5. Brief aus Kanada

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Im Schlagloch-Slalom. Vorbei an riesigen SUV-Kutschen, die irgendwie viel zu breit sind für die eher schmalen Straßen in der kanadischen Metropole. Toronto hat wirklich sehr viele sehr hübsche Seiten, über die die "Torontonians" sich freuen. Die Nebenstraßen mit den schönen  viktorianischen Häusern zum Beispiel. Aber diese zerklüfteten Straßen, die zählen mit Sicherheit nicht dazu.

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Die Erlösung kommt immer dann, wenn ich in der 351 King Street East ankomme, dem Redaktionsgebäude von The Globe and Mail, meiner Gastredaktion. Ein beeindruckender, bei der herrschenden Sommer-Schwüle angenehm klimatisierter Glaspalast, in den die Redaktion selbst erst vor ein paar Monaten  umgezogen ist.

Gerade habe ich bei "National" angefangen

Das Team ist jung und emsig, zum Umzug ins neue Gebäude kam auch noch eine Umstrukturierung des Newsrooms hinzu. Hin zu einem flexibleren Modell aus "Gathering“, „Audience“ and „Experience“. Also die, die Inhalte ranschaffen; die, die deren Nutzung kontinuierlich analysieren und mit den Nutzern interagieren; und die, die auf Basis dieses Wissens das Programm für die verschiedenen Globe-Plattfomen - Print wie Mobile - planen.

Ich wechsele von Ressort zu Ressort. Gerade habe ich bei „National“ angefangen. Vorher war ich bei „Opinion“. Meinen ersten Kommentar habe ich über das sexistische Google-Manifest geschrieben, das ein Google-Mitarbeiter verfasst und damit weltweit für Aufregung gesorgt hat. Dafür habe ich mir auf der Globe-Webseite gleich einen kleinen Shitstorm eingefangen: Ich solle doch bitte endlich verstehen, "dass Sarkasmus keine gute Grundlage für eine Diskussion ist", schreibt einer. "Die ist doch keine Journalistin!" schimpft ein anderer. Von "reflexartigem Feminismus" ist die Rede. Und ein weiterer rät mir, meinen "Wertekosmos" zu überdenken. Schließlich wolle "niemand zukünftig unter meiner Ideologie leben".

Jede 5. Anzeige bei sexueller Gewalt wird fallengelassen

Aber Shitstorms sind mir als EMMA-Redakteurin ja vertraut. Wir fassen die in der Regel als Kompliment auf. Wenigstens regen die Menschen sich auf. Und auch Internet-Trolle gibt es im sonst eher freundlich gestimmten Kanada offenbar ganz wie zu Hause!

Eines der größten journalistischen Projekte, die der Globe in diesem Jahr umgesetzt hast, ist eine 20-monatige Langzeitrecherche, von der Frauen in Deutschland bisher nur träumen können. "Unfounded" lautet der Titel des Projekts, was so viel bedeutet wie: haltlos oder unbegründet. Ein Team aus ReporterInnen und DatenjournalistInnen hat anhand der Datensätzen von insgesamt 870 Polizeiwachen im ganzen Land den Umgang der kanadischen Polizei mit sexualisierter Gewalt analysiert. Ergebnis: Jede fünfte Anzeige wird fallen gelassen (gilt also als "unfounded"), weil der Polizist dem mutmaßlichen Opfer nicht glaubt.

Das heißt auch: Diese Anzeige taucht in keiner Statistik mehr auf. Die Tatsache, dass die Zahlen je nach Region stark schwanken, sei ein weiterer Beweis für ein "kaputtes System", schreiben die Globe-JournalistInnen.

Ich recherchiere gerade zu den über Tausend verschwundenen und ermordeten indigenen Frauen und Mädchen in Kanada. Ein düsteres Kapitel, das das angeblich so glückliche Kanada nochmal in ein zwielichtiges Licht rückt. Mal sehen, wo mich meine Recherche hinführt.

Alexandra Eul berichtet im Rahmen des Arthur F. Burns Fellowship aus Kanada.

 

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Im Exil vor den Islamisten

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Diese Woche habe ich in einer Wohngemeinschaft im französischsprachigen Montreal, mitten in dem alternativen Künstlerviertel Mile End verbracht. Zusammen mit einem Künstler aus Israel und einem Musiker aus Syrien. Der eine aus Haifa, der andere aus Damaskus. Zwei Städte, die eigentlich nur 270 Kilometer voneinander entfernt sind. Wären die beiden nicht nach Kanada ausgewandert, hätten sie sich vermutlich nie kennen- und vielleicht sogar hassen gelernt. Heute sind sie Freunde und leben gemeinsam in einer hellen Wohnung in einer wildblumengesäumten Nebenstraße. Die Haustür steht den ganzen Tag offen, so wie man sich das in Kanada immer vorgestellt hat. "Wir sind der lebende Beweis, dass es funktioniert", sagt der Israeli.

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In Montreal ist gerade CSD-Saison und die Stadt ist voll mit Menschen in bunten Outfits und mit bunten Ideen. Hier wird eine Regebogenfamilie geplant (zwei lesbische Frauen, ein schwuler Mann), dort über gender-neutrale Mode und fluide Geschlechterrollen diskutiert (von einem queeren Mann im schicken Blümchenkleid). Wer wie ich das frankophone Québec erreicht, der merkt aber auch, dass die weltoffene Idylle und das perfekte Image, das Kanada nach außen präsentiert, Risse hat. Manche der Jüngeren wünschen sich eine größere Souveränität des frankophonen Teils gegenüber dem anglophonen Kanada - bis hin zur Unabhängigkeit.

Niemand weiß das so gut, wie Djemila Benhabib, die ich vor drei Tagen besucht habe. Die in Algerien aufgewachsene Intellektuelle ist vor 23 Jahren als scharfe Kritikerin des radikalisierten Islams ins Exil geflüchtet. Erst nach Frankreich und dann nach Kanada. Heute lebt Djemila in Trois-Rivières, einer der ältesten Industriestädte Kanadas, hält Vorträge und Seminare, schreibt und ist politisch engagiert (u.a. in der Parti Québécois, die ein unabhängiges Québec fordert).

An dem Tag, an dem wir in ihrem Garten ein köstliches Mittagessen zu uns nehmen, ist Djemila bester Laune. Sie hat gerade einen Rechtsstreit gegen eine Koranschule gewonnen, die sie wegen angeblicher Beleidigung verklagt hatte. Die Feministin hatte in einem Radiointerview u.a. kritisiert, dass die Koranschule minderjährigen Mädchen vorschreibt, den Hidjab zu tragen - und "rein" zu bleiben. "Als ich nach Kanada gezogen bin, hätte ich niemals gedacht, dass ich mich auch hier mit solchen Themen rumschlagen muss - aber jetzt agitieren die Islamisten auch hier“, sagt sie fast resigniert.

Aber Djemila will nicht schweigen. Sie hat das ja alles schon mal erlebt, Anfang der 1990er Jahre in Algerien. "Mein Leben in Algerien war ein Traum. Ein schönes Land, eine tolle Familie, wir haben es geliebt zu essen und zu trinken“, sagt Djemila. „Und dann kamen die Islamisten - und das hat alles verändert. Ich frage mich bis heute: Wie kann es sein, dass wir diesen Tsunami, der da auf uns zugerollt kam, nicht rechtzeitig gesehen haben?“

Ensaf, Djemila und Alex.
Ensaf Haidar, Djemila Benhabib und Alex Eul.

Am nächsten Tag besuchen wir zusammen Ensaf Haidar, die Frau des seit fünf Jahren inhaftierten und gefolterten saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi. Ensaf und ihre drei Kinder haben in Sherbrook Zuflucht gefunden. Seither kämpft sie für Raifs Freilassung, Tag für Tag.

"Das Problem ist nicht nur die saudische Regierung. Sondern auch die kanadische. Theoretisch verteidigen sie Raif, aber in der Praxis tut sie zu wenig, um ihn zu befreien", klagt Ensaf. Sie und Djemila sind sich einig: Fünf Jahre reichen, es muss endlich etwas passieren.

"Raifs Zustand ist sehr kritisch", sagt seine Frau, und auch sie sieht sehr erschöpft aus. Währen des EMMA-Gesprächs (das wir demnächst veröffentlichen werden) klingelt ihr Handy, es ist Raif. Ensaf verschwindet kurz. Später wird sie auf Facebook posten: "Wenn der Mensch, den du liebst, dir sagt, dass er auf die grauenvollste Art und Weise misshandelt werden wird - was antwortest du dann?“

Alexandra Eul berichtet im Rahmen des Arthur F. Burns Fellowship aus Kanada.

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