7 Jahre nach dem Kleinen Unterschied

Artikel teilen

Ich trage gerne Boas. Die Gelegenheiten dazu sind rar. Nicht minder gerne trage ich Kopf. Auch nicht immer passend. Verführung und Verstand, Lust und Bewusstsein - verträgt sich das? Grundsätzlich ja. Aber wahr ist, dass es sich auch behindern kann. Wahr ist aber auch, dass es sich gegenseitig steigern kann. Sexualität. Gefängnis und Freiraum zugleich. Kaum lösbar scheinende Verkettung von Demütigung und Herausforderung, Plage und Verheißung, Dressur und Unbändigkeit. Willkommenes Ventil für beide Geschlechter in einer Gesellschaft, in der das Leben immer inhaltsloser wird; verstärkter Knüppel gegen Frauen in einem Patriarchat, an dessen Grundfesten wir rütteln.

Anzeige

Sexualität also ist, gerade für uns Frauen, Fessel und Entfesselung zugleich. Können wir - und das ist jetzt die Frage - uns das eine nehmen ohne das andere länger hinzunehmen?

Es sieht so aus. Denn Frauen haben längst begonnen, zu handeln, offen zu handeln. Nach dem, hart erkämpften, Recht auf Unlust wollen wir nun auch Lust. Die Anzeichen dafür sind zahlreich. Auch dieses Heft ist ein Dokument der erotischen Offensive von Frauen. Womit wir Frauen das größte Tabu verletzen, das man uns auch in der Sexualität auferlegt hat: wir nehmen nicht mehr hin, bescheiden uns nicht länger.

Allerdings: hart neben dem Fortschritt liegt der Rückschritt. Im Juli 82 stellte zum Beispiel die Zeitschrift Brigitte in der Auswertung einer Leserinnen-Befragung zur „Liebe" (13.000 antworteten), selbst spürbar überrascht, fest: „50 Prozent aller Frauen können jemanden begehrenswert finden, ohne dass Liebe oder Verliebtheit im Spiel ist. Bei den Teenagern rutschte diese Einstellung sogar auf die 70-Prozent-Marke." Gleichzeitig aber waren 40 Prozent aller Befragten „bereit, auf seine sexuellen Wünsche einzugehen, auch wenn sie ihnen selbst nicht behagen sollten." Im Bett stellen wohl auch heute noch viele Frauen eigene Bedenken und Bedürfnisse zurück.

Übrigens: dass es sich bei der Frauenliebe á la Brigitte selbstverständlich immer um die Liebe zum Mann handelt und die zur Frau verschwiegen wird, ist schon bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Kinsley schon vor 30 Jahren schätzte, jede siebte erwachsene Frau habe ausschließliche oder sporadische sexuelle Kontakte zum eigenen Geschlecht, und der Hite-Report 1976 feststellte, dass sich jede fünfte Frau zu  homosexuellen Erfahrungen bekannt hatte (knapp die Hälfte dieser Frauen definierten sich als „homosexuell", die übrigen als „bisexuell").

Bedenkt man außerdem, dass die Frage der Ausschließlichkeit der Liebe zum Mann und die Möglichkeit einer Sexualität auch mit Frauen gerade in den letzten Jahren viele Frauen sehr bewegt hat, so grenzt die Diskretion von Brigitte schon an Manipulation. Motto: was ich totschweige, existiert nicht. Die französische Frauenzeitschrift F-Magazin hatte diese Berührungsangst nicht und fand in einer vergleichbaren Umfrage prompt heraus, dass 10 Prozent der befragten Frauen lesbisch oder bisexuell leben und „fast alle" der Befragten heterosexuellen Frauen Frauenliebe auch für sich durchaus für möglich, wenn nicht gar wünschenswert halten!

Auf nichts haben Frauen in den vergangenen  Jahren so heftig und so zustimmend reagiert - und Männer so allergisch - wie auf die kritische feministische Auseinandersetzung mit den Formen der herrschenden Sexualität und das Diktat der Zwangsheterosexualität.

Im „Kleien Unterschied" schrieb ich selbst 1975: „Sexualität ist der Angelpunkt der Frauenfrage. Sexualität ist Spiegel und Instrument der Unterdrückung von Frauen in allen Lebensbereichen. Hier fallen die Würfel. Hier liegen Unterwerfung, Schuldbewusstsein und Männerfixierung von Frauen verankert. Hier steht das Fundament männlicher Macht und weiblicher Ohnmacht. Hier entzieht sich scheinbar ‚Privates‘ jeglicher gesellschaftlicher Reflexion. Hier wird die heimliche Wahrheit mit der öffentlichen Lüge zum Schweigen gebracht."

Das sehe ich auch heute noch so. Aber neben dieser dunklen Seite der Sexualität interessiert mich zunehmend auch ihre helle. Und so geht es nicht mir allein. Für uns Frauen ist Verweigerung kein Endziel. Wir wollen uns endlich auch die Lust auf die Lust zugestehen können: auf die eigene Lust.

Die Wege von Frauen zur erotischen Lust sind unterschiedlich. Es kommt auf die Bedürfnisse und die übrigen Lebensrealitäten an. Was die eine fasziniert, berührt die andere nicht. Was der einen zur Gefahr werden kann, wird von der anderen souverän gehandhabt. Einige neue Fallen jedoch drohen beim Versuch der erotischen Selbstverwirklichung allen. Und das sind nicht unbedingt immer nur äußere Fallen, das können auch innere sein. Zwei Tendenzen tun sich da besonders hervor, und sind sich, so konträr sie zunächst wirken, im Resultat sehr ähnlich.

Die einen, das sind die neuen Libertinen. Frauen, die ganz und gar ungebrochen, als sei nie etwas geschehen, ihre sogenannten Bedürfnisse „rauslassen" und „ausleben". Dabei tun sie so, als seien eben diese „Bedürfnisse" etwas Urwüchsiges, quasi natürlich gewachsenes (und nicht kulturell gewordenes!), eine Art Trieb, gegen den frau eben nicht ankomme. Und sie unterstellen, Sexualität sei ein Freiraum, der mit gesellschaftlichen Realitäten nichts zu tun habe. Deswegen könne man dort, Emanzipation hin, Emanzipation her, tun und lassen, was man gerade wolle.

Ihre makabersten Auswüchse haben die neuen Libertinen in sich als progressiv verstehenden Kreisen, wo Frauen in linken Gazetten ganz und gar unreflektiert ihre masochistischen erotischen Phantasien ausbreiten oder stolz über ihre Nebenjobs in Peep-Shows und auf dem Strich plappern. Signale für Entsprechendes in anderen Milieus sind unter anderem das steigende Sado-Maso-Angebot in den Sexshops und die allgemeine Vernuttung der Frauenwäsche.

In nur scheinbarem Gegensatz dazu befinden sich die neuen Prüden, die (in nicht enden wollender Ausuferung der an sich begründeten Frauenforderung nach mehr Zärtlichkeit) mit der Propagierung des „Kuschel-Sex" zu einer wahren Infantilisierung weiblicher Sexualität beitragen. Für diese Frauen, nicht selten auch Feministinnen, erschöpft sich Sexualität im „Kuscheln" und „Liebhaben" - und dies nicht etwa als ein Bedürfnis von vielen möglichen in der Sexualität, sondern als umfassendes Ideal. Ein typisches Beispiel für diese Kuschel-Sex-Ideologie im Kinderton ist Anja Meulenbelts Buch „Für uns selbst", das schlicht eine Beleidigung und grobe Unterschätzung von Frauen ist.

Dass so manche Frau sich, aus begründeter Angst und Vorsicht, auf Hautkontakt und den menschliche Wärme spendenden Teil von Erotik beschränken will, ist verständlich. Nur meine ich, dass es uns dann zumindest klar sein sollte, dass dies eine Beschränkung ist: Es ist der Preis, den Frauen in einer von Frauenverachtung durchdrungenen, männerbeherrschten Sexualität zahlen. Dies kann kein Idealzustand sein, und wir sollten uns nicht hindern (lassen), praktisch und theoretisch mehr zu wollen! Denn die Leugnung von Leidenschaft und Heftigkeit beraubt uns der Grenzüberschreitung, die Sexualität sein kann.

Gleichzeitig bleibt es für mich ein uneingeschränktes Recht jeder Frau (und überhaupt jedes Menschen), sich für sich ganz persönlich kaum oder gar nicht für Sexualität zu interessieren. Sehr zu recht weist ja auch Margarete Mitscherlich-Nielsen auf die Fragwürdigkeit einer an sexuellen Frequenzen gemessenen „psychischen Gesundheit" und auf die individuell unterschiedlichen Prägungen erotischer Temperamente hin.

Aber: wenn wir Frauen uns schon praktisch und/oder theoretisch mit Sexualität beschäftigen, dann sollten wir neugierig sein und - endlich einmal! - auch maßlos. Wir sollten den Mut und die Phantasie haben, Sexualität in ihrer ganzen Dimension ausloten zu wollen.

Ich habe mich in diesen vergangenen Jahren oft gefragt, warum Frauen sich auch ohne direkten Außendruck selbst so reduzieren, in vielen Bereichen und eben auch in der Erotik. Bei den Propagandistinnen des Kuschel-Sex gibt es dafür mehrere Erklärungen. Zum einen ist es natürlich auch eine Reaktion auf das Gerammel der Männer. Aber ist es wirklich eine Alternative (oder Verweigerung)?

Frauen hatten bisher nur wenig Gelegenheit, Sexualität für sich positiv zu besetzen, im Gegenteil. Frauen sind auch, aufgrund ihrer Prägung, leichter geneigt, in eine fürsorglich-mütterliche Haltung zu verfallen: da wollen sie vielleicht sich und ihren Schwestern auch im Sex nicht mehr zumuten, als diesen Klein-Kinder-Schmus...

Vielleicht ist da aber noch ein dritter, ein wirklich brisanter Grund für dieses Verhalten. Bedenkt man, dass eine solche erotische Beschränkung ja auch Verzicht auf die größtmögliche erotische Herausforderung ist, die heute eine Frau überhaupt wagen kann, nämlich fordernd und anspruchsvoll für sich selbst zu sein!, so muss man sich die Frage stellen, ob dieser Kuschel-Sex nicht Anpassung, ja mehr noch: ob er nicht Unterwerfungssignal ist: Seht her, so harmlos sind wir Frauen. Wenn wir heterosexuell leben, wollen wir gar nicht viel von euch; wenn wir homosexuell leben, sind wir entsexualisierte Wesen und machen dir, Mann, keine Konkurrenz.

Und die Männer? Die ja auch im Bett weiterhin Realität einer überwältigenden Mehrheit von Frauen sind (88 Prozent aller befragten EMMA-Leserinnen haben sexuelle Beziehungen zu Männern!)? Sind die ganz die Alten? Oder gibt es auch bei ihnen Veränderungen? Ja. Und ob. Bewegungen fordern Gegenbewegungen heraus, Entlarvungen alter Unterdrückungsformen zwingen Unterdrücker zur Emanzipation oder - zu neuen Listen. So gibt es, wenn ich es recht überblicke, grob sortiert, erotisch gesehen unter den Männern zur Zeit vier Sorten: die alten Alten, die neuen Alten, die ehrlich Bemühten und die ganz Schlauen.

Was die Alten Alten charakterisiert, dürfte klar sein: Das sind die, die es sich, warum auch immer, weiterhin erlauben können, den alten Stiefel durchzuziehen. Unter ihnen sind Ignoranten ebenso wie solche, die ganz genau wissen, was sie tun. Allen gemeinsam ist, dass noch nicht einmal die Ausläufer des Feminismus sie tangieren können. Sie sind übrigens nicht immer alt an Jahren, zunehmend sogar wieder ganz jung. Sie existieren in allen Milieus und Klassen, ein erotisches Abenteuer mit ihnen ist meist keines.

Ihnen auf den Fuß folgen die Neuen Alten! Sie sind vor allem in sogenannt progressiven Kreisen angesiedelt. Sie sind die Begründer der Ich-bin-ein-Macker-und-stolz-darauf-Ideologie und lassen gern „die Sau raus". Es gibt sie in dumpf und in geistreich. Im Bett sind sie eher armselig. Vermute ich.

Und dann sind da die Ehrlich Bemühten. Nette Menschen. Nur etwas anstrengend. Hinter (fast) jedem ehrlich bemühten Mann steht nämlich immer eine noch bemühtere Frau. . . Dennoch: sie scheinen ein Lichtblick (und Resultat feministischer Arbeit) zu sein. Wie weit sie letztendlich wirklich gehen werden, ist nicht zuletzt eine Frage weiblichen Durchsetzungsvermögens.

Zuguterletzt die Ganz Schlauen. Das sind Kreaturen wie aus der Geschichte vom Hasen und vom Igel: Wenn wir ankommen, sind die immer schon da. Die wissen schon lange, dass Frauen eigentlich die besseren Menschen sind. Mehr: die stärkeren. Noch mehr: die potenteren. Wortreich verstehen sie, darzulegen, wie schwach sie, die armen Männer, sind. Darum muss zur Rettung der Welt im Allgemeinen und zu der der Männer im Besonderen die Frau her. Man findet die Ganz Schlauen im Bett wie auf der Friedensdemo. Ihr Traum: im Schoß der omnipotenten Mutter in die Ekstase geschaukelt werden. Ihr Trick: die Verweigerung, wenn es denn sein muss. Denn, sie leiden unter dem „Fluch der Entladung" und beneiden uns Frauen um die „unendliche Tiefe der weiblichen Lust" (so Finkielkraut und Brucker, zwei typische Schlawiner dieses Genres, in „Die neue Liebesordnung").

Die Ganz Schlauen sind ganz besonders im Auge zu behalten: Denn wenn Männer Frauen als die besseren Menschen preisen, lässt das dicke Ende meist nicht lange auf sich warten. Und wenn es nur ist, dass wir ihnen alles verzeihen müssen, weil sie ja von Natur aus so unzulänglich sind, diese armen XY-Träger... (Womit wir beim neuen Biologismus wären, auf den ich gleich noch zu sprechen komme.)

Und die Frauen? Was ist los in der weiblichen Homosexualität? Sicherlich nicht automatisch nur Aufregendes. Eine Gefahr droht allemal, das ist die Verdoppelung der (anerzogenen!) „Weiblichkeit". Flapsig gesagt: Kuschel-Sex hoch 2.

Dagegen stehen zwei Chancen: Erstens dass Frau und Frau sich eben nicht - wie Frau und Mann - als objektive Repräsentanten von Macht und Ohnmacht gegenüberstehen, sondern, zunächst einmal, als Gleiche. Zweitens, dass die Vorgaben fehlen: Frauen müssen Liebe mit Frauen, körperlich wie seelisch, immer wieder neu erfinden - bedrückende und befreiende Unsicherheit zugleich. Bedrückend ist, dass sie sich ihre Existenz immer wieder neu ertrotzen und erkämpfen müssen; befreiend ist, dass auf ihnen nicht die Fesseln der sogenannten "Normalität" lasten.

Es ist kein Zufall, dass unter den Feministinnen der Prozentsatz der homo-und/oder bisexuellen Frauen höher ist (14 Prozent bei den EMMA-Leserinnen allgemein, 33 Prozent bei den aktiven Feministinnen unter den EMMA-Leserinnen!). Den Männern das Monopol aufkündigen und auch Frauen lieben können, ist irgendwann Folge eines konsequenten Feminismus.

Kate Millett ist eine von diesen Feministinnen. Nur wenige haben sich beim Thema Sexualität so weit vorgewagt, wie sie. Im „Basement" geht sie der zerstörerischen und selbstzerstörerischen Wirkung von verformter und nicht gelebter weiblicher Sexualität nach, in „Sita" wagt sie den freien Flug der Lust, wenn auch mit lädierten Flügeln. Und es ist kein Zufall, dass die, einst verheiratete, Autorin diese Gratwanderung auf der Suche nach Lust heute offensichtlich nur in der Homosexualität leben und beschreiben kann. Ihre Passion mit einer Frau führt sie zwar an Abründe, reißt sie jedoch nicht ganz in die Tiefe, da sich hier objektiv Gleiche gegenüberstehen. Mit einem Mann hätte sie dieses Maß an Hingabe und Besessenheit nicht wagen können.

Doch wie auch immer Frauen heute Sexualität leben - ob mit sich allein, mit Männern oder mit Frauen: dass Erotik von der Fesselung zur Entfesselung wird, ist nur denkbar, wenn wir auch in diesem Bereich die uns zugewiesene „Weiblichkeit" infrage stellen. Was wiederum nur möglich ist, wenn wir auch unsere Realität verändern. Denn wirkliche Hingabe ist nur in Freiheit möglich (in Unfreiheit ist sie nichts als Unterwerfungsritual), und wirkliche Eroberung ist nur aus einer Position der Stärke denkbar.

Frauen sollten sich da nicht den Blick vernebeln lassen durch den neuen Biologismus, der aus dem „schwachen" nur ein angeblich stärkeres Geschlecht macht. Sicher, Tatsache und auch wissenschaftlich längst unbestreitbar ist, dass der weibliche und der männliche Körper sich in der Grundstruktur rein physiologisch sehr ähnlich sind. Mehr noch: Die amerikanische Psychoanalytikerin Mary Jane Sherfey resummierte in „Die Potenz der Frau" die wissenschaftliche Erkenntnis, dass jeder Embryo ursprünglich weiblich ist und die „Maskulinisierung" erst in der fünften Woche durch Zufuhr von Androgenen eingeleitet wird. Sherfey: „Embryologisch gesehen ist es durchaus richtig, im Penis eine wuchernde Klitoris, im Skrotom eine übertriebene Schamlippe, in der weiblichen Libido die ursprüngliche zu sehen. Die moderne Embryologie müsste für alle Säugetiere den Adam-und-Eva-Mythos umkehren." Tatsache ist auch, dass Frauen rein körperlich in kürzerer Zeit mehr Orgasmen haben können als Männer.

Nur - was heißt das? Nicht viel. Denn der Mensch ist wenig Natur und viel Kultur. Und nichts ist weniger natürlich als Sexualität. Von daher ist die Feststellung der physiologischen Überlegenheit zwar ein ganz netter Gag in einem Patriarchat, das seine Macht bisher als sozusagen angeboren begründet hat. Dieses aber nun umdrehen zu wollen, wäre eine Retourkutsche, mit der wir nicht allzu weit kommen. Denn sexuelle Ausbeutbarkeit ist keine biologische, sondern eine Machtfrage, und wie auch immer wir argumentieren - in einem Patriarchat ist eine körperlich höhere Potenzfähigkeit von Frauen dann eben Anlass für die „heimlichen Ängste" der Männer, und diese heimlichen Ängste wiederum sind Vorwand für ihre ganz und gar unheimlichen Machtdemonstrationen...

Nein, emanzipatorisch kann auch in der Erotik nur eines sein: die Befreiung von der Einengung der Geschlechterrollen und nicht ihre erneute Verfestigung! Das ist ein langer Weg. Sicher. Unsere Vorstellungen und Erlebnisfähigkeiten in der Lust sind eng verknüpft mit der Geschlechtsidentität. Dass diese Geschlechtsidentität nichts Angeborenes, sondern etwas Anerzogenes ist, ist für die fortschrittliche Wissenschaft eine Binsenwahrheit (was die neuen Biologisten allerdings nicht daran hindert, ganz einfach das Gegenteil zu behaupten).

Gerade die Sexualität ist Arena unmittelbarster Konfrontation der Geschlechter und privilegierter Dressurplatz für „Männlichkeit" und „Weiblichkeit". Die Befreiung der Frauen impliziert darum auch eine fundamentale Veränderung ihres Verständnisses von weiblicher Lust.

Was ist Lust überhaupt? Dazu gibt es heute auch in der männerbeherrschten Sexualwissenschaft etliche spannende Theorien - selbst wenn die die patriarchalische Prägung der herrschenden Sexualität fast nie ausreichend berücksichtigen und immer von den Erfahrungen von Männern ausgehen, auf Frauen also so nicht übertragbar sind.

Fortschrittliche Sexualwissenschaftler halten schon seit einiger Zeit die Freudsche Theorie vom „sexuellen Trieb" und die damit verbundene Vorstellung einer periodisch notwendigen „Entladung" („Dampfkesselmodell") für unhaltbar (danach gäbe es auch keine Triebtäter und sind die operativen "Entmannungen" von Sexualverbrechern absurd und sinnlos!).

Gunter Schmidt vom Hamburger Sexualforschungsinstitut griff die Trieb-Kritik jüngst zustimmend auf und ergänzte: "Im subjektiven Erleben der Frauen hat die Triebhaftigkeit des Sexuellen immer eine geringere Rolle gespielt, sie haben sie von jeher für eine Absonderlichkeit der Männer gehalten, sich mit dieser richtigen Auffassung aber nicht durchsetzen können." Er definiert sexuelles Verlangen als "Bereitschaft zur Lust".

Nur, was hieße das für uns Frauen: bereit sein zu welcher Lust? Die Auffassung vom männlichen „Trieb" (dessen patriarchalisches Pendant die „weibliche Hörigkeit" ist) ist ja doch soviel mehr als ein wissenschaftlicher Irrtum und es reicht nicht, dies jetzt nur wissenschaftlich zu korrigieren. Die Triebtheorie ist ein Politikum: Sie war und ist ideologischer Freifahrtschein für Männer, deren sexuelle Aggressionshandlungen gegen Frauen (und Kinder) in diesem Licht als quasi unvermeidliche Urgewalt gelten - Männer „können eben nicht anders"!

Diesen Aspekt der Macht vernachlässigen selbst - und gerade! - progressive Sexualforscher auch da, wo sie die Fragwürdigkeit sexueller „Normalität" aufzeigen. Für den Hamburger Sexualwissenschaftler Schorsch zum Beispiel sind „Perversionen" zwar weder „krankhaft" noch „irrelevant", sondern im Gegenteil ein Phänomen, das "die Grenzen erlaubter Sexualität bloßlegt" und eine "Utopie sexueller Freiheit, unbeschnittener Lust sichtbar" macht. Schorsch: "Das Ziel einer kritischen Beschäftigung mit Perversionen (...) ist die Bewusstmachung einer im weitesten Sinne politischen Dynamik und Sprengkraft in der Sexualität, die mehr und mehr verleugnet und vergessen wird."

Schorsch greift unter anderem die auch in Deutsch erschienenen Überlegungen des amerikanischen Analytikers Stoller auf, der bei seiner Beschäftigung mit „Perversionen" (vom Exhibitionismus bis zum Sado-Masochismus) zu der These gelangt ist, „Perversion" sei die „erotische Form von Hass". Mehr noch: über jeder erotischen Motivation läge ein „Hauch von Feindseligkeit". Interessante Überlegungen, weil sie die Frage wagen, wieweit Sexualität eigentlich in ihrem Kern "sozial", zwingend "lieb" ist.

Dass Lust (bei Männern) nicht gleich Liebe ist, wissen gerade wir Frauen aus eigener Erfahrung. Was aber ist dann das Wesen von Erotik? Es gehört nicht viel zu der Feststellung, dass Erotik für Männer mit Macht besetzt ist und für Frauen mit Ohnmacht. Im erotischen Masochismus wiederholen Frauen nicht nur ihre politische Unterwerfung, sie versuchen auch, aus dieser Ritualisierung im Bett - und zum Teil vielleicht sogar selbst mit inszenierten Unterwerfung - Lust zu ziehen. Unterwerfung, Auslieferung, Hingabe. Elementare Bestandteile von Erotik. Genauso wie Eroberung und Überwältigung. Ungut wird es erst wenn das gekoppelt ist mit der gesellschaftlichen Realität (dass die Schwächere auch hier wieder die Untere ist und der Stärkere der Obere); wenn wir auf einen einseitigen Part festgelegt sind, und wir Frauen aus der sexuellen Hingabe unsere Bestimmung zur allgemeinen Unterwerfung schließen.

Die Folgen für den/die „Perverse/n" sind, je nach Art der Perversion und nach dem übrigen Leben, eben doch sehr unterschiedlich. Es ist eine Sache, wenn zum Beispiel Bataille sich in sadistischen Phantasien an eigene Abgründe und Grenzen wagt, eine andere, wenn seine Lebensgefährtin Laure ganz und gar aufgeht in ihrem erotischen Masochismus. Bataille, im Leben Schriftsteller und Philosoph, zog aus seinen erotischen Obsessionen zusätzliche Bestätigung in einer Männergesellschaft. Laure, deren private Geständnisse nach ihrem Tode veröffentlicht wurden (die, bezeichnend für den Zeitgeist, zu einer Art Kultbuch avancierten), hat neben ihrem erotischen Masochismus nichts als ein inhaltsloses, früh gescheitertes und in Selbstzweifeln ersticktes Leben. Wenn Bataille seinen Sadismus auslebte, holte er sich daraus Selbstbestätigung und Impulse. Wenn Laure ihren Masochismus auslebte, war dies zwar lustvoll für sie, aber - um den Preis erneuter Erniedrigungen. Sadistische Männer sind Sieger, masochistische Frauen die Besiegten.

Was nicht heißt, dass ich für ein rigides Abblocken der S/M-Debatte plädiere. Wirklich spannend an dieser Diskussion finde ich die Frage nach erotischer Gewalt und Leidenschaft, die dahinter steht. Einengend scheint mir die erotische Begrenzung bei obsessiven Sadomasochistinnen auf ganz bestimmte Riten und bedenklich ein unreflektiertes Einschwenken auf den masochistischen Part für Frauen.

Der Weg auf der Suche nach Lust ist für Frauen heute allemal eine Gratwanderung. Denn fast alles, was wir jetzt lustvoll erleben, ist gleichzeitig befrachtet mit Last. Wenn wir uns aus dem Käfig der "Weiblichkeit" psychisch und faktisch befreien, werden wir auch unsere eigene Lust ein ganzes Stück neu definieren müssen.

Es werden sich dann neue Fragen stellen. Vielleicht auch die, wieweit die These von der "aggressiven Erotik" auch für Frauen zutrifft. Und: ob Liebe und Lust für uns weiterhin selbstverständlich zusammen gehören. Oder steht die Sicherheit einer Beziehung vielleicht dem Abenteuer Erotik im Wege? Tötet die süße Vertrautheit der "festen" Beziehung etwa Begierde und Lust?

Wie halten wir es mit der Treue? Wie mit der Poly/Monogamie? Wie mit der Rücksicht auf die/den andere/n? Die alte (Doppel)Moral haben wir über Bord geworfen. Und nun? Entbindet uns das aller Rücksichten und Verpflichtungen?

Gewiss nicht. Denn das Streben nach eigener Freiheit kann die Notwendigkeit des Respekts für die/den andere/n nicht unbeachtet lassen. Die auch in der Frauenbewegung seit einigen Jahren grassierenden Dschungel-Gesetze mit dem Recht der Stärkeren auf Hemmungslosigkeit, Demütigung und Zerstörung schlagen letztlich gegen uns selbst zurück.

Die alte Moral ist infrage gestellt. Brauchen wir eine neue? Ich meine, ja. Und zwar eine, die die Funktion herrschender „Normalität" und herrschenden „Anstandes" durchschaut und dem eine Ethik freier Selbstverantwortung entgegenstellt.

Große Worte. Ich weiß. Aber ohne solche Überlegungen bleibt Lust nur Last und Sexualität das überfrachtete Vehikel, das nicht Erotik, sondern Macht und Ohnmacht transportiert. Was auf die Dauer wirklich zu schade wäre. Denn, wie gesagt - ich trage gerne Boas.

Alice Schwarzer im EMMA Sonderband "Sexualität", 1983

Artikel teilen
 
Zur Startseite