Alice Schwarzer schreibt

Wahre Mutterliebe

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Die Stimme kam vom EMMA-Telefonautomaten: "Liebe Alice. Ich möcht' Dir mal sagen... Ich hab Dich im Fernsehen kennengelernt, wie Du mit der Esther Vilar gesprochen hast. Das hat mir richtig, meinen Horizont aufgemacht, hat mir gezeigt, was ich als Frau bin. Ja. Ich habe mich dann hinterher langsam freigemacht, bin als Putze gegangen. Richtig zum Putzen. Ich bin mit 4 Mark 83 angefangen. Ich putze weiter, aber ich gehe jetzt hinterher zur Abendschule und mache einen Schreibmaschinenkursus. Aber ich bin richtig zuhause, gehe nur nebenbei putzen. Ich muss das. Ich kann nicht anders: mein Mann verdient zu wenig. Ich krieg' auch immer Schläge ... Ich will weiterkommen ... aber ich kam nicht mehr. Ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Ja. Was soll ich noch sagen ...? Ich hab doch noch drei Kinder. Die sind alle gut erzogen. Ich hab 'ne Tochter, die ist richtig lieb, so richtig naiv. Und 'nen Sohn, der ist auch lieb. Ich ... ich ... ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr!!!"

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Erst zögernd, dann schleppender, zum Schluss gehetzt. Ihren Namen hat sie nicht gesagt, wieso viele. Angerufen hat sie jüngst an einem Freitagabend- wo manche allein zuhause sitzt. Nach diesen wenigen verschämt-verzweifelten Sätzen hat sie einfach aufgelegt.

Ein Punkt hat mich bei diesem Anruf besonders berührt: nämlich die Stelle, an der klar wird, dass diese Frau, die immerhin die Kraft hatte, putzen zu gehen für ihre Eigenständigkeit, scheitert an der Liebe zu ihren Kindern. Ihr Mann schlägt sie (das sagt sie so ganz nebenbei, so ganz selbstverständlich), sie will raus — aber sie kann nicht. Sie hat drei Kinder. Die sind "alle gut erzogen" und "richtig lieb". Dürre Worte, hinter denen das Martyrium des schlechten Gewissens eines Menschen steht, der es doch so bitter nötig hätte, ohne schlechtes Gewissen auch einmal an sich selbst denken zu können; dem jedoch nur eines gestattet wird: immer nur an die anderen zu denken!

Das ist nicht das persönliche Problem dieser Anruferin. Das ist das Problem aller Frauen. Denn nichts ist traditionsreich "weiblicher", als sich selbst unwichtig und unwert und das Wohl der anderen wesentlich zu finden.

Weil Frauen ein Eigenwert abgesprochen wird, erkaufen sie sich Beachtung und Existenzberechtigung durch Unersetzlichkeit für die anderen. Sie erkaufen sich "Liebe" durch "Liebesdienste". Frauen arbeiten gratis im Haus für Mann und Kind — aus Liebe. Frauen stecken im Beruf zugunsten des Familienglücks zurück — aus Liebe.

Die "Liebe", angeblich etwas so Privates und Intimes, hat eine sehr konkrete, eine soziale und damit politische Funktion in unserer Gesellschaft. Liebe, und insbesondere Mutterliebe, ist ein Grundstein, dessen Erschütterung das gesamte patriarchalische Gebäude ins Wanken bringen würde... Nicht zufällig ist die "Mutterliebe" eines der großen, unantastbaren Ideale unserer Kultur. Wem nutzt die "Mutterliebe", so wie sie heute praktiziert wird? Und wem schadet sie? Das ist die Frage, die wir stellen müssen. Die Antwort lautet: Sie schadet erstens den Frauen und zweitens den Kindern! Sie nutzt den Männern — individuell wie gesellschaftlich.

Denn: Aus "Mutterliebe" sind es Frauen vor allem, die sich verantwortlich fühlen für die Kindererziehung. Aus Gewöhnung an die "Mutterliebe" erwarten auch Männer, von Frauen bedient zu werden; treten Schwestern, Freundinnen, Kolleginnen, Ehefrauen die direkte Nachfolge der Mütter an. "Mutterliebe" bedeutet also heute vor allem eines: Arbeit.

Aber wer bedient uns? Wer sagt eigentlich, dass nicht auch Männer "mütterlich" sein könnten? Dass nicht auch sie liebevoll Rücksicht auf andere nehmen, nachts durch Kinderweinen hochschrecken und für die lieben Kleinen Windeln waschen könnten? Auch Selbstverzicht hätte, neben gesunder Selbstliebe, durchaus in männlichen Seelen Platz. Oder sind die Männer von Geburt an allesamt Monster? Doch wohl kaum...

Und die Kinder? Sie profitieren einerseits von der Mutterliebe (wie die Mütter ja auch von der Kinderliebe), aber sie leiden auch darunter. Wir, die wir alle einmal Kinder waren, wissen, wovon wir reden... Da brauchen wir keine Psychologen oder sonstigen "Experten" zu bemühen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Studentinnen in einem Seminar an der Münsteraner Universität. Im Laufe der Diskussion kamen wir auf die "Mutterliebe". Als ich meinte, das sei doch ein spannendes Thema, das wir anhand unserer eigenen Erfahrungen einmal analysieren sollten — da ging ein Aufschrei durch die Runde! Unter den etwa zwei Dutzend jungen Frauen war nicht eine einzige, die ein entspanntes Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt hätte! Ausnahmslos alle hatten schwere Aggressionen gegen ihre Mütter.

Kein Wunder. Liefern doch die Bedingungen, unter denen wir heute Mutter und Kind sind, Kinder ihren Müttern so stark aus, dass beide in eine große Abhängigkeitgeraten. Erschwert wird das alles auch durch eine übersteigerte Erwartung, die durch das Klischee von der Mutterliebe schier pathologische Züge annimmt und beim kleinsten "Versagen" der Mutter schweren, kaum reparablen Schaden in Kinderherzen anrichtet... Folge: eine ewig unstillbare, illusionäre Liebessehnsucht, die es auch dem Erwachsenwerdenden schwer macht, gegenseitige, das heißt erfüllbare Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.

Schlimmer noch: Der terroristische Anspruch der "Mutterliebe" verbietet jeder Frau das Eingeständnis ihrer Ambivalenz, ihrer Widersprüche. Dabei ist es nun einmal eine Realität, dass Mutterschaft unter den heutigen Bedingungen Frauen weitgehend versklavt. Daraus resultiert das, was wir in EMMA den "Mutterhass" genannt haben. Aber welche Frau kann es schon wagen, sich diesen Hass, diese Verzweiflung einzugestehen...?

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