Krieg auf dem Rialto-Markt
Eigentlich bin ich ein friedfertiger Mensch, doch ich verfolge, wie viele meinesgleichen, mit lebhaftem Interesse das Verhalten – um nicht zu sagen die Taktiken – derer, die es nicht sind. Wir mögen uns noch so sehr bemühen, Aggressionen im Zaum zu halten: Wo es um Selbstbehauptung und Machterhalt geht, brechen sie sich doch wieder Bahn, und im Nu ist es um alle hehren Vorsätze zu Rücksichtnahme und Nächstenliebe geschehen. Klar erkannt hat das schon der preußische Stratege Carl von Clausewitz in seinem Hauptwerk „Vom Kriege“.
In Venedig, davon bin ich überzeugt, steht Clausewitz bei Frauen ab einem gewissen Alter hoch im Kurs. Wenn das letzte Enkelkind geboren wurde, sie sich nicht länger die Haare färben oder denken, dass ihnen nicht mehr viel Zeit zum Leben bleibt, dann kann das Lamm zum Löwen werden, dann greifen diese Frauen auf Clausewitz zurück. Wie sonst ließen sich ihre erstaunlich raffinierten Taktiken beim Einkauf auf dem Rialto-Markt erklären?
„Der Krieg ist“, laut Clausewitz, „ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“ Und genau darum geht es auch der streitbaren alten Frau auf dem Rialto: Sie will sofort bedient werden, ganz gleich, wie viele Kunden vor ihr da waren. Die anderen in der Schlange sind ihr Gegner, doch Gewalt angetan wird weniger ihnen als dem Gebot, sich hinten anzustellen und zu warten, bis man an der Reihe ist.
Wobei der Sieg entscheidend von der Truppenstärke abhängt, die groß genug sein muss, „um den übrigen mitwirkenden Umständen das Gleichgewicht zu halten“.
Nun hat eine zierliche Frau, die zwischen 40 und 45 Kilo wiegt und womöglich nicht größer ist als einen Meter vierzig, kaum die Chance, eine Truppenmasse vor dem Pecorino aufzufahren, weshalb sie auf die mitwirkenden Umstände angewiesen ist: den in der italienischen Gesellschaft tief verwurzelten Respekt vor alten Menschen, zumal Frauen. Sobald sie sich darauf beruft, ist ihr Gegner wehrlos. Das weiß sie nur zu gut und wird deshalb im entscheidenden Moment weder die Kavallerie noch die kaiserliche Garde aufbieten, sondern – viel raffinierter – den Feind mit geheucheltem Erstaunen ausmanövrieren.
Der Clou an diesem ebenso simplen wie wirkungsvollen Täuschungsmanöver ist die Unverblümtheit: Ein Unbefugter würde sich doch niemals derart unverfroren an sechs anderen Kunden vor der Käsetheke vorbeidrängeln, nicht wahr? Unauffällig, wie es sich für einen Überraschungsangriff gehört, bereitet die Signora ihre Attacke vor, damit ihr Manöver so lange wie möglich unentdeckt bleibt, vermeidet zunächst jeden direkten Feindkontakt. Was der Signora nicht schwerfällt, denn klein und zierlich wie sie ist, kann sie sich mühelos und ohne die Einkaufstaschen anderer Kunden umzustoßen, zwischen Schultern und Hüften hindurchschlängeln: Und schon steht sie als Erste vor der Theke.
Sobald sie diesen Spitzenplatz erobert hat, lässt sie, um die feindlichen Truppen zu besänftigen, einer Person den Vortritt, denn „List setzt eine versteckte Absicht voraus“. Wenn dann der Käsehändler fragt: „Chi tocca?“, reckt sie blitzartig die Hand und nennt ihm den ersten Artikel auf ihrer Einkaufsliste. Aus Respekt vor einer Frau, die ihre Großmutter sein könnte, werden die Wartenden das in der Regel stillschweigend hinnehmen. Falls doch jemand moniert, die Signora habe sich vorgedrängelt, wird sie sich auf ihre bewährte Taktik besinnen und, Erstaunen heuchelnd, fragen: „Ach, waren Sie etwa vor mir dran?“
Sollte der andere sich zu einer schroffen oder sogar sarkastischen Entgegnung hinreißen lassen, setzt sie in Windeseile zum Gegenangriff an: „Ich habe Sie nicht gesehen; ich war zuerst hier; als ich mich angestellt habe, war außer mir nur dieser Mann im grünen Hemd da; ich brauche ja nur eine Kleinigkeit.“
Ihr Kontrahent ist gut beraten, nun keinen Streit vom Zaun zu brechen, bei dem er in Gegenwart italienischer Zeugen den Kürzeren ziehen würde, weil es „selbst dann, wenn man entschieden überlegen ist und dem Feinde seinen Sieg durch einen größeren vergelten könnte, immer noch besser ist, dem Schluss eines nachteiligen Gefechts zuvorzukommen“. Die Signora wird sich nicht zurückziehen und auch nicht aufgeben: Sie war zuerst da, und damit basta. Dass „im Kriege nichts über den Gehorsam geht“, wissen diese alten Damen nur zu genau, und in Italien können sie noch darauf zählen, dass man ihnen ehrerbietig entgegenkommt. Zumal das Einkaufen hier immer noch eher Frauensache ist und diese noch stärker auf Konventionen achten als Männer.
Wenn es der Signora wider Erwarten doch einmal nicht gelingt, die Spitze zu stürmen, und sie von der Flanke her angreifen muss, so bedient sie sich der „außerordentlichen Geisteskräfte“, die Clausewitz von einem Feldherrn fordert, und verschanzt sich hinter dreistem Leugnen: Schlange – was denn für eine Schlange? Sie war als Erste da und findet es empörend, dass man sie so lange warten lässt.
In den vier Jahrzehnten, die ich mich nun schon auf dem Rialto gegen sie zur Wehr gesetzt oder ihr Treiben in Begleitung von Freunden als neutraler Beobachter verfolgt habe, ist mir nicht eine begegnet, die sich hätte kleinkriegen oder bezwingen lassen. Alle Beschimpfungen, jeder noch so bissige oder abfällige Kommentar treffen auf taube Ohren. Die Signora behauptet eisern ihre Stellung und greift frontal an: Sie will genau diese Melone und nur diese Trauben da. Während es um sie herum Flüche hagelt, drückt sie an den Aprikosen herum, ob sie fest sind, und reißt ein Basilikumblatt ab, wie um sich zu vergewissern, dass es nicht aus Plastik ist.
Doch wie sollen nun wir reagieren, die wir geduldig anstehen, während sie sich trickreich vordrängelt? „In so gefährlichen Dingen, wie der Krieg eins ist, sind jene Irrtümer, welche aus Gutmütigkeit entstehen, gerade die schlimmsten“, weiß Clausewitz. Zuvorkommend und nachsichtig, wie wir sind, geben wir ein ums andere Mal nach und überlassen den runzligen Amazonen das Feld – zur „Erhaltung der Streitkraft“ ist eine gesicherte Verpflegung nun mal unabdingbar. Demnach bleibt der Signora auf dem Kriegspfad gar nichts anderes übrig, als alle Feinde aus dem Weg zu drängen, um den Sieg davonzutragen.
Sollten wir, die wir noch im Vollbesitz unserer Kräfte sind, nicht auch bedenken, dass „kein Gefecht ohne eine gegenseitige Einwilligung dazu entsteht“? Was wäre gewonnen, wenn wir auf unserem Recht beharren und Gegenwehr leisten? Drei Minuten? Da überlassen wir doch lieber dem Angreifer das Feld und gönnen der Signora ihren Platz an der Spitze, wo sie sich würdevoll behaupten kann. Zumindest für die kurze Zeit, die es dauert, due etti di mortadella e un pò di ricotta affumicata zu ergattern, möge sie sich mit dem Siegeslorbeer (oder dem Thymian, der Petersilie) bekränzen und anschließend ehrenvoll in ihr Zelt zurückkehren.
Gekürzter Text aus dem Jubiläumsband zu Donna Leons 80. Geburtstag: „Ein Leben in Geschichten“ (Diogenes, 22 €)