50 Jahre Kleiner Unterschied
Hätte ich mir damals vorstellen können, 50 Jahre später über dieses Buch zu schreiben? Nein, selbstverständlich nicht. Ich war 32 Jahre alt und weit davon entfernt, an ein Morgen zu denken, die Gegenwart war viel zu aufregend. Das fällt mir übrigens bis heute schwer. Ich bin immer, wie es so nett heißt, im Hier und Jetzt.Mit einer relativen Naivität war ich dieses, mein drittes Buch angegangen. Ich habe einfach geschrieben, was ich für richtig hielt und halte. Nach der immer gleichen Methode: Neben einem Theorieteil standen im Kern des Buches die Monologe, Protokolle hieß das damals, der Frauen. Das war das Explosive, das, womit sich tausende, wenn nicht Millionen Frauen identifizierten: die bis dahin verstummten Stimmen der Frauen.
Die Sexwelle brachte den Frauen nicht mehr Freiheit, sondern mehr Selbstverleugnung
Ich hatte die Interviews so repräsentativ wie möglich ausgewählt, denn ich erhoffte mir eine maximale Identifikation meiner Leserinnen. Die 17 von mir befragten Frauen waren Hausfrauen und Studentinnen, Mütter und Nicht-Mütter, Lektorin oder Prostituierte. In meiner Einleitung schrieb ich:
„Fast immer, wenn ich in den letzten Jahren mit Frauen geredet habe, landeten die Gespräche bei der Sexualität und bei den Männern dieser Frauen. Auch und gerade Frauen, die sich in anderen Bereichen scheinbar weitgehend ‚emanzipiert‘ hatten, blieben in ihrem Privatleben ratlos und hilflos. Am schlimmsten ist es in der Sexualität: die ‚Sexwelle‘ brachte den Frauen nicht mehr Freiheit und Befriedigung, sondern mehr Selbstverleugnung und mehr Frigidität. Nachdem ich mich mit Problemen wie Abtreibung oder Berufs- und Hausarbeit beschäftigt hatte, ist mir klar geworden: Sexualität ist der Angelpunkt der Frauenfrage. Sexualität ist zugleich Spiegel und Instrument der Frauen in allen Lebensbereichen. Hier fallen die Würfel. Hier liegen Unterwerfung, Schuldbewusstsein und Männerfixierung von Frauen verankert. Hier steht das Fundament der männlichen Macht und der weiblichen Ohnmacht. Hier entzieht sich scheinbar ‚Privates‘ jeglicher gesellschaftlichen Reflexion. Hier wird die heimliche Wahrheit mit der öffentlichen Lüge zum Schweigen gebracht. Hier hindern angstvolle Abhängigkeit und schamerfüllte Isolation Frauen daran, zu entdecken, wie sehr sich die Schicksale gleichen."
Was die Frauen mit damals anvertrauten, hat mich mehr radikalisiert als alle Theorie
Das, was die Frauen mir damals anvertraut haben, hat mich mehr radikalisiert als alle Theorie. Die meisten sprachen zum ersten Mal. Ich hatte mir die Abgründe nicht so tief vorgestellt.
Diesmal also die Rolle von Sex & Liebe. Der Kern der Beziehungen zwischen Frauen & Männern. Meine beiden ersten Bücher waren Debattenbeiträge in der damals gesellschaftspolitisch wichtigen edition suhrkamp gewesen. Jetzt wollte ich mich direkt an die Frauen wenden. Ich ging zum Fischer Verlag. Meine TV-Diskussion am 6. Februar 1975 hatte dem Ende August 1975 erscheinenden Buch den Weg gebahnt. Selten hat ein Autor, eine Autorin die Chance, im richtigen historischen Moment den Nerv der Menschen zentral zu treffen. Beim „Kleinen Unterschied und seine großen Folgen“ war das der Fall. Die Wellen ebben bis heute nach.
Manches wirkt im Rückblick grotesk. Zum Beispiel, dass die entscheidende körperliche Funktion der Klitoris bei der Erzeugung von Lust schlichtweg geleugnet worden war, wenn nicht tatsächlich ignoriert (Klitoraler Orgasmus? Hahaha). Und natürlich waren wir 1975 noch weit entfernt von der rechtlichen und gesellschaftlichen Gleichberechtigung der Geschlechter. Dieses Buch hat dazu beigetragen, dass sich das gebessert hat.
Aber wo stehen wir heute, 50 Jahre später? Wir haben es mit einem Fortschritt und Rückschritt zugleich zu tun. Und ausgerechnet in dem so zentralen Bereich von Liebe & Sexualität zwischen Frauen & Männern sind wir nicht wirklich vorangekommen. Was kein Zufall ist. Dabei spielt der Rückschlag durch die umfassende Pornografisierung der Gesellschaft eine entscheidende Rolle.
Ich habe den frontalen Kampf gegen die Pornografie drei Jahre später mit EMMA begonnen: 1978 mit dem sogenannten „Stern-Prozess“ gegen die pornografisierten Titelbilder (nicht nur) des Stern, zehn Jahre später auf breiter Front mit der PorNO-Kampagne. Wenige feministische Stimmen allein konnten diesen Sturm, der mit dem Internet zum Tsunami wurde, allerdings nicht aufhalten.
Aber immerhin habe ich es mit EMMA geschafft, in Deutschland eine erhöhte Sensibilität in Sachen Pornografie bei den Menschen auszulösen. Die Frage ist: Wie wird es weitergehen?
ALICE SCHWARZER