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Im Un-Ruhestand: Neustart mit 50+

Susanne Ebrahim (li.) und Tina Laubengeiger haben mit 50 ihr Hobby zum Beruf gemacht: ihre eigene Bäckerei eröffnet.
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Das Zauberwort heißt Quereinstieg. Wer das in die Job-Suchmaschinen eingibt, wird hunderte von Angeboten finden. Ob bei der Bahn, in Kitas und Schulen, Pflegeeinrichtungen und Behörden: Überall werden Menschen gesucht, die sich beruflich noch mal neu orientieren wollen.

Die aktuelle Lage ist die größte Chance für Frauen in der Lebensmitte, die es seit Jahrzehnten gegeben hat. Statt die Jahre bis zum Rentenbeginn abzusitzen oder gar so früh wie möglich auszusteigen, birgt der Neuanfang die Chance, nochmal so richtig durchzustarten: mit neuen Themen, neuen Herausforderungen, neuen sozialen Kontakten und oft auch zu deutlich besseren finanziellen Konditionen.

Selbst die Gesundheit profitiert. „Wer beruflich aktiv bleibt, lebt unabhängig von seinen Vorerkrankungen länger“, versichert Ulrike Fasbender, Professorin an der Universität Hohenheim. Die Altersforscherin hat Dutzende von Studien weltweit durchforstet, wie Beruf und Altern zusammenhängen.

Alle Befunde deuten darauf hin, dass längeres Arbeiten im Beruf positiv auf die physische und psychische Gesundheit wirkt. Fasbender fasst das mit einer Variante eines bekannten Sprichworts zusammen: „Wer nicht rastet, rostet nicht.“

Noch sind es nur wenige Pionierinnen, die sich den beruflichen Neustart in der Lebensmitte getraut haben. Anja Wings beispielsweise, die mit 54 nach einem Leben mit Hilfsjobs eine Ausbildung als Busfahrerin gemacht hat. Oder die Freundinnen Tina und Susanne, die in der Verwaltung und im Autohaus gearbeitet haben und mit Anfang 50 ihr Hobby zum Beruf gemacht
haben: vom Brotbacken zur eigenen, florierenden Bäckerei.

Oder auch die Design-Professorin Elke Jensen, die nach ihrer Pensionierung neu durchstartete und ein eigenes Unternehmen gegründet hat. Schon heute können in Deutschland rein rechnerisch jeden Tag 900 Arbeitsplätze nicht besetzt werden. Dieses Defizit steigt bis zum Jahr 2031 kontinuierlich auf rund 2.000 pro Tag an.

Selbstverständlich gibt es untergeordnete Strategien, um gegen diese demografischen Entwicklungen anzugehen: Deutschland kann versuchen, Arbeitskräfte aus dem Nicht-EU-Ausland anzuwerben. Digitalisierung, Roboter und verstärkt nun auch der Einsatz von künstlicher Intelligenz können menschliche Arbeitskraft ersetzen. Das alles wird den Arbeiter- und Fachkräftemangel lindern. Dennoch werden sich die Machtverhältnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt dauerhaft von den Arbeitgebenden zu den Arbeitnehmenden verschieben.

Die Jungen haben das längst erkannt. Sie fordern schon beim Einstellungsgespräch Sabbaticals, eine Vier-Tage-Woche und Homeoffice. Viele Ältere hingegen sind noch geprägt von den Zeiten der Massenarbeitslosigkeit und Frühverrentung. Sie haben zudem veraltete oder auch defizitäre Altersbilder im Kopf, die sie entmutigen und eher früher als später aus dem Arbeitsleben aussteigen lassen.

Das muss nicht sein. Es gibt inzwischen immer mehr Möglichkeiten, einen ungeliebten Job zugunsten etwas ganz Neuem zu wechseln. Hervorragende Berufschancen gibt es beispielsweise in allen sogenannten „Engpassberufen“. Das sind Berufsbilder, in denen ArbeitgeberInnen oftmals sehr lange suchen müssen, um BewerberInnen zu finden.

In der Altenpflege dauerte es im Durchschnitt im Sommer 2023 beispielsweise 255 Tage, um eine freie Stelle neu zu besetzen. Auch im Handwerk und bei eigentlich allen Bus- und Bahnbetrieben werden händeringend Mitarbeitende gesucht. Wer sich für diese Branchen interessiert, hat deshalb auch mit Ende 50 noch gute Chancen. Zudem sind die ArbeitgeberInnen hier in ihrer Personalarbeit oft schon viel weiter als andere Firmen und haben spezielle Trainings- und Zugangsprogramme für QuereinsteigerInnen aufgelegt. Fast immer wird dabei auch die Umschulung selbst vom Unternehmen bezahlt. Wer dort anfängt, erhält also schon in der Ausbildung das spätere Gehalt.

Im Bildungsbereich wirbt jedes Bundesland inzwischen heftig um QuereinsteigerInnen. Oftmals wurden auch die Altersgrenzen für eine Verbeamtung deutlich erhöht. In Berlin können auch 52-Jährige noch verbeamtet werden. Und fast jeder zehnte Lehrende an deutschen Schulen ist inzwischen QuereinsteigerIn.

In Baden-Württemberg beispielsweise ermöglicht das Programm „Direkteinstieg Kita“ Menschen mit abgeschlossener Ausbildung und Berufserfahrung, sich innerhalb von zwei statt drei Jahren als ErzieherIn zu qualifizieren. Zudem erhalten die Auszubildenden von Anfang an ein Gehalt von bis zu 2.600 Euro im Monat.

Auch die Behörden auf allen staatlichen Ebenen öffnen sich für QuereinsteigerInnen. Die Stadt Essen beispielsweise hat schon vor Jahren ein Ausbildungsprogramm aufgelegt. Als der dort ansässige Warenhauskonzern Galeria Kaufhof in Insolvenz ging, bot die Stadt Dutzenden Mitarbeitenden an, sich für Aufgaben in der Kommune umschulen zu lassen.

Neue Möglichkeiten gibt es auch im Übergang zwischen Arbeit und Rente. Seit Anfang 2022 kann jedeR Frührente ab 63 beziehen und trotzdem weiterarbeiten – ein sehr guter Weg auch für Frauen, in den Jahren 63 bis 67 die Finanzen mit Rente plus Arbeit aufzubessern. Oft ist es auch möglich, die Arbeitszeiten und -bedingungen mit dem Arbeitgeber nochmals neu auszuhandeln.

Nie also waren die Zeiten besser, auch mit 50+ beruflich nochmal durchzustarten. Es lohnt sich in jeder Hinsicht. Besonders für Frauen.

DIE BUSFAHRERIN

Anja Wings hatte schon viele Jobs, um ihre fünf Kinder zu ernähren. Eine Berufsausbildung hatte sie nicht – bis ihre Beraterin beim Jobcenter sie fragte, ob sie nicht Busfahrerin werden wolle.

Einmal hat sie sogar eine Runde Eis ausgegeben für die Schüler und Schülerinnen, die sie zwei Jahre lang täglich gefahren hat. „Ich wollte mich gut verabschieden“, erzählt Anja Wings. Aber klar, eine Haushaltsrolle hatte sie an dem Tag auch dabei, damit kein klebriges Eis auf die Sitze tropfte. „Wenn ich Bus fahre, herrscht Ordnung“, sagt die inzwischen 58-Jährige resolut.

Wings fährt seit 2019 für MittelWeserBus und ist bei der Transdev Niedersachsen/Westfalen GmbH angestellt. Die Mutter hat immer gearbeitet, aber nie eine Berufsausbildung abgeschlossen. „Mein Lebenslauf geht über zwei Seiten, so viele verschiedene Jobs habe ich gemacht“, erzählt sie stolz, „Ich scheue mich vor keiner Arbeit.“ Ob in der Reinigung, der Großküche, im Service, im Lager, in der Kommissionierung – Wings hat alles schon durch. Nur zu einer richtigen Berufsausbildung hat keine dieser Beschäftigungen geführt.

So landete die zupackende Frau (O-Ton: „Ich hab’ Pfeffer!“) immer wieder bei der Jobagentur, immer wieder bei der gleichen Mitarbeiterin. Mit dem zunehmenden Facharbeitermangel hatte die dann irgendwann den großen Joker für Anja Wings: das Angebot, in Vollzeit Bus zu fahren.

„Ich hab da was für Sie, sagte mir die Mitarbeiterin im Amt“, erinnert sich Anja Wings, „würden Sie auch Kinder fahren?“. Ja klar, habe sie geantwortet, „mit dem Auto?“. Dafür habe sie ja den Führerschein. „Nee, Frau Wings“, hat die Dame von der Arbeitsagentur da gesagt, „mit einem richtig großen Bus.“

Anja Wings war sofort begeistert. Autofahren ist ihr Ding. Warum also nicht einen Bus chauffieren?

Weil Wings zu diesem Zeitpunkt Arbeitslosengeld 1 bezog, hat das Jobcenter die Kosten für den Busführerschein übernommen. Zehn Wochen dauerte der Kurs mit Theorie und viel praktischem Fahrtraining, danach schloss sich ein sechswöchiges Praktikum im Betrieb an. „Wir waren zehn Frauen im Kurs, das war eine tolle Truppe“, sagt Wings. Auch die Ausbilder hätten ihnen bestätigt, dass sie selten so engagierte Lernende gehabt hätten. „Ist doch klar“, sagt Wings, „wir wollten alle raus aus dem Leistungsbezug und wieder auf eigenen Beinen stehen.“

Einen großen Bus zu fahren, sei nur eine Frage der Gewöhnung. „Das braucht einen Monat, dann hat man das drin. Wenn die Kinder mich dann mit ‚Guten Morgen, Anja‘ begrüßen, freue ich mich total!“

DIE BÄCKERINNEN

Die beiden Frauen sind Mitte 50, als sie ihr Hobby zum Beruf machen. Sie nennen ihre Bäckerei „Brotsucht“ – und starten richtig durch.

Für Susanne ist es die Erinnerung an ihre Kindheit, als sei bei ihrer Oma morgens zur Bäckerei laufen durfte, um frisches Brot und Brötchen zu holen und schon auf dem Rückweg den ersten Bissen abgeknabbert hatte. Und für Tina ist es der Duft von frisch gebackenem Brot, dem sie einfach nicht widerstehen kann – und die Unverträglichkeit von Industriebrot.

Anfangs backen die beiden nur für Nachbarn und Freunde nebenher. Beide sind voll berufstätig: Tina Laubengeiger arbeitet im sozialen Bereich für die Stadt Stuttgart. Susanne Ebrahim verkauft Autos für Mercedes.

Sehr schnell wird ihnen ihr mit eigenem Sauerteig angesetztes Brot aus den Händen gerissen. Was die beiden am Wochenende backen, ist sofort weg. So reift der Gedanke, richtig umzusteigen – und eine eigene Bäckerei aufzumachen.

Weil die beiden zu diesem Zeitpunkt schon älter als 47 sind, können sie mit einer Ausnahmegenehmigung der Handwerksinnung eine Bäckerei aufmachen – dürfen aber nur ein begrenztes Sortiment von vier Brotsorten täglich anbieten. Das Brotwissen eignen sie sich im Selbststudium an: „Lesen, lesen, lesen, alles aufsaugen, was das Internet hergibt.“

Zudem buchen die beiden einige Kurse an der Brotakademie in Weinheim. Den „Ofenführer-Kurs“ beispielsweise. Meist treffen sie in den Kursen auf Männer, denn noch immer sei die Bäckerei eine Männerdomäne. Da werde schon „geguckt, wie man mitanpackt“, sagen sie. Aber auch, dass die Akademie und die Mitlernenden offen für Quereinsteigende seien.

Obwohl beide Mitte 50 sind, gelingt es ihnen, einen mittleren sechsstelligen Kredit zu bekommen. „So einen gut ausgearbeiteten Businessplan habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen“, hätte die Bank-Mitarbeiterin kommentiert, berichten die beiden.

Doch lange suchen sie nach einem Ladenlokal. Dann rettet sie ein Fan ihres Brotes, der gerade eine alte Ziegelei im Gewerbegebiet in Waiblingen nahe Stuttgart umbaut. Im November 2022 eröffnen die beiden die „Brotsucht“, wie sie ihr Unternehmen inzwischen getauft haben.

Derzeit bereiten die beiden montags die Teige vor und backen Dienstag bis Freitag ab 7 Uhr morgens. Geöffnet ist die „Brotsucht“ dann von 15 bis 18.30 Uhr.

Noch sind Tina und Susanne allein in ihrer Backstube, doch das wird aller Voraussicht nicht so bleiben. Schon nach einem Jahr Backbetrieb wurden sie vom Feinschmecker in die Liste der besten Bäcker in Deutschland aufgenommen. Ein Hofladen in der Nachbarschaft hat begonnen, ihr Brot zu verkaufen. Etliche Gastronomen haben angefragt. Mit einem haben sie bereits ein siebengängiges „Brotmenü“ kreiert: „Ein Abend mit Gluten und ganz großer Suchtgefahr“, heißt es in der Ankündigung. Süchtig nach gutem Brot.

DIE ROLLATOREN-BAUERIN

Mit 66 gründete die Design-Professorin Elke Jensen ein Unternehmen, um schicke Rollatoren zu bauen.

Wie so oft, war der erste Anstoß ein persönlicher. „Ich bin sehr viel und sehr gerne unterwegs“, erzählt die Hamburgerin Elke Jensen, „aber das seitliche Ziehen hat mir immer mal wieder Probleme bereitet.“ Als studierte Produktdesignerin und langjährige Professorin an der „Akademie Mode und Design Hamburg“ (AMD) ging sie die Frage professionell an: Gab es schon etwas am Markt, was das Schieben, Ziehen und Stützen erleichtern würde?

Klar, die klassischen Rollatoren. Die aber fand Jensen allesamt nicht wirklich schick – und zum Ziehen waren sie auch nicht geeignet. Eine Freundin von ihr hatte sich schon eine Kinderkarre gekauft, um sie – ohne Kind – als Schiebe- und Stütz-Hilfsmittel zu benutzen. Also fing Jensen zu zeichnen an. „Die ersten Entwürfe bewegten sich alle in der Nähe von Rollatoren“, erzählt sie, „das hat mich richtig blockiert.“

Dann sah sie unterwegs einen Kinderwagen, an dem „Caddy“ stand. „Da war er, der Heureka-Moment“, sagt Jensen, „über diesen Begriff Caddy bin ich dann sofort auf neue Formen gekommen und konnte richtig loszeichnen.“

Jensen erzählt diese Geschichte, weil ihr dabei aufgefallen ist, „dass wir sehr begriffszentriert sind“. Um anders und neu zu denken, müssen wir uns ihrer Meinung nach auch damit auseinandersetzen, wie wir die Dinge nennen.

Das war 2015 – und Jensen war zu der Zeit mit 66 genau in dem Alter, in dem nach dem Kult-Song von Udo Jürgens „das Leben anfängt“. Für Jensen war es in diesem Fall das Leben als Start-Up-Gründerin und Unternehmerin. „Eigentlich dachte ich am Anfang, dass ich schnell jemanden finde, der den Prototypen toll findet und das Ganze dann zu seinem Projekt macht und die Produktion und Vermarktung übernimmt“, erzählt sie. Doch Pustekuchen.

Also musste Jensen selber ran. Sehr hilfreich war ihr großes Netzwerk an Freunden und Bekannten. „Ich habe alle angequatscht“, sagt sie. „Kennst du einen guten Metallbauer, eine PR-Frau, einen Leder-Täschner?“ So hat sie sich von einer Adresse zur nächsten gehangelt, oft waren es die Bekannten von Bekannten, die den entscheidenden Tipp gegeben haben. So hatten Freunde mit einem Fahrradladen sie beispielsweise zu einem Fahrradhersteller vermittelt, der sich dann bereit erklärte, beim Bau des Prototypen mitzuhelfen.

Nach sechs Jahren war ihr jetzt „CityCaddy“ getauftes Produkt so weit entwickelt, dass sie zufrieden war. „Der Weg war lang und zäh“, sagt sie. Nun aber, wo der CityCaddy auf dem Markt ist, ist es für Elke Jensen die tollste Erfahrung, die sie je gemacht hat: ein Produkt geschaffen zu haben, das anderen das Leben leichter macht. Und das eines Tages vielleicht auch für sie selber.

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