Temple Grandin: Die Kuhflüsterin

Foto: Rosalie Winard
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Kurz vor Fort Collins tut sich plötzlich die Frage nach der Etikette auf. Wie begrüßt frau eine Interviewpartnerin mit Autismus? Die Hand ausstrecken und abwarten, ob sie angenommen wird? Oder ein kurzes Good Morning ohne Handgeste? Und wie steht es mit Blickkontakt?

Temple Grandin nimmt der Besucherin die Entscheidung ab. Auf dem Flur des Instituts für Nutztierwissenschaften der Colorado State University, wo sie seit mehr als 25 Jahren forscht, kommt sie ihr mit energischen Schritten entgegen, verliert ein paar Sätze über die Bauarbeiten auf dem Campus und steuert die Küche an: „Möchten Sie Kaffee?“ Während Grandin zwei Plastikbecher füllt, überlegt die Besucherin, wie viel Energie die Professorin in das Empfangsritual investiert haben muss.

„Defizite bei den sozialen Fähigkeiten sind der Kern von Autismus“, bestätigt sie. Ihre Autismus-Spektrum-Störung empfindet sie dennoch als Gabe. „Wie Tiere denke ich dafür in Bildern“, sagt die 70-Jährige, die seit Jahrzehnten zu den führenden Nutztier-Forscherinnen Amerikas gehört.

Mehr als die Hälfte aller Zuchtbetriebe und Schlachthöfe des Landes sind mit Grandins Erfindungen wie diagonalen Gattern und kurvigen Treibgängen ausgestattet. Ganz wie auch Temple Grandin werden Rinder und Schweine durch die Minimierung visueller Reize beruhigt. Neben Tierschutzorganisationen gehören auch das American Meat Institute und Burgerketten zu Grandins UnterstützerInnen. Trotz ihrer Liebe zu Kühen verzichtet Grandin nicht auf Steaks. „Tiere als Nahrung zu nutzen, ist ethisch vertretbar. Aber wir schulden diesen Tieren ein anständiges Leben“, fasst sie ihre Philosophie zusammen.

Wie schwer der Weg zur Kuhflüsterin war, zeigte vor acht Jahren Mick Jacksons Filmbiografie „Temple Grandin – Du gehst nicht allein“. Schon als Kleinkind passte die Tochter einer Schauspielerin und eines Erben der Weizen-Dynastie Grandin in kein Schema. Wenn andere Kinder spielten, zog sie sich zurück. Als der vierte Geburtstag nahte und Temple immer noch nicht sprach, brachte ihre Mutter Eustacia Purves sie zu einem Neurologen. Nach der Diagnose Hirnschädigung riet der Mediziner zur Einweisung in ein Pflegeheim. Purves setzte stattdessen auf Förderung. Sie las dem Mädchen mit den wilden Locken vor, ließ es zeichnen, nähen und Pferdeställe ausmisten.

Um Grandin das Miteinander mit anderen Menschen zu erleichtern, schickte ihre Mutter sie in den Sommerferien auf die Farm einer Schwägerin in Arizona. „Die Aufenthalte waren ein Glücksfall für mein Leben und meine Karriere“, erinnert sich Grandin.

Zu den dramatischsten Szenen in Jacksons Filmbiografie zählt die Entdeckung des „Squeeze chute“. Grandin, gespielt von der Golden-Globe-Preisträgerin Claire Danes, flehte ihre Tante während eines Panikanfalls auf der Farm an, sie wie eine Kuh in das enge Metallgatter zu sperren. Innerhalb weniger Momente entspannte sie sich. Während des Psychologiestudiums an der Franklin-Pierce-University baute Grandin sich eine eigene Beruhigungskiste.

Seit Jahren setzen amerikanische Therapieeinrichtungen die „Hug box“ nach Grandins Vorbild ein, um AutistInnen durch selbstdosierten Druck zu entspannen. Für Eltern autistischer Kinder, von denen nur etwa jedes fünfte ein Mädchen ist, gilt sie als Hoffnungsträgerin. Da die Wissenschaftlerin zu den wenigen AutistInnen zählt, die offen über die kaum erforschte Entwicklungsstörung sprechen, sind ihre Vorträge in der Regel Monate vorher ausgebucht. Nach Büchern wie „Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier“ und „Durch die gläserne Tür“ veröffentlichte sie jetzt das Kinderbuch „Calling All Minds“.

Grandins Ziel? Auch junge Leser zu ermuntern, die Welt ohne vorgefasste Muster zu betrachten. „Wir brauchen alle Arten von Menschen“, mahnt Grandin. Ihr Widerstand gegen Schubladendenken und Vorurteile hat nicht nur mit ihrem Autismus zu tun. Auch auf Farmen und Schlachthöfen galt die Frau mit dem Westernhemd und der Cowboykrawatte lange als Außenseiterin.

„Ich musste mich immer wieder in der Welt der Männer behaupten. Viele Leute haben mich schlecht behandelt“, erzählt Grandin. Vorarbeiter warfen sie von Futterstationen. Zuchthelfer platzierten abgeschnittene Bullenhoden auf der Kühlerhaube ihres Autos, um sie von weiteren Besuchen abzuschrecken. Sie ließ sich aber nicht abschrecken.

Bis heute reist Grandin zu Viehhöfen in allen Teilen der Vereinigten Staaten, um Betreiber bei der Gestaltung von Futtereinrichtungen und Treibwegen zu beraten. „Ich musste sehr hart arbeiten und doppelt so gut sein wie ein Mann“, erinnerte sie sich, als sie 2017 in die Ruhmeshalle amerikanischer Frauen, der National Women’s Hall of Fame, aufgenommen wurde.

Auch MeToo-Erlebnisse blieben nicht aus. Als junge Frau musste Grandin sich gegen einen Rancher wehren, der bei Planungen für ein Viehgehege zudringlich wurde. Zuvor hatte sie schon einen der einflussreichsten Psychologen des 20. Jahrhunderts, Burrhus Frederic Skinner, in die Schranken gewiesen. Als die Studentin den Wissenschaftler an der Harvard University traf, fragte der unvermittelt, ob er ihre Beine berühren dürfe. „Sie dürfen sie ansehen, aber nicht anfassen“, maßregelte Grandin den Verhaltensforscher.

Der Psychologe hätte es eigentlich besser wissen müssen. Eine Frau, die sich inmitten einer Kuhherde am wohlsten fühlt, nimmt es auch mit jedem übergriffigen Stier auf.

Information:
Temple Grandin: Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier (Verlag Rad und Soziales, 17.90 €), DVD: „Du gehst nicht allein“.

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