Wir müssen leider drinnen bleiben...

Jede Frau kennt das ungute Gefühl, nachts an einsamen Haltestellen auf die Bahn zu warten. - Foto: Aleksandr Popov/Unsplash
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Jede Frau kennt das. Das ungute Gefühl, nach dem Kinoabend nach elf Uhr auf die U-Bahn zu warten. Niemand auf dem Bahnsteig, und wenn dann doch ein Typ die Rolltreppe runtergefahren kommt, macht das die Sache nicht besser. In der Bahn: die Mitfahrer checken. Wer guckt komisch, wer sieht bedrohlich aus, wer würde vielleicht helfen, wenn was passiert? Ankunft der Bahn an der Endhaltestelle. Der Parkplatz umstellt von Büschen. Alles dunkel. Den Autoschlüssel hatte man sowieso schon in der Bahn rausgeholt. Schnell zum Auto, Schulterblick, kommt da einer? Rein, starten, losfahren. Zum Glück nix passiert, alles gutgegangen. Bis zum nächsten Mal.

Das alles ist weibliches Kollektivwissen. Aber jetzt gibt es endlich auch Zahlen zum Ausmaß des Problems. Und die sind bedrückend. Zwei von drei Frauen (67 %) fühlen sich nachts in öffentlichen Verkehrsmitteln „nicht sicher“ (Männer: 40 %). Jede zweite Frau (52 %) meidet deshalb nachts den Öffentlichen Personennahverkehr (Männer: 27 %). Fast jede zweite Frau (41 %) verlässt nachts gar nicht erst das Haus!

Dass wir nun beziffern können, wie enorm groß das – begründete – (Un)Sicherheitsgefühl von Frauen in öffentlichen Raum ist – und wie stark sie sich aus Angst vor Übergriffen aus demselben zurückziehen, ist einer Studie zu verdanken, die das Bundeskriminalamt im Auftrag des Bundesinnenministeriums durchgeführt hat: „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“, kurz: SiKD. Das Besondere an der Untersuchung: Sie bildet das sogenannte „Dunkelfeld“ ab.

Anders als die alljährlich veröffentlichte „Polizeiliche Kriminalstatistik“ (PKS), die ja nur die Zahl der angezeigten Straftaten abbildet – und damit nur einen Bruchteil der begangenen Taten – zeigt die SiKD-Studie, wie viele Menschen im Jahr 2020 tatsächlich Opfer einer Straftat geworden sind.

Für die Studie wurden rund 45.000 Menschen die Fragen gestellt: Sind sie Opfer einer oder mehrerer Straftaten geworden und wenn ja, welcher? Kannten sie den Täter? Haben sie die Tat angezeigt? Und eben: Wie sicher fühlen sie sich in der Öffentlichkeit?

„Wir bringen Licht ins Dunkelfeld“, erklärte der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, als er die Ergebnisse gemeinsam mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vorstellte. Die für Sicherheit zuständige Ministerin sagte mit Blick auf die enorme Zahl der Frauen, die aus Furcht nachts keine Busse und Bahnen benutzen oder gleich ganz zu Hause bleiben: „Dass sich viele Frauen nachts nicht frei bewegen, weil sie sich bedroht fühlen, können wir nicht hinnehmen.“ Die Innenministerin fordert: „Mehr Präsenz von Sicherheitsdiensten, etwa bei der Bahn, höhere Polizeipräsenz an belasteten Orten und mehr Videoüberwachung.“ Es liegt auch an ihr, ob das geschehen wird.

EMMA fragte nach. „Der Bund und die Deutsche Bahn setzen auf den Ausbau der Videotechnik und investieren dafür bis 2024 rund 280 Millionen Euro“, antwortete das Innenministerium. Aktuell seien an 800 Bahnhöfen bereits rund 9.000 Kameras im Einsatz, bis 2024 sollten weitere 2.000 dazukommen. Für die Sicherheit der Bahnhöfe zuständig sind Deutsche Bahn sowie die Bundespolizei, die dem Bundesinnenministerium unterstehen.

Schwieriger wird es in den Zügen selbst, denn für die sei „das jeweilige Verkehrsunternehmen zuständig“, ebenso für Busse und Bahnen. Hier bleibt also nur zu hoffen, dass die alarmierenden Ergebnisse der Studie das eine oder andere Verkehrsunternehmen dazu veranlassen, tätig zu werden. Interessant ist ein Blick ins Ausland. In englischen Zügen zum Beispiel hängt in jedem Abteil die Aufforderung, jedes Problem an eine speziell dafür eingerichtete Nummer der Bahnpolizei zu melden, per Anruf oder SMS.

Die BKA-Befragung hat aber noch eine weitere erschütternde Zahl ermittelt. Nur jede zehnte Frau zeigt eine „schwere Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ an. Sexuelle Belästigung zeigte sogar nur jedes 50. Opfer an.

Wir müssen also die Zahl der fast 10.000 jährlich angezeigten Vergewaltigungen und schweren sexuellen Nötigungen mit zehn multiplizieren. Das macht 100.000, in Worten: Hunderttausend Opfer eines schweren sexuellen Übergriffs. Diese Zahl ist im Prinzip seit langem bekannt. Unter anderem hatten die Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ des Bundesfrauenministeriums sowie das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) eine ganz ähnliche Dunkelziffer ermittelt. Dass jetzt auch das BKA zum selben alarmierenden Ergebnis kommt, ist hilfreich.

Dreimal dürfen wir raten, welche Gründe die Opfer haben, eine so schwere Straftat nicht anzuzeigen: Autodiebstähle und Wohnungseinbrüchem werden schließlich zu fast 100 Prozent angezeigt)? Jedes zweite Opfer eines Sexualverbrechens gab an, davon auszugehen, dass die „Polizei den Fall nicht hätte aufklären können“. Ebenfalls jede zweite „wollte die Tat vergessen“. Jede Dritte zeigte aus „Angst vor dem Täter“ nicht an, ebenfalls jede Dritte „hatte Angst vor dem Gerichtsverfahren“.

Innenministerin Faeser appelliert nun „an jede und jeden Betroffenen, die Opfer einer Straftat geworden sind, die Tat zur Anzeige zu bringen. Denn die niedrige Anzeigebereitschaft hat zur Folge, dass Täterinnen und Täter nicht strafrechtlich verfolgt werden können.“ Das ist gut gemeint. Doch solange Vergewaltigungsopfer nicht wirksam vor den Tätern geschützt werden, die Gerichtsverhandlung eine retraumatisierende „zweite Vergewaltigung“ ist und die Medien überwiegend auf der Seite der Täter stehen, dürfte der Gratis-Appell der Ministerin ein frommer Wunsch bleiben.

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