Die erste Hose

14. Oktober 1970. Lenelotte von Bothmer, SPD-Abgeordnete, wagt das Ungeheuerliche: Sie hält in Hosen eine Rede.
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Der Zug war pünktlich. Die Dame sitzt im Intercity „Walhalla“, wie so oft in den letzten elf Jahren. Von Hannover nach Bonn, das ist ihre Strecke. Sie hat nur wenig Gepäck, ein kleiner brauner Koffer, eine schwarze Akten­tasche. Dem Schaffner zeigt sie ihren Abgeordnetenausweis. Sie ist bonnmüde, parteimüde, fraktionsmüde, sie ist Mitglied des Deutschen Bundestages und fährt ein letztes Mal auf diesem Ticket nach Bonn. Sie ist 65 Jahre alt, seit 22 Jahren Mitglied in der SPD und doch nie ganz angekommen in dieser Partei und ihren Ritualen. 

Sommer 1980. Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß werden sich in diesem Wahlkampf duellieren, beleidigen, verletzen, herabsetzen. Es wird nicht mehr ihr Wahlkampf sein, sie macht Schluss. Stattdessen wird sie ihr Büro im 16. Stock des „Langen Eugen“ ausräumen, sie wird sich von allen verabschieden, am Ende dieser Woche ihr möbliertes Appartement verlassen und ein letztes Mal die Tür hinter sich zu ziehen.

Und sie wäre wohl längst vergessen, wäre da nicht die Hose. Die Hose, genauer gesagt der Hosenanzug, ist Lenelotte von Bothmers Markenzeichen geblieben. 

In dieser letzten Woche im Sommer 1980 wird sie von einem Fernsehteam begleitet. Das passt so gar nicht zu ihr, sie ist keine laute Frau, sie drängt nicht nach vorn. Wie oft sie denn im Bundestag gesprochen habe? Sie überlegt. Drei- oder viermal in elf Jahren. Ob sie frustriert sei? Ja, das könne man wohl sagen.

Welche Rolle spielen Frauen in der Bonner ­Politik? „Frauen spielen eine Rolle, wenn sie sich eingeordnet haben, wenn sie sich eingefügt haben, wenn sie über das normal menschliche Maß an Loyalität hinaus dem Fraktionsvorstand sehr, sehr loyal sind.“ Eine laute Frau ist Lenelotte von Bothmer nie gewesen, aber eben auch keine Leisetre­terin. Sie leistete sich einen eigenen Kopf.

Lenelotte von Bothmer, Jahrgang 1915, hat sechs Kinder und erst mal wenig mit Politik am Hut. Als ihr Mann in den Fünfzigerjahren in die SPD eintritt, nimmt sie Tuchfühlung mit der ihr fremden Sphäre auf. Bei einer Veranstaltung ist sie derart berührt von älteren Arbeiterinnen, die in der historischen Frauenbewegung aktiv waren, dass sie spontan in die Partei eintritt. 

Auf ihrem Weg ins Parlament macht sie immer wieder die Erfahrung, dass Kandidatinnen von den Männern regelrecht auseinandergenommen werden. Ist sie nicht zu alt? Oder zu jung? Ist sie nicht zu hübsch? Ist sie hübsch genug? Warum ist sie nicht bei den Kindern? Ist sie klug? Ist sie vielleicht zu klug? Ist sie etwa unverheiratet? Geht sie auf Männerfang aus? Ist sie so frustriert, dass sie in die Politik gehen muss? Welche Qualifikationen bringt sie überhaupt mit? Nimmt sie nicht dem verdienten Genossen MüllerHuberSchmidt den Platz weg? 

In einer biografischen Skizze für das Buch „Frauen ins Parlament?“ schreibt sie 1976: „Und das war immer so: Bronzene und steinerne Herren auf hohen Denkmalsockeln in jeder Stadt machen das schon den Kindern deutlich. Und Lesebuch­geschichten haben uns schon früh darüber aufgeklärt, was männlicher Mut, männliche Kühnheit und Entschlossenheit für uns, für unser Leben getan haben.“

Als Lenelotte von Bothmer 1969 in den Bundestag gewählt wird, beträgt der Frauenanteil im Parlament 6,6 Prozent, das sind 34 von 518 Abgeord­neten; bei der Bundestagswahl 1972 wird dieses beschämende Ergebnis sogar noch einmal unterboten, denn mit 5,8 Prozent Frauenanteil ist das der niedrigste Anteil in einem deutschen Parlament seit der Einführung des Frauenwahlrechts 1919. 

Der CSU-Abgeordnete Dr. Richard Jaeger, Vizepräsident des Bundestages, hatte mehrfach verlauten lassen, er werde keine Frau mit Hose im Bundestag dulden, erst recht keine Frau in Hose am Rednerpult. So eine Aufrührerin würde sofort des Saales verwiesen. Jaeger, der als „CSU-Ultra“ und „Scharfmacher“ galt, hatte als Befürworter der Todesstrafe von Herbert Wehner den Spitznamen „Kopf-ab-Jaeger“ verpasst bekommen. Die Hose, argumentierte er, beschädige die Würde des Hohen Hauses und verletze den gebotenen Anstand. Liselotte Funcke (FDP) fand Jaegers Standpunkt empörend und bat Lenelotte von Bothmer, stellvertretend für alle Frauen, um einen Rebellendienst: Sie solle die erste Hosenträgerin im Parlament sein.

Lenelotte von Bothmer, die nie Hosen trug und auch gar keine besaß, akzeptierte den Auftrag. Sie kaufte sich einen eleganten hellen Hosenanzug, ein „ausgesprochen züchtiges Kleidungsstück“, so von Bothmer, und erschien damit am 15. April 1970 im Plenum. Da sie an diesem Tag aber keine Rede hielt, musste sich Jaeger damit begnügen, ein grimmiges Gesicht aufzusetzen.

Am 14. Oktober 1970 folgte dann der zweite Akt: Die Hosenträgerin von Bothmer trat ans Pult und hielt eine Rede zur Bildungspolitik, zugleich ihre erste Rede im Parlament. „Der ganze Saal geriet in Bewegung, fröhliche Zurufe und Lachen in allen Reihen. Vom Balkon herunter richteten sich die Kameras der Presse auf mich.“ Der CDU-Abgeordnete Berthold Martin ruft belustigt: „Die erste Hose am Pult!“ und versucht, die Rednerin durch zahlreiche Zwischenrufe aus dem Konzept zu bringen. Man möge doch, krakeelt er dazwischen, das Licht ausmachen! Vizepräsident Jaeger kapituliert. Allerdings verzichtet er darauf – wie sonst guter parlamentarischer Brauch –, der Rednerin zu ihrer ersten Rede im Plenum zu ­gratulieren. Abends wird der Hosenanzug in den Nachrichten mit einem Schmunzeln erwähnt. 

Lenelotte von Bothmer, die Abgeordnete mit der Hose, erhält eine Flut von Briefen, es gibt durchaus anerkennende Stimmen, Gratulationen, aber vor allem jede Menge Beschimpfungen und Drohungen. „Sie sind ein unanständiges, würdeloses Weib!“ – „Hoffentlich werden wir Sie im nächsten Bundestag nicht mehr sehen.“ – „Armes Deutschland! So tief bist du gesunken mit den roten Parteiweibern.“ Einer knallt nur drei Worte auf die Postkarte: „Sie Schwein Sie!“ Und ein ­Sittenwächter fürchtet: „Nächstens kommen Sie wohl oben ohne!“ Lenelotte von Bothmer kehrte zu ihren gewohnten Kleidern und Kostümen zurück. Aber der Hosenbann war gebrochen.

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