Mythos: Gibt es das Jungfernhäutchen?

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Als ich als junge Ärztin in der Gynäkologie begann, suchte ich vergebens nach diesem sagenumwobenen Jungfernhäutchen. Wir hatten viele türkische Patientinnnen, und nicht selten kamen Eltern mit ihren verschreckten Töchtern und verlangten, die Unversehrtheit ihrer Tochter zu bestätigen. Das war in den 1980er Jahren.

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In vielen Kulturen wird traditionell erwartet, dass die Frau als Jungfrau in die Ehe geht. Auch in Deutschland bewahren vor allem Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis diese Tradition. Oft führt das für die jungen Frauen, die hierzulande aufwachsen, zu einem schweren Konflikt. Denn sie wollen ihre Sexualität, ganz wie ihre deutschen Freundinnen, frei ausleben.

Doch was und wo ist das „Jungfernhäutchen“? Darum ranken sich viele falsche Vorstellungen. Den Hymen stellen sich manche als eine Art Häutchen vor, das die Vagina vor dem ersten vaginalen Verkehr verschließt. Das ist falsch. Sonst könnte ja zum Beispiel das Menstruationsblut gar nicht abfließen.

Das so genannte Jungfernhäutchen ist eine Ansammlung von Schleimhautfalten, die sich bilden, wenn sich die inneren und die äußeren Sexualorgane während der Embryonalzeit miteinander verbinden. Bei manchen „jungfräulichen“ Frauen existiert gar kein Schleimhautring. Doch bei den meisten findet sich ein individuell unterschiedlicher Ring aus Falten. Es gibt auch Frauen, bei denen dieser Schleimhautring bis zur Geburt des ersten Kindes erhalten bleibt, weil er weit und dehnbar ist. Selbst aufgeklärte Menschen wissen oft nicht, dass jede zweite Frau beim ersten vaginalen Verkehr nicht blutet.

Wie also konnte aus einem so vagen Tatbestand ein so eiserner patriachaler Mythos erwachsen? Es geht bei dem Mythos vom Jungfernhäutchen um das grundlegende Recht der Frau auf selbstbestimmte Sexualität bzw. das Verbot auch vor einer Ehe. Denn dieses Recht ist immer noch nicht selbstverständlich.

Dabei ist nach wie vor ungeklärt, was eine Jungfrau eigentlich ist. Wenn „Jungfräulichkeit“ mit fehlender sexueller Erfahrung gleichgesetzt wird, dann könnten entgegen der deutschen Bezeichnung auch Jungen „Jungfrauen“ sein. Traditionellerweise wird allerdings die „sexuelle Unschuld“ nur von Frauen erwartet und deren Fehlen nur ihnen angelastet.

Die sexuelle Initiation, das „erste Mal“, ist sicherlich für viele Menschen ein mit Spannung erwartetes Ereignis. Das erklärt aber bei weitem nicht das Aufheben, das in unserer Kultur und noch stärker in anderen Kulturen um die Jungfräulichkeit gemacht wird. Gerade junge Frauen aus der muslimischen Kultur sind oft so erzogen worden, dass ihre Jungfräulichkeit die „Ehre“ der Familie bedeutet. Wer diese Ehre aufs Spiel setzt, wird bestraft, aus der Familie ausgeschlossen und im allerschlimmsten Fall im Namen der Ehre getötet.

Das Deutsche Ärzteblatt meldete jüngst, dass immer mehr Frauen in Deutschland eine Rekonstruktion des Hymens, eine so genannte Hymenorraphie oder Hymenalplastik, durchführen lassen. Der Preis für die Operation in einer Klinik für plastische Chirurgie bewegt sich in den europäischen Ländern zur Zeit zwischen 500 und 4.000 Euro.

In meiner Assistenzzeit in Gelsenkirchen habe ich selbst unter der Aufsicht meines kurdischen Oberarztes bei verunsicherten jungen Musliminnen diesen zweifelhaften, aber manchmal lebensrettenden kleinen Eingriff durchgeführt. Anonym und umsonst. Dabei werden die Schleimhautfalten angefrischt, das heißt mit dem Skalpell geritzt, bis sie bluten, und enger wieder zusammen. Das alles dauert nicht länger als 15 bis 30 Minuten.

Heute würde ich einen solchen Eingriff nur als allerletzte Möglichkeit ansehen, weil zum einen eine „Entjungferung“ dadurch in der Regel schmerzhafter wird, und es sich zum anderen um eine völlig unnötige Operation handelt, die faktisch eine Körperverletzung darstellt. Das bedient letztlich nur den Jungfrauenwahn. Eine vernünftige Aufklärung wäre sinnvoller.

Doch fragwürdige Schönheitschirurgen nutzen den Jungfrauen-Mythos für ihre zweifelhaften Geschäfte, indem sie die (Wieder)Herstellung eines Jungfernhäutchens anbieten. Dazu arbeiten sie mit irreführenden Informationen, wie ein Schönheitschirurg aus Berlin. „Das Jungfernhäutchen stellt eine feine empfindliche Membrane dar. Es kann mit Haut verglichen werden, ist aber viel dünner (...) Bei den meisten Mädchen bedeckt es die Scheidenöffnung“, wirbt der Arzt wider besseres Wissen im Internet.

Heutzutage wird gerade in dem anonymen Internet ganz offen für diesen Eingriff geworben, zu enormen Preisen. Was auf den Klinikseiten als „freiwilliger Eingriff“ angeboten wird, sieht in privaten Internetforen ganz anders aus. So diskutieren Frauen in einem deutsch-türkischen Forum verzweifelt, wie sie ihr „Hymen“ zurückbekommen können. Da heißt es: „Hallo Ms Unbekannt, kannst du bitte sagen, wo du es gemacht hast. Gib uns bitte die Adresse des Arztes. Du würdest mein und das Leben der anderen Mädchen retten. Es ist sehr wichtig. Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren. Sonst kann ich meine Sachen packen und weggehen. Bitte hilf uns!“ Oder: „Ich habe eine Frage. Das mit dem Nähen ist ja klar!! Aber was ist mit dem Bluten!!!! Blutet man denn auch oder nicht? Das wichtigste ist ja das man blutet!!!! Helft mir bitte.“

Übrigens gibt es unter der schönen Adresse www.jungfrauenhilfe.de eine viel einfachere, wenn auch nicht minder fragwürdige Möglichkeit. Den Kontakt zu einem Arzt, der den Eingriff für immerhin „nur“ 250 Euro anbietet. Und für 24 Euro zwei Kunststoffhäutchen mit Kunstblut, die sich bei Wärme und Berührung ausdehnen und ein ähnliches blutiges Ergebnis bescheren. Einmal zum Ausprobieren, einmal für den Ernstfall. Einige Kundinnen, die es probiert haben, waren ganz begeistert. „Ihr habt mir die Ehre gerettet. Ich werde euch weiter empfehlen“. 

Doch auch in dem Berliner Familienplanungszentrum Balance wird in Ausnahmefällen, nach ausführlicher psychologischer Beratung, eine Hymen-Operation durchgeführt, für 130 Euro. Denn auch dort häufen sich seit einiger Zeit die Anfragen junger Frauen aus der muslimischen Community.

In einer Stellungnahme von pro familia, Terre des Femmes und balance wird allerdings betont, dass die Verbände sich „für ein freies und selbstbestimmtes Leben für Mädchen und Frauen“ einsetzen. Das beinhaltet „das Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität“, heißt es da. Und weiter: „Die gesellschaftliche Bedeutung der Jungfräulichkeit wird häufig dafür verwendet, Frauen ihre sexuelle Selbstbestimmung zu verweigern und sie in ihrer Lebensführung einzuschränken. Aus diesem Grund lehnen wir die Rekonstruktion ab.“

Das Verständnis für die Not der Frauen sollte auch nach Auffassung der medizinischen Fachgesellschaften nicht dazu führen, dass die Risiken in der Betrachtung hintangestellt werden. Denn es gibt kein verbindliches Operationsverfahren. Und die Tatsache, dass sich Ärzte untereinander anlernen, lässt den Eingriff in einer bedenklichen Grauzone außerhalb der sonst geforderten Ausbildungsstandards. Auch hier gilt, dass Narben, Entzündungen und Verklebungen das spätere Sexualleben schmerzlich und langwierig beeinträchtigen können.

Die so genannte Revirgination ist darum nicht nur aus emanzipatorischen, sondern auch aus medizinischen Gründen abzulehnen.

www.jungfrauenhilfe.de , „Balance“ T 030/5536792.

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