprechen und nicht mit der ihres Vaters, ihrer Mutter, der anderen: ihr Geschlecht, ihre Klasse, ihre Epoche. Herauszufinden, warum man liebt, was man liebt; ablehnt, was man ablehnt; denkt, was man denkt, kurz zu begrün­den: eine Herkulesarbeit, vor deren Radikalität mehr als einer flieht, überall und jederzeit. Doch für die junge Simone gibt es keine notwendigere, keine erregendere Aufgabe. Sie stürzt sich hinein mit dem Kopf, mit dem Herzen, mit ihrer außergewöhnlichen Vitalität und ihrer leidenschaftlichen Liebe zum Leben.

Wenn wir die letzte Seite umblättern, 1930, existiert ein neuer Mensch, dessen Selbstsicherheit uns überrascht. Da heißt es: „Meiner ganzen Kraft bewusst … Seltsame Gewissheit, dass dieser Reichtum angenommen werden wird … dass dieses Leben eine Quelle sein wird, aus der viele schöpfen werden. Gewissheit einer Berufung.“

Diesen Sieg verdankt sie nur sich selbst, niemand anderem. Sie schuldet ihn nicht Sartre, dem sie noch gar nicht begegnet ist. Deshalb ist das Zeugnis der Tage­bücher unersetzlich: Außerhalb jeder selbst fernen Aussicht auf Veröffentlichung geschrieben, sprengen sie alle vorgefassten Meinungen, alle Stereotype und Verein­fachungen, die immer noch in Lehrschriften und Biografien über Simone de Beauvoir zu finden sind.

Sie hat sich auf ihren eigenen Wegen, lange bevor sie Sartre kennenlernte, in ihrer Individualität konstituiert – nur deshalb war die Begegnung der beiden überhaupt möglich. Nicht, weil Sartre sie erwählt hat, wurde sie Simone de Beauvoir, sondern weil sie Simone de Beauvoir geworden war, erwählte sie Sartre.

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