Sicherungsverwahrung:

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Hat Karlsruhe die Sicherungsverwahrung mit seinem Urteil ganz gekippt? Nein. Aber sie muss innerhalb von zwei Jahren völlig neu gestaltet werden, so dass sie sich vom normalen Strafvollzug unterscheidet sowie „therapiegerichtet“ und „freiheitsorientiert“ wird. Müssen jetzt alle Täter, die sich in Sicherungsverwahrung befinden, entlassen werden? Nein. Aber wahrscheinlich eine ganze Reihe, nämlich ein Großteil jener, die nachträglich zu Sicherungsverwahrung verurteilt wurden oder deren Sicherungsverwahrung rückwirkend verlängert wurde. Hätte das verhindert werden können? Ja. Wenn die Politik nicht jahrelang geschlafen hätte. Stattdessen hat sie, so kritisiert die Gewerkschaft der Polizei, alle Hinweise „in den Wind geschlagen“.

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In Karlsruhe geklagt hatten vier Männer. Zwei von ihnen – ein Einbrecher, der immer wieder in die Wohnungen alleinstehender Frauen einstieg und eines seiner Opfer vergewaltigte, sowie ein mehrfacher Vergewaltiger – waren nach mehrfachen Gefängnisstrafen zu Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Diese war zum Zeitpunkt ihrer Verurteilung noch auf zehn Jahre begrenzt, unabhängig davon, ob die Täter bei ihrer Entlassung noch als gefährlich galten oder nicht. Das änderte 1998 die damalige Justizministerin Brigitte Zypries (SPD), seither ist die Sicherungsverwahrung unbegrenzt. Allerdings werden die Täter alle zwei Jahre gutachterlich auf ihre Gefährlichkeit geprüft und gegebenenfalls entlassen. Die Sicherungsverwahrung der beiden Kläger war im Mai bzw. Oktober 2009 abgelaufen, wurde aber nach dem neuen Gesetz verlängert. Dagegen zogen die beiden Männer vor Gericht und schließlich nach Karlsruhe.
Gegen die anderen beiden Kläger wurde nachträglich, also am Ende ihrer Haftstrafe, Sicherungsverwahrung verhängt. Dem einen Täter, der im Alter von 19 Jahren einen Mord begangen hatte, bescheinigte ein Landgericht nach zehn Jahren Haft immer noch eine „hohe Gefährlichkeit“. Auch der zweite Kläger, verurteilt wegen zahlreicher schwerer Sexualdelikte – sexueller Missbrauch von Kindern, Vergewaltigung, sexueller Nötigung – und Mord, wurde nach seiner letzten Haftstrafe nachträglich in Sicherungsverwahrung genommen.
Die Karlsruher RichterInnen gaben nun allen vier Klägern Recht. Ihr Verbleib in der Sicherungsverwahrung verletze das „rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot“. Speziell im Falle der nachträglich verhängten Sicherungsverwahrung trete der Zweck, „die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern zu schützen, weitgehend hinter das grundrechtlich geschützte Vertrauen des betroffenen Personenkreises zurück“, so die RichterInnen.
Im Falle der Täter, deren zehnjährige Sicherungsverwahrung verlängert wurde, folgte Karlsruhe dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Der hatte im Dezember 2009 ebenfalls der Klage eines Täters stattgegeben, der nach altem Recht nur zehn Jahre hätte verwahrt werden dürfen. Straßburg und nun auch Karlsruhe verlangen, dass sich die Sicherungsverwahrung deutlich vom normalen Strafvollzug unterscheiden müsse: Da der „Betroffene im Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit“ ein „Sonderopfer“ bringe, solle die Sicherungsverwahrung „den allgemeinen Lebensverhältnissen angepasst“ und „weitere Belastungen vermieden“ werden. Außerdem muss die Sicherungsverwahrung künftig eine „klare therapeutische Ausrichtung“ haben. Ziel: „die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr zu minimieren und auf diese Weise den Freiheitsentzug auf das unbedingt erforderliche Maß zu reduzieren“. Mindestens jährlich muss die Gefährlichkeit des Täters künftig geprüft werden, der außerdem einen Rechtsanspruch auf Therapie bekommen wird.

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Zwei Jahre hat das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung Zeit gegeben, diese Vorgaben umzusetzen. Und bis dahin? In dieser Zeit müssen alle Täter, die nachträglich in Sicherungsverwahrung genommen oder nach altem Recht zu Sicherungsverwahrung verurteilt wurden, überprüft werden. In Verwahrung bleiben nur diejenigen, von denen eine „hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten“ ausgeht und die unter einer „psychischen Störung“ leiden.
„Es geht hier um einen Personenkreis von 70 bis 100 Tätern“, erklärt Bernd Carstensen, Sprecher des Bundes deutscher Kriminalbeamter. „Und die Hürden, die der Gesetzgeber für das Vorliegen einer psychischen Erkrankung aufstellt, sind sehr, sehr hoch. Wir gehen also davon aus, dass alle freigelassen werden.“
Spätestens seit 2004 hätte der Bundesregierung klar sein müssen, dass diese Gefahr droht. Schon damals hatte das Bundesverfassungsgericht das „Abstandsgebot“ zwischen Strafvollzug und Sicherungsverwahrung eingefordert. Es passierte – nichts. Jetzt ist wieder die Polizei gefragt, die die entlassenen Täter rund um die Uhr überwachen muss.
„Ich würde mir wünschen, die Diskussion ginge stärker um die sozialen, gesundheitlichen und finanziellen Folgen, die die Opfer zu tragen haben“, klagt BdK-Sprecher Carstensen. „Aber es geht hier wieder nur um die Täter.“

Weiterlesen
Kommen Sexualstraftäter nun doch nicht frei? (EMMAonline, 30.8.2010)
Streit um die Sicherungsverwahrung (EMMA Herbst 2010)

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