Es gibt sie: die Pionierinnen

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Die Weisheit ist eine Gottheit mit drei Flügeln, dichtet Hildegard von Bingen: „In die Höhe empor schwingt der eine, auf der Erde müht sich der zweite, und allüberall schwingt der dritte. Lob sei dir, Weisheit, würdig des Lobes.“ Die Äbtissin vom Rhein lebt ganze 80 Jahre, von 1098 bis 1178, und ist für viele die naturwissenschaftliche Ahnfrau schlechthin. Sie komponiert, verfasst eine Natur- und Heilkunde, und hat die Ambition, den Kosmos, die ganze Schöpfung zu verstehen. Dabei ist der Benediktinerin eines klar: Um sich mitzuteilen, muss sie schreiben, und zwar auf Latein. Und um das Geschriebene aus den Klostermauern hinaus in die Welt zu tragen, braucht sie neben ihrer Bildung auch Macht. Sie ruht deshalb nicht, bis sie von Heiligen Stuhl als „Prophetin“ anerkannt wird. Mit diesem Lehramt im Rücken gründet sie ihr eigenes Kloster, führt einen Europa umspannenden Briefwechsel und veröffentlicht ihre drei großen Visionsschriften.

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Die Geschichte der Frauen in den Naturwissenschaften dreht sich seit der ersten Jahrtausendwende – als auch die heilkundige Hroswitha von Gandersheim (935–968) oder die Enzyklopädistin Herrad von Landsberg (1125–1195) wirken – um die beiden großen Fragen, die schon das Leben Hildegards bestimmt haben: Wie erlangt eine Frau Zugang zur Bildung? Und wie erreicht sie es, gehört bzw. als eigenständige Naturwissenschaftlerin ernstgenommen zu werden?

In den Anfängen können sich Frauen nur im Kloster derart umfassende Kenntnisse aneignen, um forschend tätig sein. Sie orientieren sich am so genannten Quadrivium, das die Fächer Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie umfasst – oft ergänzt durch die Naturkunde – und das auch für die Studenten an den gerade gegründeten Universitäten in Bologna, Paris und Oxford Pflicht ist. Studieren dürfen freilich nur Männer, mit Ausnahme der Medizin im süditalienischen Salerno.

Die ersten Naturwissenschaftlerinnen also arbeiten zunächst von Gottes Gnaden und später sind sie oft abhängig vom Wohlwollen des Vaters, Ehemanns oder Bruders. Der Preis dafür ist hoch: In vielen Fällen erscheinen ihre Arbeiten unter anderen, meist männlichen Namen. Daran wird die Geschichte vieler forschender Frauen aus der frühen Zeit für immer ungeschrieben bleiben.

Doch einige Pionierinnen publizieren stolz selber, wie zum Beispiel die Astronomin Maria Cunitz 1650 ihr Werk „Urania Propitia“. Im Vorwort bezeugt ihr Ehemann gegenüber misstrauischen Lesern ausdrücklich die umfangreiche Bildung und die Autorenschaft „seiner Cunitia“. Sie hatte sich Latein, Mathematik, Sprachen und Astronomie im elterlichen Medizinerhaushalt angeeignet, denn die städtischen Schulen lehrten zwar die Mädchen bereits Schreiben und Lesen, aber Handarbeiten und Bibelstudium blieben die Hauptfächer.

Ausnahmefrauen wurden schon immer argwöhnisch beäugt. Solche wie Maria Sybilla Merian, Jahrgang 1647. Ihre Naturstudien schaffe die gebürtige Frankfurterin mit „großem Fleiß, Zier und Geist“ und das neben der „regulierten guten Haushaltsführung“, lobt „die teutsche Akademie“. Sybilla hatte sich im stiefväterlichen Atelier das Rüstzeug zum Malen erworben und konnte deshalb ihre Beobachtungen zur Metamorphose der Schmetterlinge und den ökologischen Kreisläufen, in der die Insekten leben, in faszinierenden naturkundlichen Bildern festhalten. Anfänglich mehr aus Not schreibt die Merianin in deutscher Sprache ihr Buch „Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung!“ Der Wissenschaftssprache Latein ist sie nämlich nicht mächtig, und hätte sonst stumm bleiben müssen.

Solch sprachlichen Mut beweist auch Maria Cunitz, die einen Teil ihrer astronomischen Tabellen ebenfalls in ihrer Muttersprache vorlegt, um endlich die „Kunstliebenden deutscher Nation“ zu erreichen. Beide Frauen leisteten damit einen wegweisenden und bis ins 18. Jahrhundert einmaligen Beitrag: Die geschlossene Gelehrtenrepublik öffnete sich langsam, noch bevor die philosophischen Wegbereiter der Aufklärung für Deutsch als Wissenschaftssprache plädierten, was wiederum die forschenden Frauen begünstigen sollte.

Zwei Besonderheiten brachten die frühen Naturwissenschaftlerinnen mit, und diese gelten übrigens bis heute: Alle waren Vater-Töchter, das heißt, sie wurden uneingeschränkt gefördert durch den Patriarchen, und legten sich schon früh auf ein Gebiet fest. Und sie reüssierten vor allem dann, wenn sich ein neuer Forschungszweig auftat. In den Anfängen der Botanik oder Astronomie, als es noch darum ging, grundlegende Daten zu sammeln und auszuwerten, erwiesen die Frauen sich als die geduldigeren und systematischeren Forscherinnen. Sie erledigten Arbeiten, die oft gering geschätzt wurden. Genie war in den Augen vieler etwas anderes und vor allem männlich – das galt bis weit ins 17. und 18. Jahrhundert, in denen sich die modernen Naturwissenschaften herausbildeten.

Aber auch in der Atomphysik, Biochemie und Genetik am Anfang des 20. Jahrhundert waren die meisten Frauen in ganz neuen Feldern aktiv und hier oft die spannenderen (Quer)Denkerinnen, wie Barbara McClintock. Sie fand schon in den Fünfziger Jahren heraus, dass Gene weitaus weniger starr sind als angenommen. Anfangs belächelt, ja sogar ignoriert, bekam sie dafür 1983 den Medizinnobelpreis.

Trotz ihrer wachsenden Bedeutung galten forschende Frauen qua Geschlecht bestenfalls als Zuarbeiterin, ihre eigenständige Arbeit, ihre Rolle im Team wurde oft klein geredet. Zum Beispiel Caroline Herschel. Sie bildet ein Duo mit ihrem Komponisten-Bruder und Uranus-Entdecker. Für die 1750 geborene Hannoveranerin ist das Leben als seine astronomische Assistentin im englischen Slough eine echte Alternative zu Ehe und Kindern. Sie schafft es sogar, sich als eigenständige Forscherin zu etablieren: Die Herschel greift selbst nach den Sternen und entdeckt mehrere Kometen. Für ihre Arbeit bezieht sie am Ende sogar ein Gehalt von der englischen Krone. Caroline Herschel kann wahrscheinlich als Erste von sich sagen: Beruf Naturwissenschaftlerin! Dennoch galt sie lange als Wilhelm Herschels kleine Schwester.

Selbst die Forscherpaare, die versuchten, Gleichberechtigung zu leben, hatten es nicht leicht. Gab es eine feste Stelle, erhielt sie in der Regel der Mann, wie bei Pierre und Marie Curie. Im Jahr 1903 wurde die gebürtige Polin Marie Sklodowska, verheiratete Curie, zwar die erste naturwissenschaftliche Nobelfrau – trotzdem bekam sie erst ab 1908 als „Witwe“ einen ordentlichen Lehrstuhl.

Marie Curie ist bis heute die bekannteste Naturwissenschaftlerin, ihr Name steht für einen Aufbruch, eine wirkliche Veränderung. Ihr großes Vorbild erlaubte es fortan jedem Mädchen, sich die Frage zu stellen: Kann ich Naturwissenschaftlerin werden?

Lise Meitner, Jahrgang 1878, beantwortete diese Frage mit: Ja! Sie zählt zur letzten Generation von Frauen, denen der Weg zum Abitur und an die Universität noch versperrt war. Die Österreicherin musste in Privatkursen den Stoff für die externe Matura pauken, eine Art Schleichweg, um studieren zu können. Auch die Mathematikerin Emmy Noether musste noch diesen Weg gehen. Während Frauen in Frankreich bereits seit 1863 regulär an den Universitäten zugelassen waren.

Wegbereiterinnen des Frauenstudiums auch in den Naturwissenschaften waren zunächst besonders die jungen Russinnen gewesen, die sich ab 1870 Hospitationen an den europäischen Hochschulen erkämpft hatten. Eine von ihnen war die große Mathematikerin Sonja Kowalewski. In den USA dagegen gibt es in der Zeit bereits reine Frauenuniversitäten. Im Vassar College zum Beispiel lehrt Maria Mitchell, die sich als Bibliothekarin über eine Arbeit als „Computerin“ – sie berechnet Tabellen für die Schiffsnavigation – zur Kometenjägerin hochgearbeitet hat. Mitchell wird als erste Astronomieprofessorin berufen. Sie sorgt mit ihrem Privatvermögen dafür, dass ihr Lehrstuhl im weiblichen Harvard erhalten bleibt und wieder mit einer Frau besetzt wird.

In Berlin dagegen sind noch Anfang des 20. Jahrhunderts keine Frauen an der Uni zugelassen. Trotzdem nimmt Max Planck im Jahr 1907 Lise Meitner auf. Dabei hatte er nur wenige Jahre zuvor noch gewettert: „Amazonen sind auf geistigen Gebiet naturwidrig“. Die Physikerin arbeitet zunächst mit dem Chemiker Otto Hahn nur in dessen Holzwerkstatt: Sie muss im Keller bleiben und darf das Institut nicht betreten. Aber nicht nur Meitner, auch andere Frauen blieben eher unsichtbar, eben im Keller, bis sie durch ihr öffentliches Auftreten, durch Publikationen und das Recht sich zu habilitieren – das ihnen in Deutschland endlich ab 1920 gewährt wurde – langsam sichtbar wurden.

In den Jahrhunderten zuvor hatte es nicht etwa eine stetige Zunahme von Forscherinnen gegeben, sondern es war ein Auf und Ab, immer abhängig von gesellschaftlichen und persönlichen Umständen. Doch fortan geht es bergauf: In den Kaiser-Wilhelm-Instituten – den Vorläufern der heutigen Max-Planck-Institute – arbeitet zwischen 1910 und 1945 eben nicht nur Lise Meitner, sondern es sind doch immerhin 243 Frauen in den unterschiedlichsten Fachrichtungen tätig.

Trotzdem halten sich längst widerlegte Vorurteile, etwa in dem Buch „Der Physiologische Schwachsinn des Weibes“ des Neurologen Paul Julius Möbius, erschienen 1900. Darin heißt es: „Körperlich genommen ist, abgesehen von den Geschlechtsmerkmalen, das Weib ein Mittelding zwischen Kind und Mann und geistig ist sie es, wenigstens in vielen Hinsichten, auch. Wollen die Intellektuellen ihr Geschlecht erhalten, so müssen sie vor allem darauf achten, dass ihre Frauen gesunde Weiber und nicht Gehirndamen sind.“

Eine Frauenverachtung, die in der Mutterideologie der Nazis auflebte und noch lange nachwirken sollte: In keinem anderen Land Europas sind Vereinbarkeit von Kindern und Karriere ideologisch so besetzt und so lange verhindert worden wie in Deutschland. Frausein gilt hierzulande zwar endlich nicht mehr als „Behinderung“, aber es ist bis heute eine große Verhinderung geblieben, gerade auch in den harten, als „unweiblich“ geltenden Naturwissenschaften.

Obwohl das Möbius-Buch von 1900 bis 1920 in zwölf Auflagen erschienen ist – und eindeutig eine Reaktion auf die Erste Frauenbewegung war – hielt Atomphysikerin Meitner, die wie viele Kolleginnen aus Nazideutschland fliehen musste, es nicht für nötig, dessen Inhalt ernst zu nehmen und öffentlich zu widersprechen. „Später habe ich begriffen, wie irrtümlich diese meine Auffassung war, und wie viel Dank speziell jede in einem geistigen Gebiet tätige Frau den Frauen schuldig ist, die für die Gleichberechtigung kämpfen“, bekennt sie.

Zu diesem Kampf gehört seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch die Suche nach der weiblichen Geschichte in den Naturwissenschaften. Ein 1998 veröffentlichtes „Lexikon der Naturwissenschaftlerinnen und naturkundigen Frauen Europas“ verzeichnet immerhin 540 „Gehirndamen“. Sie alle verspürten diese Lust an Erkenntnis, die schon vor tausend Jahren Hildegard von Bingen am Ende ihrer Beschreibung der dreiflügeligen Weisheit – trotz aller Erdenmühsal – jubeln ließ: „Lob sei dir, Weisheit, würdig des Lobes.“

Charlotte Kerner schrieb Forscherinnen-Biografien und Porträts von Nobelpreisträgerinnen. Von ihr erschien  „Kopflos – Roman um ein wissenschaftliches Experiment“ (Piper).

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