Verena Bentele: Die Kühne

Verena Bentele jubelt in Vancouver über die Goldemdaille. © Imago/GEPA Pictures.
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Als Verena Bentele noch ein Mädchen war, lebte sie auf einem Bio-Bauernhof in einem kleinen Nest in der Nähe von Lindau am Bodensee. Sechs Häuser, viele Äpfelbäume, ein paar Hopfenstöcke. Ihre Eltern Monika und Peter, ihre beiden Brüder Johannes und Michael – und sie. Und es gibt eine Anekdote aus dieser Zeit, die ahnen lässt, wer hier heranwächst. Gut, auf das Hausdach zu klettern, das war wirklich die Idee ihres großen Bruders Johannes gewesen! Da ist Verena acht Jahre alt. Sie steigt als letzte durchs Fenster und klettert auf das Dach des höchsten Gebäudes vom Hof. Und da sitzen alle drei Geschwister und genießen die Situation auf jeweils ihre Weise: Verena und Michael sind von Geburt an blind.

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Ihre erste Goldmedaille holte sie mit
16 Jahren.

Seit Januar 2014 ist Verena Bentele die neue Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Als Arbeitsministerin Andrea Nahles ihre Ernennung bekannt gab, überschlug sich die Presse: Bentele ist die erste Behinderte, die das Amt bekleidet, sie ist mit 32 Jahren auch die Jüngste in dessen Geschichte. Seither pendelt sie zwischen ihrem Wohnort München und ihrem neuen Arbeitsplatz in Berlin. Sie ist auf Preisverleihungen von Schulen oder einer Gedenkfeier für Euthanasie-Opfer im Nationalsozialismus. Verena Bentele steht als Person ganz selbstverständlich für das, was Behindertenverbände seit Jahrzehnten fordern: normale Akzeptanz. Wobei in Verenas Fall von Normalität eigentlich nicht die Rede sein kann.

Die erste Goldmedaille im Biathlon – Blinde zielen via Tonsignal – gewann die damals 16-Jährige 1998 bei den Paralympischen Winterspielen in Nagano. Damit beginnt ihre Sportlerinnen-Karriere.

Dass Verena „auf Schnee alles runterfährt“, wie sie mal gesagt hat, das hat mit dem gesunden Pragmatismus ihrer Eltern zu tun, zu denen sie bis heute einen sehr engen Kontakt pflegt: „Ich gehöre zu den Mädchen, die oft mit ihrer Mama telefonieren.“ Beide Eltern sind passionierte Skifahrer. Beide hatten vor der Geburt von Verena und ihrem Bruder noch nie Kontakt mit Blinden. Beide entschieden: Die Kinder kommen mit auf die Piste. So lernte Verena mit drei Jahren Skifahren. Etwas später bekam sie ihr erstes Fahrrad. Und dann machte sie Judo. Bentele selbstbewusst: „Beim Sport kenne ich keine Angst.“

Ich bin ein Stehauf-Weiblein!

Nur im Januar 2009, da sah es bei den Meisterschaften in Nesselwang ganz kurz so aus, als ob die mutige Verena der Mut verlässt. Disziplin: Zehn Kilometer Langlauf. Bentele liegt gut in der Zeit. Doch dann: Ihr Begleitläufer, der in den Wettkämpfen vor ihr läuft und durch Kommandos die Richtung weist, verwechselt rechts und links. Bentele stürzt einen drei Meter tiefen Abhang hinunter, reißt sich das Kreuzband am Knie und zwei Kapseln in den Fingern, verletzt sich an der Leber und an einer Niere. Die Niere wird sie am Ende verlieren. Ihren Ehrgeiz nicht.

Februar 2010, ein Jahr später. Disziplin: 12,5-Kilometer Biathlon. Bentele steht im Ziel und weint vor Freude. Sie hat gewonnen. Eine von insgesamt fünf Goldmedaillen, die sie von den Paralympics im kanadischen Vancouver (Foto) mit nach Hause nehmen wird. Wenig später überreicht ihr Johannes B. Kerner den Bambi in der Kategorie „Sport“. „Ich bin ein Stehauf-Weiblein“, sagt Bentele.

Als sie 2011 ihre Sportkarriere beendet, ist die Athletin mit zwölf Goldmedaillen im Biathlon und Langlauf die erfolgreichste und bekannteste deutsche Behindertensportlerin. Bentele wird mit dem Laureus Award, dem so genannten „Sport-Oscar“ ausgezeichnet: Weltbehindertensportlerin des Jahres! Aber da hat sie schon ein neues Ziel: Sie schließt ihr Magister-Studium in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft an der Universität in München ab. Note: „sehr gut“.

Verena Bentele genießt es, vor Publikum zu stehen.

Seither arbeitet Bentele auch als Unternehmensberaterin. Ihr Hauptthema: (Selbst)Vertrauen. Dann steht sie vor ihren ZuhörerInnen und lächelt verschmitzt, wenn sie erklärt, was sie eigentlich mit den Augen wahrnimmt. Helligkeit und Dunkelheit. Und wenn sie davor steht, auch einen Pfosten. „Wobei ich nie unterscheiden kann, ist es ein Mann oder ein Pfosten“, sagt Bentele.

Und fährt fort mit dem Thema „blindes Vertrauen“. Verena Bentele ist witzig, sie ist redegewandt und sie genießt es, vor Publikum zu stehen. Das passt nicht so recht in das Bild, das viele von behinderten Menschen haben. Und das macht sie zu einer sehr guten Wahl für ihr neues, repräsentatives Ehrenamt.

Doch es wird auch um Inhalte gehen: Die Behindertenbeauftragte wird der Bundesregierung Einschätzungen zu Themen geben müssen, die auf dem Bio-Bauernhof im schwäbischen Familienidyll keine Rolle gespielt haben: Jede zweite behinderte Frau wird in ihrem Leben Opfer von sexuellen Übergriffen. Bis zu 75 Prozent berichten von physischer, 90 Prozent von psychischer Gewalt. Die Situation in Pflegeeinrichtungen ist katastrophal, so wie auch die Gesetzeslage: Nach wie vor ist das Strafmaß für die Vergewaltigung einer behinderten Frau geringer als bei einer Frau ohne BehinderungBesserer Schutz vor sexuellen Übergriffen.

„Wir müssen dafür sorgen, dass die Mädchen und Frauen durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen geschützt sind. Und dass sie wissen: Sie erhalten Unterstützung und sind nicht allein“, sagt Bentele. Die ersten 100 Tage in ihrem Amt will sie dazu nutzen, sich „einen Überblick zu verschaffen und Kontakte zu Betroffenen und Verbänden zu knüpfen“. Der Stapel mit den Forderungen von Interessensverbänden wie dem „Weibernetz“ ist hoch. Kurz vor Amtsantritt hatte Verena Bentele noch den Kilimandscharo bestiegen. Hoch hinaus wollte sie ja schon immer.

 

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Paralympics: "Die Stärke rausholen!"

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Am Rande des Wettkampfbeckens sitzt Kirsten Bruhn entspannt in ihrem Rollstuhl und beobachtet das Geschehen bei den Deutschen Kurzbahnmeisterschaften der Handicap-Schwimmer. Sie freut sich auf den Wettkampf. Heute wird die 65-fache Deutsche Meisterin weitere Medaillen und Rekorde zu der langen Liste ihrer Erfolge hinzu­fügen – darunter zwei Welt- und fünf ­Europameistertitel, 54 Welt- und 64 Europarekorde. Doch was die erfolgreichste Paralympionikin von Peking 2008 (einmal Gold, einmal Silber und dreimal Bronze) wirklich motiviert, sind weder Rekorde noch Platzierungen, sondern die Steigerung ihrer persönlichen Bestzeit. Was in der Bahn neben ihr passiert, blendet die Leistungsschwimmerin aus, konzentriert sich ganz auf sich selbst, auf ihre innere Balance.

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Aus diesem Gleichgewicht wurde sie vor 21 Jahren im Sommerurlaub auf der griechischen Insel Kos gewaltsam herausgerissen. Ein unglücklicher Sturz als Sozia bei einem Motorradunfall zertrümmerte ihren ersten Lendenwirbel. Die niederschmetternde Dia­gnose: inkomplette Querschnittslähmung. Ihre Beine sind seither bis auf die vordere Oberschenkelmuskulatur gelähmt. „Ich fühlte mich damals weder als vollwertige Frau, noch als vollwertiger Mensch“, erinnert sie sich an die dunkle Zeit, aus der sie nur sehr schwer zurück ins Licht fand. Über zehn Jahre brauchte sie, um sich am Leben und auch am Leistungssport wieder freuen zu können.

In ihrer größten Not holte sie sich ­Unterstützung bei einem Mentaltrainer und trainierte – bevor sie sich an ihren Körper wagte – zunächst Seele und Geist. „Er holte mich 1995 zurück ins Leben. Er hat mir gezeigt, dass ich etwas wert bin.“ Mittlerweile gibt sie ihre Erfahrungen selber als Rednerin weiter, denn eins hat sie aus ihrem Handicap gelernt: „Die Stärken aus dem Potenzial zu holen, das man noch hat und eigene Wertschätzung zu entwickeln.“

Ein Schlüssel zu ihrem Erfolg liegt ­sicher auch im Rückhalt in ihrer Familie. „Ich bin in den Wassersport hineinge­boren“, erzählt die Tochter zweier Ex-­Leistungsschwimmer, die von Kindheit an vom Vater trainiert wurde. Nach Schule und Mittagessen ging es für sie immer mit den Eltern und den vier Geschwistern in die Schwimmhalle. Kirsten schwamm bereits mit zehn Jahren erfolgreich Wett­bewerbe. Natürlich hat sie auch mal was anderes ausprobiert, wie Squash oder Wasserball, aber sie kam immer wieder auf die Bahn zurück, dorthin, wo die Uhr läuft und die eigene Leistung klar messbar ist.

Die Leistung von Kirsten Bruhn ist messbar konstant: Mit 42 ist sie doppelt so alt wie die meisten Frauen in ihrem Kader, nur die spastisch gelähmte Schwimmerin Annke Conradi ist noch älter. „Wenn ich ein Role Model für Frauen bin, ist das schön“, sagt Kirsten Bruhn.

Zwischen den Geschlechtern gehe es bei den Paralympics fair und gerecht zu, sagt Bruhns sarkastisch: „Behinderte Frauen und Männer werden gleich schlecht gefördert.“ Die Schwimmerin arbeitet haupt­beruflich bis zu 30 Stunden die Woche als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für das Unfallkrankenhaus Berlin, um sich und ihren Sport zu finanzieren, durch Turniere und Training hat sie viele berufliche Ausfälle. Daher weiß sie genau, was sie nach dem Leistungssport machen will: ihre Berufskarriere vorantreiben.

2013 möchte sie noch die Weltmeisterschaft mitnehmen. „2014 will ich mich von der Nationalmannschaft verabschieden. Doch ich werde weiter plantschen.“
 

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