Wären Sie gern ein Mann, Madame?

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Am Strand steht ein nacktes kleines Mädchen. An ihr vorüber geht ein dreijähriges Piepelchen. Das Mädchen steckt den Finger in den Mund und blickt ihn aufmerksam an und weiß: Das ist ihr zukünftiger Humstibumsti. Wir haben in Europa nicht die individuelle Kinderehe, in der ein zweijähriges Lieschen Müller einem dreijährigen Otto Haumichblau anverlobt wird, aber wir haben die generelle Kinderehe. Das kleine Mädchen weiß zwar nicht wer, aber sie weiß, was ihr ins Haus steht. Insofern ist der Wunsch vieler Mädchen, "lieber ein Junge zu sein", ihr erster Ehebruch.

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Das Drehen von Löckchen und das Beschmieren mit Lippenstift sind nicht, wie die lächelnde Mutti meint, das Erwachen der natürlichen Weiblichkeit, sondern sie sind bereits das Theaterspiel. Mädchen, die nicht Mädchen spielen können, machen etwas falsch. Das gilt auch für die Hausarbeit. Das Befreien eines Raumes von Staub, das von den Töchtern früh geübt werden muß, hat mit Sauberkeit nichts zu tun, sondern ist die Vorbereitung auf ein unausweichlich heranrollendes Weibesschicksal.

An dieser Stelle sagt eine selbst vergessene Mutter: Nein, das stimmt nicht, denn ich habe doch auch meinen Sohn in die Hausarbeit eingespannt. Eben! Aber dieser göttliche Herr Sohn wurde als ein höheres Wesen angefleht, von seinem Sockel herabzusteigen und einer armen Mutter zur Hilfe zu eilen. Die Tochter dagegen wurde dienstmäßig herankommandiert. Meine Mutter ist meine erste Schwiegermutter. Ja, ich wollte gern ein Junge sein. Ich habe selbst den schwachsinnigsten Sohnemann um seinen Sohnesrang beneidet. Ich habe immer und bis in meine ältesten Erinnerungen hinein sauer darauf reagiert, daß ich ein "Ding" bin, ein süßes Ding, ein freches Ding, ein goldiges Ding. Ein Sohnemann war niemals ein Ding.

Dann kam die Schule. Unvergeßlich, wie .ein Lehrer mit schneidendem Hohn in der Stimme vor einer Mädchenklasse verkündete, daß er ein Jungenslehrer sei und daß er es als "Degradierung" betrachtete, Mädchen zu unterrichten. Selbst die Lehrersmänner, die höflicher waren, verhehlten uns nicht ihre Meinung: Daß es um die Intelligenz der Mädchen schlecht bestellt sei. Wenn die Schule aus war, dann kamen die Bengels an und schrien laut ihre Schandworte über unsere Votzen heraus. Sie konnten sich gar nicht darüber beruhigen, daß wir Votzen waren.

Dann kamen die alten Männer. Wenn da so einer neben mir herging, das war schon komisch, und ich versuchte zu entkommen. Manchmal war er schneller. Dann war in nullkommanix seine Hand in meinem Schlüpfer, und er stellte fest: "Du hast ja schon Haare unten." Wenn er nicht bis unten hinkam, fragte er hilfsbereit: "Drückt dich denn nicht der Schlüpfergummi?" Wenn ich versuchen wollte zu zählen, wieviele Männerhände an meiner minderjährigen Möse dran waren, da ließe sich ein Zuchthaus mit füllen.

Das "Ich möchte gern ein Junge sein!" verging mir an der Realität, daß mich die Welt nicht sein ließ, was ich wollte. Dann hatte ich einen Wunsch und sonst keinen: Ich wollte zu Weihnachten einen Trainingsanzug haben. "Weiter braucht ihr mir nichts zu schenken." Meine Mutter staunte: Ja, wieso denn, ja warum denn. Aber da ich nicht das einzige Mädchen war, da es buchstäblich eine dritte Menschheit aus trainingsanzügentragenden Mädchen gab, fügten sich die Mütter. Überall sahst du Mädchen mit Trainingsanzügen. Sie lächelten sich an, sie spielten miteinander. Sie spielten nicht mit anderen Mädchen, und mit Jungens auch nicht. Aber das lag an den Jungens.

Dann kam der Krieg, und ich ließ ein paar Tränlein fallen, aus Kummer, daß ich nicht Soldat werden durfte. Es gibt kein Äquivalent für eine vorenthaltene Ehre. Es gibt kein Argument: Mädchen, hast du Glück, daß du nicht Soldat werden mußt. Denn nicht Soldat werden müssen, heißt "wehrunwürdig" sein. Und diese Wehrunwürdigkeit der Frauen ist in unserer Verfassung fest verankert. Angenommen, es sollte dieser Verfassungspunkt in eine Gleichberechtigung hineingeändert werden, angenommen, du Mädchen, darfst Soldat werden - und kommst in Kriegsgefangenschaft. Dann schützt dich keine Genfer Konvention vor zusätzlichen Mißhandlungen, die männlichen Soldaten nicht zugemutet werden.

Jetzt gibt es Geschlechtsgenossinnen, die sagen: "Hör mal zu, Christa, ich weiß wirklich nicht, wovon du redest. Ich habe mich noch nie durch die Männer erniedrigt und beleidigt gefühlt". Solche von-Frau-zu-Frau-Sprüche kommen bei mir als eine zusätzliche Schmach an. Die Art und Weise, wie ich mich in dieser Gesellschaft mit Schmach und Schande bedecken lassen muß, gleicht einem Zweifrontenkrieg. Ja, ich wäre gern ein Mann, Madame. Und sei es auch nur, um aus diesem Zweifrontenkrieg herauszukommen.

Eines Tages hatte ich einen Unfall. Die Bänder an meinem Kopf rissen ab, und ich wurde mit lose herunterbaumelndem Kopf auf eine Trage geschnürt. Es war in Schleswig-Holstein, und das Herumtelefonieren ergab, daß ich nicht ins Krankenhaus Ratzeburg sondern ins Krankenhaus Mölln eingeliefert werden sollte. Da gab es Kopfstützen nur für Männergrößen. Die paßten mir nicht und wurden wieder abgemacht. Dann wurde ich mit lose baumelndem Kopf in ein gewöhnliches Krankenbett gelegt. Wenn ich ein Mann wäre, müßte ich kein Krüppel sein.

Jeden Tag bei der Visite ging der Chefarzt an meinem Bett vorüber und sagte mit angehobenem Bein: Na wie geht's! Ich antwortete regelmäßig: Ich habe Schmerzen. Dann waren sie schon weiter. So ist unter den Augen der Ärzte mein Kopf falsch angewachsen. An mir wurde kein medizinischer Kunstfehler verübt, sondern ein Verbrechen. Das Verbrechen der unterlassenen Hilfeleistung.

Als ich wieder unter die Leute kam, hatte ich die Eigenschaft verloren, nach der die Menschen Menschen sind: den aufrechten Gang. Wohin ich kam, hörte ich Männerstimmen an meinem Ohr brüllen: "Kopf hoch!" Unentwegt wurde ich auf der Straße angeschrien: "Kopf hoch!" Niemals hat eine Frau zu mir Kopf hoch! gesagt. Frauen blieben stehen und sagten: "Kann ich Ihnen helfen?" Und ich wußte plötzlich, daß meine Begriffe von "Mann" und "Frau" falsch waren. Ich hatte den Frauen viel abzubitten. In Sachen Frauenhaß war ich Opfer und Täter zugleich.

Wenn ich gewußt hätte, daß dies nun mein Leben war, hätte ich dieses Leben weggeworfen. Ich hätte es nicht ertragen können. Aber es hieß: Jetzt üben Sie mal schön und nach zwei Jahren ist der Kopf wieder oben. Ich übte schon zwei Jahre und vier Monate, und mein Zustand hatte sich in nichts gebessert. Aber irgendwie hoffte ich, würde es doch noch werden.

Da ging ich eines Morgens zur Bushaltestelle. An der Haltestelle standen drei Kästen mit drei verschiedenen Zeitungssorten. Heute waren die Kästen von Menschen umlagert. Es sah aus wie ein Haufen schwarz wimmelndem Fliegen. Ich dachte, das sind die beiden Frauen, die einen Mann angestiftet haben, einen anderen Mann umzubringen. Der Mann hat zehn Jahre gekriegt, vielleicht kriegen sie acht oder auch fünfzehn. Denn der Vorsitzende Richter war sehr ungnädig. Ich war neugierig zu erfahren, ob sie acht oder fünfzehn Jahre gekriegt haben und trat an die Zeitungskästen heran. Da sah ich auf drei verschiedenen Zeitungen in drei verschiedenen Lettertypen ein und dasselbe Wort: Lebenslänglich!

LEBENSLÄNGLICH! Lebenslänglich! Vor diesem unerwarteten Anblick lachte ich laut auf und dachte mir im Nachhinein die Pointe zu dem Witz aus. Ich dachte: "Ach, der Mann, der mich einst ermordet, der kriegt aber nicht lebenslänglich, der kriegt bloß zwei Jahre." Unter diesem wörtlichen Denken aber erkannte ich in wortlosem Zustand: Ich bin es, die ermordet wurde, und ich habe lebenslänglich bekommen.

Die Richter von Itzehoe und die Ärzte des Krankenhauses Mölln verschmolzen zu einer einzigen Figur und ich dachte: Wie kann ein Lebewesen, das zu solchen Fehlhandlungen fähig ist, überhaupt in der Evolution existieren. Nach dem Naturgesetz müßte es den Menschenmann gar nicht geben. Das alles geschah in einem Nu, nicht nacheinander sondern übereinander. In einer abermaligen Verwandlung meines Bewußtseins, auf dem tiefsten Grund dieses Augenblicks wurde alles um mich herum wie aus Glas. Ich sah durch die Dinge hindurch und erkannte: Der Menschenmann ist bekämpfbar und besiegbar.

Noch immer im gleichen Augenblick kommt der Bus. Ich steige ein und weiß nicht mehr, wohin ich fahren wollte. Alle Kausalketten sind gerissen. In diesem freischwebenden Zustand denke ich: Jetzt bist du eine von denen... wie heißen sie? Von den Feministinnen. Was ist das, eine Feministin? Wenn ich nicht weiß, wohin ich eigentlich wollte, dann fahre ich jetzt einfach zur Staatsbibliothek und schlage in der Kartei nach unter F.

Mein Platz in der Gesellschaft ist da, wo Menschen den gleichen Ehrbegriff haben, den ich habe. Wenn es Frauen gibt, die es nicht mehr ungestraft zulassen, daß die Weiblichkeit erniedrigt und beleidigt wird, dann sind diese Frauen meine Gesellschaft. Die Schmach meines Lebens, Frau sein zu müssen, an der ich so gewürgt habe, daß ich dachte, es müsse mir das Blut aus dem Mund herausspritzen, ist getilgt. Mit der Frauenbewegung hat sich die weibliche Menschheit ehrwürdig gemacht.

Ja, ich bin eine Frau, Monsieur, und ich bin stolz darauf, eine Frau zu sein.

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