Die Posaune Gottes

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Laudes – 1098

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Das neue Jahrtausend ist schon fast ein Jahrhundert alt als Hildegard geboren wird – mitten hinein in eine wirre und verwirrende Zeit: Die Christenheit hat sich in eine West- und eine Osthälfte gespalten; ein Kreuzfahrerheer ist auf dem Weg nach Jerusalem; Ketzersekten ziehen predigend durchs Land; Staat und Kirche liefern sich einen erbitterten Zweikampf um die Macht. Bis zu Hildegards Tod werden fünf deutsche Kaiser und Könige regiert haben sowie 17 Päpste und Gegenpäpste.
Gott ist aus dem Blickfeld geraten. Aber das kleine Mädchen, das irgendwann zwischen Frühling und Herbst 1098 im pfälzischen Nahetal als zehntes Kind bodenständiger Edelleute zur Welt kommt wird den Himmlischen wieder ins Zentrum rücken: als "das Licht"' das "lebendige, wahre, allerhellste Licht".
Doch noch ist es nicht so weit. Noch ist Hildchen acht Jahre alt und wird in eine "Einsiedlerklause" auf dem Disibodenberg "eingemauert": winzig und karg, ohne Fenster, nur mit einer Durchreiche für Lebensmittel versehen. So erzählt's die Legende. Wahr daran ist, daß Hildebert und Mechthild von Bermersheim ihre Tochter Hildegard gleich nach der Geburt "Gott geweiht" haben und sie 1106 in die Obhut der gebildeten Benediktinerin Jutta von Sponheim geben. Die unterrichtet auf dem Disibodenberg auch andere Pfälzer Mädchen aus gutem Hause. Die meisten von ihnen "nehmen den Schleier": nicht als Bräute eines dumpfen Landadeligen, sondern als "geweihte Bräute Christi" (denen zumindest kein früher Tod im Kindbett droht). Im Grunde ist Juttas "Klause" ein kleiner Nonnenkonvent. Allerdings kein selbständiger, denn er ist den Mönchen in der mächtigen Benediktiner-Abtei gleich nebenan unterstellt.
Das unterscheidet die Frauenklause auf dem Disibodenberg von den großen Frauenklöstern, die im Früh- und Hochmittelalter in ganz Europa gegründet wurden: Die waren Hochburgen weiblicher Herrschaft und Horte weiblicher Weisheit. Bis weit ins 12. Jahrhundert hinein konnten Äbtissinnen eine Machtfülle erntfalten, die später ausschließlich Äbten und Bischöfen vorbehalten war. Nur im Kloster hatten Adelstöchter die Möglichkeit, Latein zu lernen – die Schriftsprache jener Zeit. Nur dort war es ihnen erlaubt, Texte aus der Antike und dem Frühchristentum zu studieren. Und nur dort wagten sie es sogar, selber zu schreiben.
Auch die kleine Hildegard eignet sich unter Anleitung ihrer Lehrmeisterin Jutta eine umfassende Bildung an. Zwar wird sich die erwachsene Hildegard später immer wieder als "indocta" (Ungelehrte), "ignota" (Unwissende) und "simplex homo" (schlichter Mensch) bezeichnen, doch ist das wohl eher eine Demutsgeste, mit der die klerikalen Herren beschwichtigt und getäuscht werden sollen – eben diejenigen, "die um der Sünde Evas willen dich als Frau für verächtlich halten", wie Hildegard klagt.
Wegen der misogynen Schmähschriften bedeutender Kirchenlehrer wie Augustinus und Thomas von Aquin galten "Weiber" auch im Mittelalter als wertlos und minderbemittelt: Männer waren Geist und Frauen ausschließlich Körper. Wagte es eine zu denken und die Gedanken auch noch aufzuschreiben, hatte sie sich dafür zu entschuldigen.
Doch schreiben und gelesen werden will Hildegard unbedingt! Gerade von Männern! Vor allem von den mächtigsten, die in Staat und Kirche das Sagen haben und vor lauter weltlichem Tand Gott aus dem Blickfeld verloren haben. Der Nonne aus der Pfalz gelingt es in der Tat, schwärmt die amerikanische Historikerin Gerda Lerner, "das größte Hindernis zu überwinden, mit dem sich alle denkenden Frauen konfrontiert sahen und sehen: die kaum zu bewältigende Aufgabe, beweisen zu müssen, daß sie berechtigt und fähig sind, überhaupt zu denken".
Wie schaffte Hildegard es, eine eigene Stimme zu haben? Und sogar eine, die wir bis heute hören? Wie überzeugte sie auch ihre männlichen Zeitgenossen davon, "einzigartig und begnadet" (Lerner) zu sein? Und wieso gelang ihr das schon mit ihrer ersten Schrift? Die Antwort lautet: mittels eines göttlichen Tricks. Hildegard von Bingen hatte einen direkten Draht nach ganz oben und empfing ihre "Erleuchtungen" – als "Visionen" vom Schöpfer persönlich.
Terz – 1141
"Im Jahre 1141 der Menschwerdung des Sohnes Gottes, Jesu Christi, als ich zweiundvierzig Jahre und sieben Monate alt war, kam ein feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom offenen Himmel hernieder", schreibt Hildegard in ihrem Werk 'Wisse die Wege' ('Scivias'). Sie hat die Hälfte ihres Lebens hinter sich, als sie zum ersten Mal den Griffel in die Hand nimmt. "Gottes kleine Posaune" gehorcht dem Befehl vom obersten Oberkommando: "Schreibe, was du siehst und hörst!"
Inzwischen ist Hildegard Chefin der kleinen Benediktinerinnen- Gemeinschaft auf dem Disibodenberg, und sie hat ihren eigenen Sekretär: Pater Volmar aus der benachbarten Benediktinerabtei. Den bittet die Äbtissin zwar nicht zum Diktat, aber er überträgt die Rohfassungen ihrer Texte, die sie in eine Wachstafel ritzt, mit Tinte und Schreibfeder auf Pergament. So entsteht auch 'Scivias', das erste ihrer drei theologischen Hauptwerke, an dem sie zehn Jahre lang arbeitet. Es ist der grundlegende Baustein für ihre "kosmische Theologie"' wie die französische Historikerin Régine Pernoud Hildegards Gedankengebäude nennt.
'Scivias' ist für heutige LeserInnen eine nur schwer verständliche Schrift, in der Hildegard – so bringt es ihre moderne Nachfahrin Schwester Philippa Rath auf den Punkt – "den großen heilsgeschichtlichen Bogen von der Schöpfung der Welt und des Menschen über das Werden und Sein der Kirche bis zu Erlösung und Vollendung am Ende der Zeiten schlägt". Aufgebaut ist 'Scivias' wie alle späteren Schriften auch: Erst schildert Hildegard die geschaute Vision, dann erklärt sie das Bild, und zuletzt stellt sie es in einen theologischen Gesamtzusammenhang.
Im Gegensatz zu den Mystikerinnen, die nach ihr kommen, besteht Hildegard "mit großer Überzeugungskraft auf ihrer Interpretation dieser Visionen" (Lerner). Die Denkerin vom Disibodenberg wird oft als "Mystikerin" bezeichnet, aber das ist sie nicht. Ekstatische "Gotteserfahrungen" hat sie nach eigenem Bekunden nie gemacht. Sie fühlt sich nicht berauscht, wenn sie erleuchtet wird. Im Gegenteil: Sie ist glasklar und selbstbewußt. Die Bingen-Biographin Kerner nennt Hildegard deshalb "die große Rationale": "Sie spürt die 'brennende Vernunft'' die nach außen drängt."
Hildegard will die Kirche reformieren und nicht mystifizieren oder revolutionieren. Das begreift Papst Eugen III. sofort. Auf der Synode von Trier 1147 bestätigt er deshalb "die Wahrheit" von Hildegards Schrift 'Wisse die Wege' ('Scivias') und erhebt sie zur "Privatoffenbarung". Jetzt ist die Denkerin vom Disibodenberg "im ganzen Abendland" bekannt, das Volk verehrt sie als "heilige Jungfrau", einflußreiche Vertreter von Kirche und Staat korrespondieren mit ihr. In den zahlreichen Briefen, die die pfälzische Nonne an Bischöfe, Äbte, Fürsten, Könige, Kaiser und Päpste schreibt, führt ihr Gott persönlich die Feder. Nicht Hildegard ist es, die ihre mächtigen Zeitgenossen tadelt und mahnt. Es ist "die Weisheit, die tönt". Es ist der "Wasserquell' der euch, seinen Nachahmern, zuruft". Es ist "Der da IST".
Nach ihrem Erfolg auf der Synode von Trier wagt es die Denkerin vom Disibodenberg, von weiblicher Unabhängigkeit zu träumen, der himmlische Vater träumt mit. 1148 befiehlt er seiner irdischen Tochter via Vision, aus der kleinen Frauenklause aus- und in ein großes Frauenkloster einzuziehen. Das soll Hildegard auf den Rupertsberg bei Bingen bauen, ordnet der liebe Gott an. Aber der Benediktiner-Abt Kuno, dessen Befehlsgewalt die Benedikti- nerinnen in der Klause unterstellt sind, widersetzt sich dem obersten Oberkommando und will Hildegard nicht gehen lassen.
Da legt sich die "ohnmächtige Frau"' die so viel von Macht versteht, aufs Krankenlager. Unter Anteilnahme der "ganzen Christenheit" siecht sie dahin. Bis sie ihren Willen bekommt. Dann springt sie auf' reitet los und eröffnet ihr eigenes Frauenkloster.

Sext – 1150

Hildegard ist 52 als sie 1150 mit 18 Ordensschwestern vom Disibodenberg auf den Rupertsberg bei Bingen zieht und das enge Nahetal gegen die Weite des Rheingaus eintauscht. Jetzt lebt die hartnäckige Nonne im Zentrum der Welt denn der Rhein ist die bedeutendste Wasserstraße des Mittelalters.
Dennoch sind die ersten Jahre auf dem Rupertsberg von Armut und Entbehrungen geprägt weil Abt Kuno sich weigert die abtrünnigen Ordensfrauen auszuzahlen, obwohl sie ihre eigenen u. a. durch Brautgaben finanzierten Besitzungen am Disibodenberg haben. Prompt liegt Hildegard wieder im Bett: "steif und schwer wie ein Felsblock". Als das diesmal nichts nützt, läßt die Äbtissin sich im Jahre 1152 auf ein Pferd heben und reitet zum Disibodenberg.
"Ihr seid die schlimmsten Räuber!" schmettert sie den Mönchen entgegen: "Wollt ihr in eurem Widerstand verharren und gegen uns mit den Zähnen knirschen wird Gottes Strafgericht euch vernichten!" Auch von dieser apokalyptischen Drohung läßt sich der Abt nicht schrecken – und Gott bestraft ihn mit einem plötzlichen Tod.
Vielleicht zeigt sich Kunos Nachfolger Hildegard deshalb kompromißbereit. Nach dreijährigen Verhandlungen jedenfalls kommt es zur Unterzeichnung eines Vertrages: Hildegards Kloster bei Bingen ist nun wirtschaftlich unabhängig und die Äbtissin mit aller Machtfülle ausgestattet – der Abt vom Disibodenberg darf nur noch einen Mönch als Sekretär zum Rupertsberg schicken. "Diese Tat"' schreibt Biographin Kerner über Hildegards Klostergründung' "ist ohne Parallele."
Die Kämpferin vom Rupertsberg legt sich nicht nur mit Männern an, sie streitet sich auch mit Frauen. So mit der Äbtissin von Andernach, die sich erdreistet, ihre berühmte Kollegin zu kritisieren und an Hildegard schreibt: "Von einem sonst nicht üblichen Brauch bei Euch drang etwas an unser Ohr: Daß nämlich Eure Nonnen an Festtagen beim Psalmengesang mit herabwallendem Haar im Chor stehen. Auf dem Haupt haben sie goldgewirkte Kränze. Auch sollen die Finger der Schwestern mit goldenen Ringen geschmückt sein. Dies alles, obgleich der erste Hirte der Kirche solches verbietet, da er mahnt und sagt: Die Frauen sollen sich sittsam halten." Hildegards Antwort fällt kurz und bündig aus: "Für die Jungfrau (Nonne) besteht nicht die Vorschrift, die Schönheit ihres Haares zu bedecken."
Ein nicht unaktueller Kommentar zum Schleier. Von verschleierten Frauen hält die bedeutendste Nonne des Mittelalters nicht viel. Genauso wenig wie von der strengen Benediktus-Regel. Hildegards Abtei auf dem Rupertsberg ist keine Stätte demutsvoller Askese und Selbstkasteiung, sondern ein sinnenfroher und selbstbewußter Ort. So versammeln sich die Benediktinerinnen beim Stundengebet mitten im Hauptschiff der Klosterkirche – vor den Augen der Welt. Dort singen die Nonnen die Lieder, die ihre Äbtissin komponiert hat, und dort führen sie auch Hildegards Singspiel 'ordo virtutum' (Tugend-Ordnung) auf: das erste aus der Feder einer Frau.
Hildegard ist nicht nur eine bedeutende Denkerin und Komponistin, sie ist auch eine große Künstlerin. Ihre "göttlichen Visionen" pflegt sie den Nonnen, die in der Schreibstube des Klosters für die Illustrationen zuständig sind, in allen Farben zu schildern – die sind dann, wie ihr Sekretär bei der Niederschrift, für die Ausführung der Bilder zuständig. Viele der Originale ruhen noch heute in den kirchlichen Archiven. Doch schon die Nachdrucke in diversen Schriften von und über Hildegard dokumentieren das auch nach 900 Jahren nicht nur zeitlos, sondern hochmodern wirkende künstlerische Genie von Hildegard.
Die berühmte Kloster-Chefin hat selbstverständlich auch eine persönliche Referentin bzw. Assistentin: die adelige Nonne Richardis von Stade, deren "Schönheit und Klugheit" Hildegard beeindruckt. Mehr noch: Sie ist der jüngeren Richardis "in voller Liebe zugetan". Und als die den Ruperstberg verlassen will' um selbst Karriere als Äbtissin in Bassum bei Bremen zu machen, setzt die Chefin alles daran, das zu verhindern – gemeinsam mit dem Lieben Gott.
Hildegard läßt als "durchsichtiger Quell, der nicht trügerisch ist, sondern gerecht spricht"' und im Namen Gottes den Erzbischof Heinrich von Mainz wissen: "Die Gründe, die für die Erhebung jener Nonne zur Äbtissin vorgebracht werden, haben bei Gott kein Gewicht. Denn Ich, der Hohe und Tiefe und Umkreisende habe sie nicht gesetzt." Richardis' Mutter, die Markgräfin von Stade, droht Hildegard mit "bitteren Seufzern und Tränen", für den Fall, daß diese weiter "die Äbtissinnenwürde" für ihre Tochter "begehrt". Und der Erzbischof Hartwig von Bremen wird von der Entschlossenen belehrt, "daß der gläubige Mensch nicht umherschweifen und nach einem Vorsteheramt trachten soll." Doch obwohl die starke Frau im Nonnenhabit wieder alle Register zieht, unterliegt sie diesmal: Die aufmüpfige Richardis wird trotzdem Äbtissin – und stirbt kurz darauf einen plötzlichen Tod.
Non – 1165
Hildegard ist 67, als sie in dem leerstehenden Augustinerkloster in Eibingen bei Rüdesheim ein zweites Benediktinnen-Kloster eröffnet. Zweimal wöchentlich überquert sie in einem Nachen den Rhein, um drüben in ihrer Filiale nach dem Rechten zu sehen.
In den Jahren davor sollen ihre natur- und heilkundlichen Schriften 'Physica' und 'Causae et Curae' entstanden sein, die heute, kurz vor der dritten Jahrtausendwende, eine Bingen-Renaissance ausgelöst haben. Dabei ist es gar nicht sicher, ob sie wirklich von Hildegard verfaßt worden sind. Doch ihr 1163 vollendetes 'Buch der Lebensverdienste' (Liber Vitae Meritorum) stammt nachweislich von ihr. Darin streift die mittelalterliche Denkerin so ganz en passant auch das Thema 'Frau'. Frauen sind "von weicherer Kraft" als Männer und doch die eigentlichen Schöpferinnen, denn: "Gott hatte ja den Mann stark geschaffen, schwach aber das Weib, dessen Schwäche die Welt hervorbrachte."
Andere Äbtissinnen ihrer Zeit waren in der Frauenfrage radikaler. So zum Beispiel Roswitha (Hrosvit) von Gandersheim, die kurz vor der ersten Jahrtausendwende lebte und emanzipatorische Komödien schrieb. So weit wie sie lehnt sich Hildegard in der Frauenfrage nicht aus dem Fenster. Doch ihren Kopf streckt sie schon heraus, wenn sie in ihre Wachstafel ritzt: "Und so ist die Gottheit stark, das Fleisch des Gottessohnes aber schwach, durch das doch die Welt ihr früheres Leben zurückerhält." Damit sagt, verklausuliert, die bedeutendste Nonne des Mittealters: Jesus hat weibliche Züge. Auch das Gottesbild der Hildegard von Bingen wirkt gerade nicht männlich. Das als göttlich verehrte Licht hat kein Geschlecht, aber es besitzt "Weisheit". Und die Frau als irdische Schwester der Weisheits-Göttin 'Sophia' bildet "gleichsam das Haus der Weisheit", "weil in ihrem Wesen das Irdische wie das Himmlische zur Verwirklichung kommt."
Hildegard, eine frühe Feministin? Nicht ganz. Und wenn, dann eine, die aus taktischen Kalkül nicht alles ausspricht, was sie denkt. Sonst wäre sie vermutlich weniger gelesen worden, so wie Roswitha von Gandersheim. Aber so waren Hildegards Schriften "nicht nur in der Zeit ihres Wirkens von großem Einfluß", weiß die Historikerin Gerda Lerner, "sondern sie war auch im 13. Jahrhundert noch eine berühmte Frau, und ihre Manuskripte wurden in der Renaissance erneut veröffentlicht. Ihr Einfluß ist bis ins 16. und 17. Jahrhundert nachgewiesen. Sie ist die erste Denkerin und Schriftstellerin, die eine derartige Wirkung entfalten konnte."
Vesper – 1173
Hildegard ist 75, als ihr treuer Sekretär und Weggefährte Bruder Volmar stirbt und ihr "Traurigkeit Seele und Leib durchbohrt". Wieder einmal muß sie sich mit den Mönchen auf dem Disibodenberg anlegen, die ihr keinen neuen Sekretär schicken wollen. Wieder legt sie sich krank ins Bett – und siegt.
Ein Jahr später hat sie – mit Hilfe des neuen Sekretärs – ihr wichtigstes Werk 'Liber divinorum operum' (Welt und Mensch) beendet, das Schwester Philippa Rath aus der Abtei St. Hildegard "eine gewaltige Kosmosschrift" nennt: "Der Mensch erscheint als Mikrokosmos, der in all seinen körperlichen und geistigen Gegebenheiten die Gesetzmäßigkeiten des gesamten (Makro)-Kosmos widerspiegelt."
Aus der "kleinen Posaune Gottes" ist eine große Prophetin geworden. Vermutlich ist es diese Vermessenheit, die Hildegard von einigen Kirchenfürsten bis heute übel genommen wird. Dabei müßten sie froh sein über die "geistesgeschichtliche Leistung" der kirchentreuen Reformerin, die "abstrakte Lehrsätze anschaulich" machte, findet Schwester Scholastica Steinle: "Hildegard faßte Dogmen in Bilder."
Komplet und Vigilien – 1178/79

Die berühmte Äbtissin vom Rupertsberg ist eine Greisin von 80, als sie ihr letztes großes Gefecht gegen die klerikale Männerwelt führt. Sie begräbt einen wegen seiner Verbrechen exkommunizierten jungen Adeligen, der seine Sünden bereut und vom Dorfpfarrer die letzte Ölung empfangen hat, auf dem Rupersberger Klosterfriedhof. Die Mainzer Prälaten verlangen die Exhumierung der Leiche, Hildegard widersetzt sich energisch. (Sie weiß, daß das Beicht- und Sterbesakrament im Himmel Gültigkeit hat, auch wenn Gottes bürokratische Stellvertreter auf Erden anderer Meinung sind.) Das lassen sich die Mainzer
Kirchenmänner nicht bieten, sie verhängen mit sofortiger Wirkung das 'Interdikt' über Hildegards Frauenkloster. Die Äbtissin und ihre Schwestern dürfen nun nicht mehr zu Heiligen Messe gehen, auch der Empfang der Sakramente wird ihnen verwehrt.
Doch Hildegard gibt nicht nach. Sie legt sich ins bewährte Bett. Als das nichts nützt, steigt sie aufs Pferd und reitet – 80jährig – nach Mainz, wo "das Volk sie jubelnd empfängt". Das Interdikt wird aufgehoben – und wieder eingesetzt.
Erst nach einem Jahr, kurz vor Hildegards Tod, ist es endgültig vom Tisch. Der Streit mit den Mainzer Kirchenherren hat an Hildegards Kräften gezehrt. "Völlig abgemagert, so schwach, daß sie beim Aufstehen von zwei Nonnen gestützt werden mußte, seufzte sie unter der Last der ihr noch obliegenden Klosteraufsicht", schildert ihr letzter Sekretär Wibert den Zustand der Kampferprobten.
In den frühen Morgenstunden des 17. September 1179 stirbt Hildegard von Bingen. Im Augenblick ihres Todes erscheint ein "strahlendes Licht" am Himmel, berichtet die 'Vita': "Es leuchtete weithin und vertrieb die nächtliche Finsternis."
Laudes – 1998

Gleich nach dem Tod bemühte sich das Kloster Rupertsberg um Hildegards Heiligsprechung – doch die steht bis heute aus. Zwar wurde die bedeutendste Nonne des Mittelalters schon zu ihren Lebzeiten als "Volksheilige" verehrt, aber auf der offiziellen Heiligen-Liste des Vatikans ist sie nicht zu finden.
1979, in ihrem 800. Todesjahr, bat die 'Arbeitsgemeinschaft katholischer Frauenverbände' den Vatikan schriftlich, Hildegard den Titel einer 'Kirchenlehrerin' zu verleihen. Die Deutsche Bischofskonferenz schloß sich der Forderung an. Die Kirchenfürsten in Rom ließen sich acht Jahre mit einer Antwort Zeit, und sie lautete schließlich: Hildegard wird nicht zur Kirchenlehrerin erhoben, da sie ja noch nicht mal heiliggesprochen worden ist. In der Katholischen Kirche können nur "bedeutende theologische Denker" Kirchenlehrer werden: "besonders wichtige Persönlichkeiten"' die sich durch "Rechtsgläubigkeit, Heiligkeit des Lebens und hervorragende Gelehrtheit" auszeichnen.
Papst Paul VI. ernannte in den 70er Jahren erstmals zwei Frauen zu Kirchenlehrerinnen: die hinreißende Theresa von Avila aus Spanien und die durchsetzungsfähige Katharina von Siena aus Italien. Beide waren herausragende Theologinnen, die zahlreiche theoretische Schriften hinterließen.
Der derzeit amtierende Papst Johannes Paul, für den die jungfräuliche Muttergottes die Inkarnation von Weiblichkeit ist, kürte Thérese von Lisieux (1873-1897). Sie ist die dritte Kirchenlehrerin in der 2.000 Jahre alten Kirchengeschichte. 'Theresia vom Kinde Jesu' wurde 1925 heiliggesprochen, weil sie "standhaft, schweigsam und ergreifend litt". Geschrieben hat sie nur wenig, aber: "Sie mühte sich, zu allem Schweren ein frohes Ja zu sagen."
Ist das das Holz, aus dem der Vatikan kurz vor der dritten Jahrtausendwende Kirchenlehrerinnen schnitzt? "Gottes kleine Posaune" hat dann in der Tat keine Chance. Zumindest nicht bei dem Papst. Wir werden auf ihre Heiligsprechung wohl noch eine Weile warten müssen. Aber was macht's. Die Menschen verehren Hildegard von Bingen seit Jahrhunderten als Heilige. Und daß sie im Vatikan auf keiner Liste steht, ist ihnen herzlich egal.

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