Eine Frau ist weniger wert als ein Wurm!

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Der junge Mann wurde von einer Horde betrunkener Männer bewusstlos geschlagen, die junge Frau von sechs Kerlen hinten im Bus vergewaltigt. Dann stieß man ihr eine Eisenstange in den Unterleib, immer und immer wieder. Anschließend wurden die beiden bewusstlos und halbnackt in den Rinnstein geworfen, wo sie lange lagen, begafft von Neugierigen und den Insassen vorbeifahrender Autos. Die junge Frau kämpfte auf der Intensivstation eines Krankenhauses um ihr Leben und wurde nach Singapur ausgeflogen, weil dort die medizinischen Möglichkeiten besser sind. Dort erlag sie in der Nacht zum Samstag ihren schweren Verletzungen. Ihr Verlobter, der nicht so brutal verletzt worden war, hat überlebt.

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Die Geschichte von Baby Falak rührte die indische Nation durch permanente Sensationsberichterstattung der Medien zwei Monate lang, was nach dem Tod des Kindes allerdings ein abruptes Ende fand. Die Gruppenvergewaltigung der 23-Jährigen führte jetzt zum ersten Mal in ganz  Indien zu Protesten; nicht nur von Frauen, sondern besonders von jungen Menschen beiderlei Geschlechts, vor allem in Delhi. Dort legten Tausende drei Tage lang die Hauptstadt lahm, friedlich und überlegt, bis die Parteien – politisches Kapital für den kommenden Wahlkampf witternd – ihre Schlägertrupps unter die Protestierenden mischten.

Das war das Signal für die indische Polizei, auf die bekannte brutale Art zuzuschlagen, diesmal nicht nur auf die üblichen Unterprivilegierten, sondern auf die gehätschelte Mittelklasse des modernen Indien. Schließlich galt es, die Hauptstadt für den Besuch von Wladimir Putin besenrein zu machen, der dort an Heiligabend Kampfhubschrauber und Flugzeuge für mehrere Milliarden Dollar verkaufte. Indien ist derzeit nach China der zweitgrößte Waffenimporteur der Welt.

Wer in diesen Tagen indische Zeitungen aufschlägt, kann sich vor Meldungen nicht retten, die da lauten: Elfjährige von sechzehn Männern vergewaltigt, Sechzehnjährige am helllichten Tag in einer Rikscha vergewaltigt, Sechsjährige nach Vergewaltigung angezündet,  Zwanzigjährige vergewaltigt und mit Säure übergossen – das ist Alltag. Indien gilt als das für Frauen drittgefährlichste Land der Welt. Nirgendwo werden so viele Frauen zu Friedenszeiten vergewaltigt wie dort: Alle zwei Minuten, so schätzt selbst die Polizei; jede Minute eine, sind viele Frauenorganisationen überzeugt, die Vergewaltigung in der Ehe nicht mitgezählt.

Nicht einmal jede vierzigste Vergewaltigung wird angezeigt, aus Angst, aus Scham und weil die Frauen auf der Polizei nicht selten zu hören bekommen: “Na, hat es wenigstens Spaß gemacht?“ Weil Anzeigen gar nicht erst aufgenommen werden. Oder weil es immer wieder vorkommt, dass die Frauen („Es müssen ja leichte Mädchen sein“) gleich noch mal von den Polizisten vergewaltigt werden.

Delhi gilt als die Vergewaltigungskapitale der Welt. Ich war 20 Jahre als Korrespondentin dort tätig und eigentlich immer mit einem Bambusknüppel unterwegs, den ich auch einsetzen musste... Die brenzligste Situation erlebte ich am hellichten Tag im renommierten Connaught Circle mitten in der Stadt und inmitten von untätig herumstehenden Shoppern, als eine Gruppe von acht Männern versuchte, mich in eindeutiger Absicht in eine dunkle Ecke zu drängen. Ich kam nur davon, weil ich mir den Anführer griff und ihm die Nase blutig schlug. Aber welche indische Frau tut das, so, wie sie von ihren Müttern erzogen wurde?

Obwohl es überall auf der Welt mehr Frauen als Männer gibt, ist es in Indien genau umgekehrt. Auf 1000 Männer kommen 914 Frauen, in manchen Staaten, wie dem reichen Haryana, sind es nur noch 861. Denn Mädchen werden bereits vor der Geburt abgetrieben, oder Mann und Schwiegermutter zwingen die Mütter, sie nach der Geburt sofort zu ersticken, zu erwürgen oder zu vergiften. Von den Mädchen, die überleben, erlebt jede Vierte nicht ihren 15. Geburtstag. Über die Hälfte aller Mädchen und Frauen ist anämisch bzw. unterernährt, denn in den meisten indischen Familien isst zuerst der Mann, dann die Söhne. Falls noch etwas übrig ist, kommen als letzte die weiblichen Mitglieder der Familie dran.

Frauen gelten als Besitz der Männer, als Sache, die den Männern in jeder gewünschten Weise zur Verfügung zu stehen hat. Denn, so der von Männern gestaltete Hinduismus, es zählen nur Männer etwas in der Welt. Schließlich kann ein Mann nie so tief fallen, dass er bei seiner Wiedergeburt als Frau geboren wird, eher wird er ein Wurm.

Mädchen und Frauen sind also eine Art Freiwild. Man verkauft sie, schickt sie in die Prostitution (von den drei Millionen Prostituierten sind 40 Prozent Kinder),  missbraucht sie, die Ehefrau, die Schwestern, die eigenen Töchter, die Nichten. Mindestens jeder vierte indische Mann hat es getan, weil er glaubt, als Mann das Recht dazu zu haben: Ehemänner, Brüder, Onkel, Väter, Vorgesetzte, Kollegen; auch die Soldaten, die Krieg führen gegen ihre eigenen Landsleute in Kaschmir und Manipur oder gegen die Maoisten, und die nie zur Verantwortung  gezogen werden.

In den Weihnachtsbriefen eines kleinen Projekts für indische Mädchen, das wir aufgezogen haben, taucht bei den Zehn- bis Fünfzehnjährigen immer wieder der Satz auf: „Es ist so gut hier im Internat zu sein, denn hier sind wir sicher.“ Es ist erschütternd, das lesen zu müssen.

Was für eine Gesellschaft ist das, die es normal findet, wenn ein Bruder seiner Schwester den Kopf abschlägt, weil er ihre Liebschaft nicht billigt? Mit dem Kopf und dem blutigen Schwert in der Hand marschierte dieser Mann zur Polizei, um zu vermelden, dass seine, nicht etwa ihre, Ehre beschädigt worden sei. Die bekannte Schriftstellerin und Menschenrechtlerin Arundhati Roy sagt jetzt mit wenig Zuversicht in der Stimme: “Es sind wieder einmal die Frauen, die den Preis bezahlen“.

Den Preis dafür, dass Indien nicht mit seiner sich überschlagenden Entwicklung fertig wird; in der direkt neben dem 15-Millionen-Moloch Delhi Dörfer mit Traditionen wie vor tausend Jahren liegen; in denen die Frauen ihre Saris tief ins Gesicht ziehen und niemals das Haus verlassen. Die den Preis dafür zahlen, dass die indischen Filme, die von frustrierten, ungebildeten jungen Männern besucht werden, auf immer bestialischere Weise die Erniedrigung von Frauen und die Verherrlichung von Männlichkeit zeigen. Den Preis dafür, dass eine unfähige Politikerkaste nun nach neuen Gesetzen ruft, aber nicht begreift, um was es wirklich geht: um Menschlichkeit, um Gleichheit und um Freiheit für Frauen. Mit anderen Worten: um ein Umdenken in der Gesellschaft und eine Abkehr von menschenverachtenden patriarchalischen Traditionen.

Indien, das so gerne ein moderner Staat sein möchte, wird das nie schaffen, sollte dies nicht gelingen. Aber was tut der Staat? Er setzt erst einmal eine von den Kommissionen ein, die nie zu einem Ergebnis kommen. Und er entzieht dem früheren Armeechef General V. K. Singh seine Bodyguards als Strafe dafür, dass er mit anderen Berühmtheiten, wie den Schauspielern Sharukh Khan oder Amitabh Bachchan, an den Demonstrationen nach der Vergewaltigung der 23-jährigen Studentin teilgenommen hat. Dass die Proteste immer noch anhalten, ist ermutigend. Immerhin: Nicht ganz Indien besteht aus Vergewaltigern und Mördern.

Die Autorin war 20 Jahre lang Asien-Korrespondentin der Zeit. Sie hat im September 2009 "LIFT e.V - Zukunft für indische Mädchen" mitgegründet, ein Verein, der „Anugraha", ein Mädchenheim im indischen Südstaat Karnatataka unterstützt. Dort werden etwa 40 Mädchen zwischen fünf und 16 Jahren ernährt, gekleidet, unterrichtet - und beschützt. Venzky besucht das Heim regelmäßig. Spenden sind mehr als willkommen: LIFT e.V., KTO 1009 300 003, Hamburger Sparkasse, BLZ 200 505 50.

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