Bauhaus-Frauen: Friedl Dicker

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Noch unter furchtbarsten Bedingungen bewies Dicker dann ihre außergewöhnliche pädagogische und therapeutische Begabung: im Ghetto Theresienstadt, wo sie nach ihrer Internierung ab 1942 bis zu ihrer Ermordung in Auschwitz im Oktober 1944 den Kindern illegal Mal- und Zeichenunterricht gab. Rund 600 der etwa 5.000 erhaltenen Kinderzeichnungen aus dem Ghetto zeigen einen deutlichen Bezug zur Bauhauspädagogik der Weimarer Zeit, wie auch Friedl Dickers Schülerin und spätere Biografin Elena Makarowa bestätigt. Die Kinderbilder und ihre eigenen Arbeiten aus Theresienstadt, dazu weitere der weltweit verstreuten Werke Friedl Dickers sind seither an vielen Orten der Welt ausgestellt worden.

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Friedl Dicker wurde 1898 in Wien geboren. Sie wuchs in einem bürgerlichen jüdischen Elternhaus auf. Die Mutter Karoline starb, als ihr einziges Kind Friedl kaum vier Jahre alt war. In dem Papiergeschäft, in dem ihr Vater Simon Dicker als Verkäufer arbeitete, zeichnete Friedl schon im Vorschulalter. Dass das kostbare Papier nicht für Kinder da sei, merkte sie sich fürs Leben; viele ihrer Skizzen gingen später unwiederbringlich verloren, weil sie auf Zeitungspapier gezeichnet waren.

Von 1909 bis 1912 besuchte sie die Wiener Bürgerschule für Mädchen. Schon als Jugendliche hegte sie eine Leidenschaft für schön gestaltete Bücher; mit der Herstellung von Marionetten und mit Puppenspiel verdiente sie sich ihr erstes eigenes Geld. Von 1912 bis 1914 machte Friedl Dicker eine Lehre für Fotografie und Reproduktionstechnik an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien – damals für ein junges Mädchen ein noch recht ungewöhnlicher Weg. Von 1914 bis 1916 besuchte sie dann die Textilklasse der k.u.k.-Kunstgewerbeschule.

Nun schnitt Friedl sich das Haar kurz, schwänzte mit Vergnügen die Abendkurse am Freien Lyzeum und warf sich dem Theater in die Arme. Von 1916 bis 1919 studierte sie an der privaten Kunstschule von Johannes Itten. Dicker gehörte während ihrer gesamten Weimarer Zeit zum Kreis der Itten-Getreuen.

Neben Itten stand Paul Klee ihr besonders nahe. Ihre temperamentvoll-darstellerische Seite lebte sie in der Bildhauerwerkstatt bei Oskar Schlemmer aus. Schlemmers für die Bühne zusammengesetzten "triadischen" Ballettfiguren beflügelten ihre Gestaltungs- und Inszenierungsideen für das Theater. Im Frühjahr 1921 erhielt sie als einzige Studentin ein Stipendium.

Zwischen 1920 und 1924 entwarf und gestaltete Friedl Dicker gemeinsam mit Franz Singer Bühnenbilder und Kostüme für Theater in Dresden und Berlin. Sie arbeiteten mit Berthold Viertel und später mit Bert Brecht zusammen. Ihre Studienzeit am Weimarer Bauhaus endete laut Zeugnis im September 1923.

Zwischen Friedl Dicker und Franz Singer bestand schon seit mehreren Jahren eine intensive Arbeits- und Liebesbeziehung. 1921 heiratete Singer die Schauspielerin Emmy Heim und hatte mit ihr einen Sohn bekommen. Friedl, die sich sehnlichst Kinder wünschte, wurde mehrfach von Singer schwanger, doch da er mit ihr kein Kind haben wollte, trieb sie ab. Das stürzte beide in schwere Krisen, das stürmische Liebes- und Arbeitsbündnis ging dennoch weiter.

1923 gründete Dicker mit Singer in Berlin-Friedenau die "Werkstätten Bildender Kunst", 1926 in Wien das Gemeinschaftsatelier "Singer-Dicker", das äußerst erfolgreich war. Die Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet und in vielen Ausstellungen gezeigt. Friedl Dicker stach im Bereich der Innenarchitektur durch ihre unorthodoxen Formprinzipien, ausgeprägte Farbigkeit und "Materialsinnlichkeit" hervor, geprägt vom Bauhaus-Raumkonzept der wandelbaren Zweckmäßigkeit auf kleinstem Raum und der Prinzipien von Ungebundenheit, Offenheit und Toleranz.

1931 trennte Friedl Dicker sich von Franz Singer und eröffnete in Wien ein eigenes Atelier. Doch aus dem roten wurde zunehmend das schwarzbraune Wien. Dicker, die 1931 der kommunistischen Partei beigetreten war, wurde 1934 inhaftiert.

Nach der Entlassung ließ sie sich in Prag nieder, baute sich als Innenarchitektin und Zeichenlehrerin eine neue Existenz auf und engagierte sich im Kreis kommunistischer Emigranten gegen den Faschismus. Friedl Dicker gehört in die KünstlerInnengeneration des 20. Jahrhunderts, deren Existenz durch die totalitäre Ideologie und Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten auf dreifache Weise bedroht war: als Jüdin, als Kommunistin und als Künstlerin einer bald als entartet abgestempelten Kunstrichtung.

Im April 1936 heiratete Friedl Dicker ihren Cousin Pavel Brandeis und wurde tschechoslowakische Staatsbürgerin. Doch die Zeit privaten Glücks war nur von kurzer Dauer. Schon bevor Hitler in Prag einmarschierte, wurde ihre Lage bedrohlich. Dennoch schlug sie 1938 ein Visum nach Palästina aus und zog mit Pavel in die böhmische Stadt Hronow. Im Jahr 1940 wurden zwölf Bilder von ihr auf einer Ausstellung in der Royal Art Gallery in London gezeigt.

Im September 1942 wurde das Ehepaar Brandeis nach Theresienstadt deportiert. Ihre Bilder, Entwürfe und Skizzen und die Kinderzeichnungen aus Theresienstadt fanden sich nach der Befreiung 1945 in zwei Koffern. Daran, dass sie kaum etwas von den Schrecknissen des Lageralltags wiedergeben, lässt sich ablesen, dass es Friedl Dicker gelang, die Kinder immer wieder für einige Stunden am Tag in eine andere, heilende Welt jenseits aller Traumata und Todesängste zu entführen, obwohl ihr Leben selbst bedroht war. In dieser zutiefst unmenschlichen Umgebung verfolgte sie das Ziel einer ganzheitlich-humanistischen Erziehung mit Mitteln der Kunst.

"Wie bei Itten wurden die Werke alter Meister – das heißt: Reproduktionen – auf ihren Gehalt hin befragt, und da Strukturanalysen außerhalb der kindlichen Möglichkeiten lagen, wurde die Annäherung durch Kopieren versucht. So taucht in den Theresienstädter Zeichnungen dasselbe Cranach-Modell auf, das einst die Studierenden in Weimar beschäftigt hatte", schreibt der Kunsthistoriker Hans M. Wingler.

Neben der Arbeit mit den Kindern hatte die Bauhäuslerin im Ghetto auch noch die Kraft für theoretische Überlegungen gefunden, die sie 1943 in dem Aufsatz "Kinderzeichnen" niederlegte. Friedl Dicker: "Dem Kind sollte uneingeschränkt vertraut werden. Wenn wir das Beste für das Kind tun wollen, geben wir ihm Material und ermuntern es, mit der Arbeit zu beginnen."

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