Was ist der Sinn unserer Arbeit?

Die Philosophin Lisa Herzog. Foto: Paula Winkler
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Wäre es nicht herrlich, wenn es in der Arbeit einfach nur um die Arbeit ginge? Um die Aufgaben, die wirklich erledigt werden müssen. Und nicht um all die Bürokratie, den Papierkram, die Konflikte, die Machtkämpfe? Viele ArbeitnehmerInnen sind überlastet, weil so vieles zusätzlich in die täglichen Arbeitsstunden gepresst werden muss, das von der eigentlichen Arbeit ablenkt. Dabei dienen manche Maßnahmen rein der Gängelung, typischerweise in den unteren Rängen der Hierarchien.

Gute Arbeit, das bedeutet auch: Eine Gestaltung des Arbeitsplatzes, bei der man sich auf das, was die eigene Arbeit eigentlich ausmacht, konzentrieren kann, auf das, wofür man qualifiziert ist und was einen motiviert. Und das ist nicht nur etwas, worauf wir uns dringend zurückbesinnen müssen, es ist auch ein zutiefst feministisches Anliegen.

Menschliches Handeln, das beschrieb schon der Philosoph Aristoteles in der griechischen Antike, folgt oft einer „um zu“-Logik: Wir tun etwas, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Im Fachjargon ist von „Teleologie“ oder „Funktionalismus“ die Rede. Sehr viele Tätigkeiten lassen sich, sei es auch noch so indirekt, auf diese Weise verstehen: Wir schreiben eine E-Mail, um eine Bestellung aufzugeben oder um bestimmte menschliche Bedürfnisse zu erfüllen. Wir halten ein Meeting ab, um die Zeit- und Aufgabenteilung zu besprechen, um die Arbeit zu planen. Sicher, es gibt auch Dinge, die wir rein um ihrerselbst willen tun – etwa Zeit mit FreundInnen verbringen. Doch in der Arbeitswelt ist die Frage nach dem „um zu“ von zentraler Bedeutung: Meistens geht es darum, bestimmte Ziele zu erreichen.

Nur: Die Frage nach dem „um zu“ geht im Arbeitsalltag allzu oft unter. Die IT-Abteilung will neue Programme einführen, die Personalabteilung will ihre Quoten erfüllen, aus der Finanzabteilung hallt der ewige Ruf nach Kostensenkungen. In den daraus entstehenden Reibungen ist es zunehmend schwierig, sich zusammenzusetzen und zu diskutieren, was das gemeinsame „um zu“ denn eigentlich wäre.

Vielleicht brauchen wir öfter einen Frauenstreik, um zu begreifen, was wichtig ist

Dabei gibt es wichtige Gründe, warum wir dies dringend tun sollten: die Notwendigkeit, unser gesamtes Wirtschafts- und Arbeitssystem menschen- und klimafreundlicher zu gestalten. Es steht so viel auf dem Spiel, dass wir die Frage nach den Zielen dringend neu stellen müssen. Klar ist, dass ein blindes Wachstum auf Kosten von Mensch und Natur nicht mehr das Ziel sein kann. Von öffentlichen Einrichtungen, aber auch von der Wirtschaft, wird mehr erwartet. Das haben im Sommer letzten Jahres sogar die mächtigen Mitglieder des „Business Round Table“, darunter zahlreiche CEOs internationaler Unternehmen, eingesehen und vom „purpose“ (Zweck) gesprochen, den ihre Unternehmen haben sollten. Wie ernst es ihnen damit ist, wird man noch sehen. Spricht man von der „um zu“-Logik oder von „purpose“, stellen sich zwei Fragen: Erstens, warum wird die „um zu“-Logik so oft von anderen Dingen überlagert? Und zweitens, wer entscheidet eigentlich darüber, was die Ziele sind? Spätestens hier wird klar, dass die alte aristotelische Frage nach dem „um zu“ sich mit dem urfeministischen Anliegen, die Welt (geschlechter)gerechter zu machen, treffen kann.

In der aristotelisch geprägten zeitgenössischen Philosophie wird zwischen „Praktiken“ und „Institutionen“ unterschieden. Mit „Praktiken“ sind gemeinsame Handlungsformen gemeint, die sich an Werten orientieren: im Gesundheitswesen geht es um das Wohl der PatientInnen, im Museumsbetrieb um die Kunst etc. Mit „Institutionen“ dagegen sind die organisatorischen Formen gemeint, in die diese „Praktiken“ eingebettet sind. In den „Institutionen“ geht es um „externe“ Güter wie Macht, Status und Geld; im Gegensatz zu den „internen“ Gütern, um die es in Praktiken geht.

Nun wäre es verlockend – aber doch zu einfach – darauf hinzuweisen, dass viele männlich kodierte Verhaltensformen sich an einer Logik von „Institutionen“ orientieren, und „Praktiken“ das weibliche Gegenmodell darstellen. Sicherlich, es stimmt, dass viele männliche Personen in höherem Maß daraufhin sozialisiert wurden, nach Macht, Status und Geld zu streben. Und weil an den Spitzen vieler Organisationen/Unternehmen immer noch vor allem Männer stehen, findet das Kämpfen um Macht, das Aufplustern und Intrigieren, das dort seinen Platz hat, vor allem unter Männern statt.

Das kostet alle Beteiligten Zeit und Energie. Und oft leiden unbeteiligte Dritte darunter, etwa die Angestellten, die schon wieder eine Umstrukturierung des Unternehmens mitmachen müssen, nur weil bei der Ressortaufteilung gewisse Eitelkeiten berücksichtigt werden müssen. Wenn all die zusätzliche Zeit, die dafür gebraucht wird, eingespart werden könnte, wäre die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vielleicht kein solches Problem.

Wer bestimmt eigentlich unsere Spielregeln und unsere Ziele?

Aber natürlich ist es so, dass auch viele Männer unter derartigen Verhaltensformen leiden. Auch viele von ihnen wollen lieber im Sinne von „Praktiken“ arbeiten, und umgekehrt gibt es auch Frauen, die sich ganz der institutionellen Logik anschließen. Was übrigens eines der Probleme ist bei dem Ansatz, Frauenquoten an der Spitze von großen Organisationen, nicht aber zum Beispiel in einem Kaskadenmodell auch weiter unten einzuführen. Es heißt, Frauen an der Spitze würden auch Frauen weiter unten fördern. Aber die Frauen, die es in männlich dominierten Institutionen an die Spitze schaffen, sind nicht immer diejenigen, denen Solidarität mit anderen Frauen das größte Herzensanliegen ist …

Dennoch: Die „Um zu“-Logik verweist darauf, welche menschlichen Bedürfnisse durch Arbeit letztlich befriedigt werden sollen. Und nach dieser Logik ist die Fürsorgearbeit und all die Arbeit, die dazu dient, die Infrastrukturen der täglichen Versorgung aufrechtzuerhalten, von größter Bedeutung. Wenn diese im wörtlichen Sinne lebensnotwendigen Arbeiten nicht erledigt werden, bleibt überhaupt keine Zeit, um nach der Verfolgung anderer Ziele zu fragen. Die „Um zu“-Logik, mit ihrem Fokus auf der konkreten Funktion menschlicher Arbeit, steht hier in direktem Gegensatz zu den Logiken von Geld, Status und Macht, die unsere Arbeitswelt durchziehen. Vielleicht bräuchten wir öfters einen der berühmten Frauenstreiks, um wieder ins Gedächtnis zu rufen, wie zentral diese Aufgaben für unsere Gesellschaften sind!

Die Verweigerung der Anerkennung von Arbeiten, die funktional von großer Bedeutung sind, betrifft aber nicht nur die Fürsorgearbeit, die Menschen unbezahlt in ihren Familien oder anderen privaten Kontexten erbringen. Auch in der Arbeitswelt selbst gibt es große Anerkennungsdifferentiale: Bezahlte Arbeiten, die als prestigeträchtig gelten, reißen oft Männer an sich, während Arbeiten, die für das „um zu“ zum Erreichen der gemeinsamen Ziele essentiell sind, aber wenig Geld, Ruhm und Ehre einbringen, an Frauen abgedrückt werden.

Um als Beispiel meine eigene Arbeitswelt, die Wissenschaft, heranzuziehen: Zahlreiche Wissenschaftler, die als berühmte Köpfe ihres Fachs in die Geschichte eingegangen sind, hatten Frauen um sich, die ihnen nicht nur den Rücken in Bezug auf Haushalt, Kinder und Sozialleben frei hielten, sondern die für sie auch Manuskripte edierten, Briefe schrieben und sich an der Forschung beteiligten – und wer weiß, wie viele ihrer Ideen dabei in die Werke ihrer Männer eingingen. Marianne Weber etwa, die Frau des Soziologen Max Weber, sorgte nach dessen Tod dafür, dass seine Hauptwerke überhaupt erst veröffentlicht wurden. Aus einer „Um zu“-Logik heraus war der Beitrag dieser Frauen entscheidend, dennoch blieben sie weitgehend unsichtbar, und werden erst nach und nach wieder entdeckt.

Wer von einer „Um zu“-Logik spricht, muss aber auch die zweite Frage beantworten, die ich aufgeworfen habe: Wer darf bestimmen, was die gemeinsamen Ziele sind? Das ist umso wichtiger, als die „um zu“-Logik in der Vergangenheit oft dazu missbraucht wurde, ungerechte Verhältnisse zu rechtfertigen. Da hieß es dann zum Beispiel, die Frau müsse zu Hause bleiben, um die Familie zu versorgen; oder der Fürst müsse herrschen, um das Wohl des Landes zu sichern. Derartige Ziele wurden als naturgegeben betrachtet. Dabei waren es die Vorurteile bestimmter Gesellschaften, denen damit eine überzeitliche Gültigkeit zugeschrieben wurde (auch Aristoteles machte sich dessen schuldig!).

Man kann jedoch die „um zu“-Logik von derartigen fehlgeleiteten naturalistischen Vorstellungen trennen, und sie stattdessen mit dem Prinzip der demokratischen Gleichheit verbinden. Dann gilt: Die Ziele, um derentwillen wir arbeiten, ergeben sich nicht – oder nur indirekt – aus natürlichen Gegebenheiten, sie sind eine gemeinsame Angelegenheit. In Demokratien entscheiden letztlich alle BürgerInnen gemeinsam, welche Ziele die Politik verfolgen soll. Das funktioniert nicht immer so gut, wie man es gerne hätte, aber es ist doch ein entscheidender Unterschied zu früheren Jahrhunderten, in denen die Vorstellung war, dass ein von Gott eingesetzter Herrscher diese Ziele vorzugeben habe.

In der Arbeitswelt dagegen ist Demokratie bisher meist kein Thema. Demokratische Gesetzgebung setzt gängige Vorstellung. Manchmal wird dies gerechtfertigt mit dem Hinweis, dass in der Wirtschaft ja Märkte vorherrschen würden, in denen alle frei entscheiden könnten, mit wem sie Verträge eingehen.

Doch dieses Bild ist verkürzt, besonders in Bezug auf die Arbeitswelt. Arbeits“märkte“ haben andere Strukturen als Märkte für andere Güter. Menschen sind keine Ware. Und die meisten Menschen können den Job nicht so einfach wechseln. Innerhalb von Organisationen – in denen die meiste Arbeit stattfindet – herrschen erhebliche Machtungleichgewichte, weil die Angst vor dem Jobverlust (oder auch der ausbleibenden Beförderung oder anderer Benachteiligung) den ChefInnen in die Hände spielt.

Die Verwundbarsten in der Arbeitswelt müssen endlich geschützt werden!

In der Praxis werden die Ziele oft von oben gesetzt: Es wird vorgegeben, was das „um zu“ ist, für das man zu arbeiten habe. Nur am Rande bemerkt: Wie schwer es ist, das von oben nach unten durchzusetzen, wenn die Beteiligten nicht mitziehen, merkt man daran, dass „Dienst nach Vorschrift“ nicht das Idealbild der Arbeitgeberseite, sondern eine Form des Protests der Arbeitnehmer ist. Um das Wissen der eigentlich Arbeitenden zu nutzen, wäre Partizipation gefragt – nicht unbedingt überall in Form von direkter Demokratie, aber doch zumindest in der Form, dass sich ChefInnen zur Wahl stellen.

„Wirtschaftsdemokratie“ heißt diese Idee, und in der Philosophie erlebt sie gerade ein Comeback. Oft stößt sie auf Skepsis, ob das überhaupt klappen könne. Aber es gibt Grund zu Optimismus. Es gibt zahlreiche Modelle, bei denen die Wirtschaftsdemokratie in der Praxis gut funktioniert; seien es Genossenschaften, Startups mit echt basisdemokratischen Strukturen oder Abteilungen in großen Unternehmen, in denen sich Teams selbst managen.

Aber ist die Wirtschaftsdemokratie auch ein feministisches Anliegen? Ja, solange sich mehr Frauen in den unteren Rängen des Wirtschaftslebens befinden als an der Spitze, definitiv! Es geht darum, denjenigen eine Stimme zu geben,den Rahmen dafür, dass innerhalb des Wirtschaftssystems jede und jeder ihre und seine eigenen Ziele verfolgen darf – das ist die die in der Arbeitswelt am verwundbarsten sind – und das sind oft Frauen, insbesondere diejenigen, die in der so genannten „Teilzeitfalle“ gelandet sind (Warum „so genannt“? Weil es eine Frage des gesetzlichen und gesellschaftlichen Rahmens ist, ob es so eine „Falle“ gibt oder nicht!). Demokratische Kontrolle ist sicher nicht das einzige Instrument, aber doch eines, das vielversprechend erscheint. Viel zu oft ist es noch so, dass am Arbeitsplatz Männer über Frauen Macht ausüben – auch mit dem Nebeneffekt, dass sexuelle Belästigung möglich ist und oft unbestraft bleibt.

Und last but not least: Je besser es gelingt, Hierarchien am Arbeitsplatz – die oft mit der eigentlichen Arbeit sehr wenig zu tun haben – einzudämmen, und Arbeit an demokratisch legitimierten Zielen zu orientieren, desto besser dürfte das für die work-life-balance sein. Denn letztlich ist Arbeit eben doch nur das halbe Leben!

Lisa Herzog

Unbedingt lesen, macht Spaß! Lisa Herzog: Die Rettung der Arbeit - Ein politischer Aufruf (Hanser Verlag, 22 €)

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