Ich habe mich nicht gewehrt

Foto: Nuri Garre
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Eine verschwitzte Hand legte sich um meinen Knöchel. Sie war heiß und feucht und ekelhaft. Sie hatte nichts Gutes vor; und mich zu berühren, war nicht das Ziel an sich. Scarhip wollte mein Bein entfernen, um seine uneingeschränkte Sicht auf meine Genitalien wiederherzustellen. Also packte er es und warf es von der Saunabank. Er hatte mich kurz zuvor schon belästigt und genau die Stelle betatscht, die er jetzt ungestört betrachten wollte. Was ich wollte, zählte hier nicht: Ich wurde wie ein Objekt behandelt und dementsprechend fühlte ich mich auch – und das zum ersten Mal in meinem Leben.

Als großer und athletischer Mann bin ich normalerweise vor diesem Gefühl geschützt. Nur selten wurde ich in meinem Leben bedroht oder gar ­attackiert. Das letzte Mal, dass ich vor jemandem Angst hatte, war, als ich den ukrainischen Schwer­gewichtsboxer Vitali Klitschko traf. Gegen ihn hätte ich natürlich verloren, aber ich wäre kämpfend untergegangen. Viel zu sehr war ich von männ­lichen Allmachtsfantasien beseelt, um eine andere Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen.

Diese Hybris herrschte natürlich auch in meinem Sexualleben. Wie viele heterosexuelle Männer konnte ich mir nicht vorstellen, Opfer eines sexuellen Übergriffs zu werden. In meiner Welt konnten die Wörter Sex und unerwünscht nicht im gleichen Satz stehen. Scarhip hat das alles verändert. Dieser kleine, untersetzte Vietnamese hat mich auf eine Art und Weise beschädigt, die ich nicht für möglich gehalten hätte.

Meine Geschichte beginnt und endet in der Sauna eines Fitnessstudios in Hanoi. In einer Filiale der teuersten Kette der Stadt, die vor allem von vietnamesischen Geschäftsleuten, ausländischen Diplomaten und überbezahlten Sprachlehrern wie mir frequentiert wird. Ich war nackt und allein, als ein Mann hereinkam und sich neben mich setzte. Sofort begann er, mich von der Seite anzuschauen. Ich ließ ein faules „Hey“ fallen, doch statt einer Antwort hielt er nur seine beiden Hände hoch, um dazwischen die Größe meines Penis abzuschätzen. Sein begeistert anerkennendes Nicken entlockte mir ein Lachen. Ich war gleichzeitig geschmeichelt und verärgert.

Mit einer schnellen Bewegung rutschte er plötzlich an mich heran und griff mir zwischen die Beine. Sofort packte ich seine Hand und schob sie weg. Er aber grinste mich nur an und nahm zwischen seinen Händen erneut eine bewundernde Fehleinschätzung meiner Dimensionen vor. Ich schüttelte den Kopf und lachte abwehrend. Ich muss gestehen, dass ich diese erste Begegnung mit Scarhip nicht als das einordnete, was sie eigentlich war, nämlich eine sexuelle Belästigung. Während meiner Zeit in Asien hatten viele Fremde meine blonden Haare, meine Arme, ja sogar meine Beine berührt, natürlich ohne je zuvor gefragt zu haben.

Nach einer kurzen Pause voller Verlegenheit und Versuchen, ihm mein Desinteresse in Englisch zu erklären – einer Sprache, die er offenbar nicht verstand –, machte er überraschend einen weiteren Zug. Diesmal befummelte er meinen Penis nicht frontal, sondern schüttelte ihn sanft, als ob er ihn aufwecken wollte. Wieder schlug ich seine Hand weg und verließ die Sauna. Ich war jedoch weder verärgert noch angewidert, nur perplex angesichts seiner Dreistigkeit und amüsiert von der Ungeschicktheit seiner Annäherungsversuche.

Als ich aus der Dusche kam, stand er nackt vor dem Spiegel, schnitt pseudo-verführerische Gesichter und rieb seine Geschlechtsteile am Waschbecken. Ich hatte Mitleid mit ihm und dachte, er sei ein verkappter Schwuler, der nur einem unbedrohlichen Ausländer seine wahren Bedürfnisse zeigen könne. Mit einem Zwinkern zeigte er auf mich, dann auf sich selbst, dann auf die Sauna. Ich konnte es nicht glauben, dieser Typ gab einfach nicht auf. Ich tätschelte ihm lachend die Schulter und sagte erneut Nein, bevor ich endgültig den Wellnessbereich verließ.

Später, nachdem diese ganze unselige Geschichte zu Ende war, fragte ich mich oft, ob ich bei unserer ersten Begegnung etwas anders hätte tun können, um die spätere Eskalation zu vermeiden. Ich fragte mich, ob ein klareres Nein oder eine empörtere Ablehnung seiner Annäherungsversuche ein deutlicheres Signal gesendet hätten. Wie fast jedes Opfer sexueller Belästigung wurde ich von Zweifeln gequält, ob mich nicht doch eine Mitschuld treffe. Ob ich nicht doch klarer hätte sein müssen, ob ich nicht doch einen längeren Rock hätte tragen oder nicht so lange Augenkontakt hätte halten sollen.

Als ich Scarhip zwei Wochen später zum zweiten Mal begegnete und er mir nun seine schwitzende Hand um den Knöchel legte, verkomplizierte sich die Geschichte drastisch. Ich brauchte danach lange, um wirklich zu verstehen, was geschehen war, warum ich so und nicht anders reagiert hatte, und was unser beider Verhalten jenseits des Offensichtlichen zu bedeuten hatte.

Wieder saß ich nackt in der Sauna, die Beine hoch auf der Bank, leicht geöffnet und ausgestreckt. Doch der einsame Genuss wurde jäh unterbrochen, als er durch die Tür trat. Zuerst erkannte ich ihn gar nicht, da ich in der Zwischenzeit kaum an ihn gedacht hatte. Für mich war das nur ein zwar skurriler, aber doch harmloser Vorfall gewesen. Aber als er nicht weit von meinen Füßen Platz nahm, konnte ich gut die dicke Narbe an seiner rechten Hüfte sehen, die ich schon bei unserer ersten Begegnung bemerkt hatte.

Sofort schrillten alle Alarmglocken. Ich saß wortwörtlich entblößt vor ihm, da er nun die perfekte Sicht zwischen meine Beine hatte. Und er starrte ohne Scham. Es ist ein seltsames Gefühl, so reduziert zu werden, und viele Menschen wären an dieser Stelle wohl einfach gegangen. Ich aber weigerte mich, mein Verhalten seinetwegen zu ändern. Ich wollte stärker sein als diese Störung und meinen Saunagang zu Ende genießen. Also versteckte ich mich in mir selbst und schloss einfach die Augen. Ich wollte ihm nicht dabei zusehen, wie er mich ansah.

Diese zur Schau gestellte Coolness hielt mich aber nicht davon ab, innerlich zu kochen. Ich war zutiefst irritiert und alle zehn oder fünfzehn Sekunden öffnete ich kurz die Augen, um zu prüfen, ob er das Interesse an mir verloren hatte; das hatte er aber nicht.

Nach einer kleinen Ewigkeit voller vergeblicher Versuche, mich zu entspannen, beschloss ich, dass es Zeit war zu handeln. Ich wollte ihn nicht gewinnen lassen; einfach zu gehen, war also immer noch keine Option. Stattdessen wollte ich sein Glotzvergnügen unterbinden. Es hatte etwas von einer kindlichen Trotzreaktion, wie ich mein rechtes Bein über das linke legte, um meinen Penis dazwischen zu verstecken. Und ebenso kindisch war Scarhips Antwort: Ohne zu zögern ergriff er meinen Knöchel und warf das Bein, das ich zuvor auf das andere gelegt hatte, von der Bank.

Das war keine spielerische Provokation mehr, das war eine verstörende Aggression. Ich hatte ihm zu verstehen gegeben, dass ich kein Interesse hatte und dass mir seine Blicke unangenehm waren. Seine Reaktion jedoch zeigte, dass ihn das nicht kümmerte und dass er sogar bereit war, Widerstände gegen sein Verlangen physisch zu brechen.

Alle Männer, denen ich diese Geschichte erzähle, versichern mir an dieser Stelle, dass sie spätestens jetzt handgreiflich geworden wären. Sie hätten ihn weggestoßen, gewürgt, geschlagen oder gar mit einem heißen Stein gebrandmarkt. Männliche Gewaltfantasien können brutal und einfallsreich sein. Und ich bilde da keine Ausnahme. Bis zum heutigen Tag träume ich davon, wie ich den großen Holzlöffel aus dem Wassereimer nehme und ihm damit ins Gesicht schlage, ihm seinen grinsenden Kiefer und seine Nase zertrümmere und danach seine Drecksgriffel zu Brei schlage. Denn so hätte ein „echter“ Mann diese Herausforderung gemeistert: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Aber anstatt diese Actionhelden-Fantasie auszuleben, stand ich einfach nur auf und ging. Natürlich warf ich Scarhip einen empörten und ange­widerten Blick zu, aber ich war viel zu überrascht, um zu mehr in der Lage zu sein.

Es dauerte fast eine Stunde, bis ich wieder halbwegs klar denken konnte. Aufgewühlt und verwirrt lief ich durch das Fitnessstudio und wog meine Optionen ab. Schließlich wand ich mich an einen Custom Relations Mitarbeiter, der sichtlich verlegen wurde, als er meine Beschwerde verstand. Er lud mich ein, Scarhip gemeinsam zur Rede zu stellen, aber ich erwiderte, dass dieser das Studio sicher schon verlassen habe.

Erst viel später dämmerte es mir, dass ich unterbewusst wohl genau darauf aus gewesen war: etwas fürs Gewissen zu tun, aber dabei jegliche Konfrontation zu vermeiden. Ich bin überzeugt, dass es vielen Opfern sexueller Übergriffe so geht. Sie leiden doppelt. Zum einen unter dem, was ihnen angetan wurde, zum anderen aber auch an Selbstvorwürfen, sich nicht oder nicht ausreichend gewehrt zu haben. So war es zumindest in meinem Fall. Ich schämte mich später dafür, nicht nur den Schwanz eingezogen und kampflos das Feld geräumt zu haben, sondern auch Scarhip nicht nachträglich gestellt zu haben.

Als Reaktion auf Beiträge zur aktuellen #MeToo-Debatte habe ich einige Männer fragen hören, warum die Opfer sexueller Belästigung nicht einfach zur Polizei oder der Personalabteilung ihrer Firma gehen. Ich bilde mir nicht ein, die Antwort im Einzelfall zu kennen, aber dass nicht einmal ich in der Lage war, meinen Fall sofort der Fitnessstudioverwaltung vorzutragen, hat mir die inneren Konflikte dieser Menschen ansatzweise verständlich gemacht.

Alles, was die Opfer für gewöhnlich haben, ist eine peinliche Geschichte ohne jegliche Beweise. Da ist es einfacher, den Mund zu halten und sich einzureden, dass sich das nicht wiederholen wird, als unbeteiligte Dritte von unserer Version des Geschehens zu überzeugen. Es ist erstaunlich, wie schnell eine einst klare Gefahr in eine weniger bedrohliche Erinnerung überführt wird. Innerhalb kürzester Zeit fragen wir uns, ob das, was passiert ist, wirklich so schlimm war.

Aber unser Bewusstsein davon zu überzeugen, nicht zu handeln, ist wesentlich einfacher, als unser Unterbewusstsein davon zu überzeugen, das Geschehene zu vergessen.

Es sagt viel über meine behütete Existenz aus, dass keine andere menschliche Berührung zuvor eine so dauerhafte, negative Wirkung auf mich gehabt hat. Zwar wurde ich einmal in Bolivien angegriffen und ausgeraubt, und als Jugendlicher war ich in ein paar harmlose Schlägereien verwickelt gewesen. Aber keiner dieser Vorfälle hatte auch nur annäherungsweise mein Verhalten so nachhaltig verändert wie Scarhips Knöchelgriff. Plötzlich konnte ich nachvollziehen, wie eine Nackenmassage durch einen Vorgesetzten zur Tortur werden kann; wie etwas, das oberflächlich so unschuldig daherkommt, aufgrund der darunter liegenden Machtdynamik traumatisch werden kann. Denn letztlich ging es Scarhip, als er meinen Knöchel berührte, genau darum: um Macht.

Er machte mir unmissverständlich klar, dass sein sexuelles Verlangen wichtiger war als mein Selbstbestimmungsrecht. Was ich wollte, zählte für ihn schlicht nicht. Vielleicht war er sich sogar sicher, dass er von meiner Seite nicht mit Vergeltung zu rechnen hatte. Ich war in seinem Land, dessen Sprache ich nicht sprach und in dem Kontakte und Geld mehr Gewicht haben als der Rechtsstaat. Und er, ein Einheimischer, der sich dieses exklusive Fitnessstudio leisten konnte, hatte wahrscheinlich von beidem genug.

Dieses Gefühl von Machtlosigkeit war ein Schock für mich. Es war etwas grundlegend Neues. Denn als weißer, männlicher Europäer werde ich normalerweise weder wie ein Gegenstand behandelt noch bin ich – wie so viele Frauen – sexuellen Demütigungen ausgesetzt, die ungesühnt bleiben.

In den Wochen nach diesem zweiten Vorfall sah ich Scarhip gelegentlich im Fitnessstudio. Ich konnte ihn nun aus jeder Perspektive zweifellos erkennen. Und jede Sichtung führte bei mir zu einer wilden Mischung aus erhöhter Wachsamkeit, Wut, Ekel und einem starken Drang, einfach nach Hause zu gehen. Zuerst überraschte mich dieser Automatismus, dann frustrierte er mich zusehends. Ich wollte so nicht reagieren, nicht so fühlen. Ich versuchte, die aufkommenden Gefühle zu bekämpfen und mich zu entspannen. Aber das Unbehagen hörte nicht auf, bis ich das Fitnessstudio verlassen hatte.

Es war mir nicht mehr möglich, in die Sauna zu gehen. Der Dampf dort war giftig geworden. Auf eine unheimliche Weise war Scarhip immer da, auch wenn er es nicht war. Sein Schweiß hing im Raum. Als ob er irgendwie seine Narbe vererbt hätte. Ich habe damals eine Ahnung davon bekommen, wie es sich anfühlt, traumatisiert zu sein.

Wenn ich diese Geschichte erzähle, ist dieser Teil für gewöhnlich der schwierigste. Normalerweise präsentiere ich diese Ereignisse als eine exotische Skurrilität; ich will meine Zuhörer zum Lachen bringen. Daher habe ich enorme Probleme, diesen unheimlichen Phantomschmerz überhaupt zu erwähnen. Die Angst und Schwäche zuzugeben, ein Opfer zu sein. Weder will ich so gesehen werden, noch sehe ich mich selbst so. Außerdem würde mir die Opferrolle wohl eh niemand abnehmen. Ich bin einfach nicht der Typ dafür – das rede ich mir zumindest ein. Um ganz ehrlich zu sein: Manchmal fällt es mir schwer zu glauben, dass ich jemals unter dieser Situation gelitten habe. Selbst jetzt, da ich dies schreibe, frage ich mich, ob ich tatsächlich so gefühlt oder ob ich nicht lediglich gelesenes Leid reimaginiert habe.

In den folgenden Monaten sah ich Scarhip gelegentlich, ohne dass es zu weiteren Zwischenfällen gekommen wäre. Die Mühe, nochmals das Gespräch mit dem Fitnessstudio zu suchen, ersparte ich mir. Blauäugig ging ich davon aus, dass diese Geschichte nun endgültig ein Ende gefunden hatte. Ich redete mir ein, dass ich ihn nur weiterhin grimmig anschauen müsse, um ihn auf Abstand zu halten. Ich dachte tatsächlich, meine Abschreckung sei stärker als seine Dreistigkeit. Dabei lief ich einfach nur vor ihm und dem Offensichtlichen davon. Das Problem aber ist: Wenn man vor Dingen davonläuft, laufen sie einem manchmal hinterher. Und genau das tat Scarhip eines Tages.

Als ich in die Umkleidekabine kam, schlüpfte er gerade in seine Straßenkleidung. Erleichtert zog ich meine Badehose an und ging ins Obergeschoss zum Pool. Aber überraschenderweise tauchte Scarhip zwei Minuten später auch dort auf und stieg ins Wasser. Ich war irritiert: Hatte ich mich in der Umkleidekabine etwa getäuscht? Ohne zu zögern verließ ich den Pool und ging in die Sauna. Im Nachhinein frage ich mich, was genau ich mir dabei gedacht hatte. Vielleicht wollte ich ihn testen, vielleicht aber auch den finalen Showdown erzwingen. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass ich mich einfach nur wieder verstecken wollte.

Ich legte meine Beine auf die Bank und versuchte mich zu beruhigen. Aber noch bevor ich meine Augen schließen konnte, betrat Scarhip mit einem triumphalen Blick die Sauna. Fast schien es, als ob er glaubte, irgendein Spiel gewonnen zu haben. Aber ich wollte ihm keinen Sieg mehr zugestehen. Mit nur einem Handtuch um die Hüften rannte ich aus dem Wellnessbereich ins Fitnessstudio. Ich war hysterisch, aggressiv und fest entschlossen, diese Angelegenheit hier und jetzt zu beenden. Es war mir gleichgültig, wer er war und wen er vielleicht kannte.Irgendwann hält man es einfach nicht mehr aus. Und dann lässt einen der Schmerz schreien und man will nur noch gehört werden.

Wie ein durchgedrehter Gladiator lief ich durch den Kraftraum und suchte nach jemandem, der Englisch sprach. Die Mitarbeiter starrten mich ungläubig an und versuchten vergeblich zu verstehen, was ich von ihnen wollte. Aber es war mir egal, ob sie mich verstanden oder nicht. Ich wollte mich nicht erklären. Die Zeit der Rücksichtnahme war vorbei. Es war Zeit für Rache, und Rache schießt immer über das Ziel hinaus.

Die beiden vietnamesischen Bodybuilding-Trainer, die mich schließlich abfingen, sprachen ein wenig Englisch. Barsch befahl ich ihnen, mir in den Wellnessbereich zu folgen, wo ich ihnen hastig erklärte, was passiert war und was ich von ihnen erwartete. Sie sollten Scarhip ein für alle Mal zu verstehen geben, dass er mich nicht mehr berühren, verfolgen oder sich gar im gleichen Raum aufhalten sollte. Sie nickten eifrig und holten Scarhip schließlich aus der Sauna.

Sie konnten jedoch nur eine einzige Frage stellen, bevor er völlig ausrastete. Ich sah die Verlegenheit auf seinem Gesicht, die für andere wie Empörung ausgesehen haben musste. Er lief wild gestikulierend im Kreis und schrie uns an. Vermutlich stritt er alles ab und nannte mich einen Lügner oder Phantasten. Ich gestehe, dass ich diese Reaktion nicht erwartet hatte. Und erst recht nicht, dass er handgreiflich würde. Ohne Vorwarnung schubste er mich aus dem Weg und ging zur Tür. Ich schubste zurück und hätte ihn am liebsten die Treppe hinuntergestoßen. Aber die Trainer sprangen dazwischen und trennten uns.

Aufgewühlt schaute ich zu, wie er davon rannte. Dieses Bild habe ich behalten, es ist mein letztes von ihm. Ich habe ihn danach nie wieder gesehen.

Danach wollte ich von den Trainern wissen, welche Frage sie ihm gestellt hatten. Ob er mir gefolgt sei, antworteten sie. Ich konnte es nicht fassen. Sie sollten ihn doch überhaupt nichts ­fragen, sondern nur etwas klarstellen.

Doch bevor ich mich beschweren konnte, hatten sie eine Frage an mich: Ob ich mir denn sicher sei, dass er es gewesen sei. Ich sah sie verzweifelt an. Nach allem, was ich ihnen gesagt hatte, erwogen die beiden wirklich, dass ich den falschen Kerl erwischt hatte! Sie hätten genauso gut fragen können, ob ich mir sicher sei, dass er etwas getan habe. Das wäre die gleiche Frage gewesen, liefen sie doch beide auf das gleiche hinaus: Die Trainer hatten Zweifel an meiner Version der Geschichte.

Schulterzuckend verließen sie kurz darauf den Wellnessbereich und ließen mich alleine zurück. Wellness aber war da keine für mich. Ich hatte gekämpft und verloren. Dass mir nicht geglaubt wurde, hatte einen verheerenden Effekt auf meine Moral. Das war fast noch schlimmer, als dass Scarhip ungeschoren davon gekommen war. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich konnte mich weder dazu durchringen, wieder in die Sauna zu gehen, noch konnte ich das Fitnessstudio verlassen. Stattdessen saß ich einfach vor meinem Spind, verloren und sehr einsam. INGO C. SCHOENLEBER

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